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Abkoppelung oder nachholende Industrialisierung?

Artikel-Nr.: DE20121005-Art.51-2012

Abkoppelung oder nachholende Industrialisierung?

Zur Krisenresistenz in der Peripherie

Vorab im Web - Während sich in den Industrieländern auch nach fünf Jahren kein Ausweg aus der Krise abzeichnet, blicken die Prognostiker mit Hoffen und Bangen nach Asien, Lateinamerika und selbst nach Afrika. Deren Ökonomien wachsen noch immer rasch und sind willkommene Absatzmärkte für die Exporte der Industrieländer. Angesichts der hohen, aber doch nachlassenden Wachstumsdynamik in der ehemaligen Peripherie ist aber ungewiss, ob das so bleibt. Von Jörg Goldberg.

Die jüngste Ausgabe das World Economic Outlook (WEO) des Internationalen Währungsfonds (WEO) (s. Hinweis) geht in einem Spezialkapitel der Frage nach, inwiefern und warum die Gruppe der Schwellen- und Entwicklungsländer krisenresistenter geworden ist. Während die Fragestellung – „Widerstandskraft der Schwellen- und Entwicklungsländer: Wird sie andauern?“ – in der Tat höchst aktuell ist, legt die Analyse selbst alle Schwächen einer theorielosen, ökonometrisch ausgerichteten Wirtschaftswissenschaft offen. Trotz mathematisch komplexer Methoden sind die Ergebnisse erstaunlich dürftig. Die unterschiedlichen Strukturen und Entwicklungsstadien der untersuchten Ländergruppen werden nicht thematisiert, manchmal scheint es, als ob die Autoren sich darüber überhaupt keine Gedanken gemacht haben.

* Konjunkturzyklus, gibt`s den?

Dies zeigt schon die Kernaussage, der zufolge die Krisenresistenz der Schwellen- und Entwicklungsländer in den letzten 20 Jahren erheblich zugenommen habe – was dem WEO zufolge heißt, dass diese Länder im Durchschnitt längere Aufschwungsperioden und kürzere Abschwünge erleben als die Industrieländer. Aber woher kommen diese Auf- und Abschwünge, wodurch werden sie verursacht? Darüber schweigt sich der Bericht aus, einen Konjunkturzyklus scheinen die Autoren weder in den Industrieländern noch in den Schwellenländern zu kennen – anders als z.B. die lateinamerikanische CEPAL oder die Deutsche Bundesbank, die immerhin zwischen Trend und Konjunktur unterscheiden (???042ae6a0dc0ec0e0f???).

Dabei zeigen die Daten des WEO, dass zwar der Wachstumstrend der Schwellen- und Entwicklungsländer in den letzten 20 Jahren deutlich oberhalb jenes der fortgeschrittenen Ökonomien liegt, dass der Konjunkturzusammenhang aber enger geworden ist. Dies belegen im Übrigen auch die jüngsten Daten der Asiatischen Entwicklungsbank: Demnach verzeichnet Asien (ohne Japan) zwar auch 2012 eine immer noch hohe Wachstumsrate von 6%, was aber gut 1% weniger ist als im Vorjahr: Damit vollzieht die stärkste Wachstumsregion der Welt die in Europa und den USA zu beobachtende Abschwächung nach. Gleichlaufende Konjunkturen bei auseinanderlaufendem Wachstumstrend: Die Behauptung des WEO, die Krisenresistenz des Südens habe deutlich zugenommen, ist nur eine Teilwahrheit.

* Schwellen- und Entwicklungsländer: Ein einheitlicher Block?

Die zweite methodische Fragwürdigkeit ist die Zusammensetzung der Ländergruppen, wobei einziges Kriterium die Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen ist. Der WEO unterteilt die Welt in drei Gruppen: Die „Advanced Economies“ (AEs) einerseits (wesentlich identisch mit der Gruppe der OECD-Länder) und die „Emerging Market Economies“ (EMs) bzw. die „Low Income Countries“ (LICs) andererseits, wobei letztere zur Gruppe der „Emerging Market and Development Economies“ (EMDEs) zusammengefasst werden.

Natürlich kann man für solche Gruppen Durchschnittsraten für das Wachstum bilden und vergleichen – nur was besagt das? Dass China mit seinem hohen Industrieanteil und Botswana, praktisch ohne Verarbeitung und vom Diamantenexport abhängig (beide der Gruppe der EMs zugerechnet), höhere Wachstumsraten als die fortgeschrittenen Länder aufweisen: Kann dies gemeinsame Ursachen haben? Ermöglicht es Aussagen, welche für beide Länder zutreffend sind? Natürlich nicht, und der WEO muss auch einräumen, dass z.B. „emerging Europe“, d.h. die europäischen Transformationsländer, die zu den EMs gezählt werden, eine Ausnahme von der festgestellten größeren Krisenresistenz bilden. Eine Erklärung dafür findet sich dort nicht.

Und was soll man von einer Feststellung wie der in den Medien vielzitierten Behauptung halten, dass drei Fünftel der Krisenresistenz der EMDEs auf bessere Politik und zwei Fünftel auf seltenere Schocks zurückzuführen sei? „Gute Politik“ kann je nach den konkreten Bedingungen eines Landes sehr unterschiedlich aussehen, wie z.B. das Feld der Antiinflationspolitik aktuell zeigt: Diese gilt gemeinhin als „gute Politik“, kann aber durchaus auch schädlich wirken, wie Analysen des IWF zu den Ursachen der Krise 2008/2009 gezeigt haben. Auch eine antizyklische Fiskalpolitik gilt dem WEO hier als „gute Politik“ – was den IWF nicht daran hindert, Staaten, die IWF-Unterstützung benötigen, das genaue Gegenteil aufzuzwingen.

Auch wenn einige Feststellungen des Berichts bezüglich der größeren wirtschaftspolitischen Spielräume sicherlich bemerkenswert sind – so ist die Auslandsverschuldung der EMDEs von 60% des Inlandsprodukts 1990 auf 35 % 2011 gesunken, die Devisenreserven sind von 8% auf 18% gestiegen, und die Einkommensverteilung ist im Durchschnitt der Länder etwas gleichmäßiger geworden – so besagt das nichts über die Qualität der betriebenen Politik. Wollte man diese Aussagen auf die fortgeschrittenen Industrieländer anwenden, so würden die Empfehlungen lauten: Auslandsschulden streichen, die Einkommensungleichheiten bekämpfen und antizyklische Fiskalpolitik betreiben. Bekanntlich passiert in den europäischen Krisenländern das Gegenteil: Schlechte Politik!

* Die Wirkung externer Schocks

Im Kern geht der WEO in immer noch von einem asymmetrischen Wirkungszusammenhang aus: Wie wirken die Krisen des Nordens auf den Süden, was sind die Folgen der im Norden erzeugten Schocks für den Süden? Das spiegelt zwar noch einen Teil der Wirklichkeit wider, aber eben nicht mehr die ganze Wirklichkeit. Denn die besondere Dynamik vieler Schwellen- und Entwicklungsländer (bei weitem nicht aller) hängt mit der nachholenden Industrialisierung vor allem in Asien zusammen – hier dominieren interne Triebkräfte des Wachstums, deren Wirkung und Widersprüche gar nicht erst thematisiert werden. China, Indien und andere Länder sind eben nicht mehr bloße wirtschaftliche Anhängsel des Nordens, sondern entwickeln ganz eigene Wachstumsmuster. Das kann ein methodischer Ansatz, der solche strukturellen Elemente wie Verarbeitungstiefe, den Anteil der Industrie, die Höhe der Investitionsquoten usw. ausblendet, natürlich nicht erfassen.

So können starke Veränderungen der Rohstoffpreise sicherlich wirtschaftliche Schocks verursachen: Fasst man aber Rohstoffexporteure wie z.B. Brasilien oder Angola mit Rohstoffimporteuren wie China oder Indien in einer Gruppe zusammen, so kann man die Wirkung dieses Schocks nicht sinnvoll analysieren. Dass der größte Teil Asiens mit seinem Rohstoffhunger hohe Wachstumsraten verzeichnet, ebenso wie viele rohstoffexportierende Länder Afrikas, hängt natürlich zusammen, macht diese Länder aber nicht vergleichbar. Denn die Ursachen der hohen Wachstumsraten sind jeweils unterschiedlich, ebenso die Nachhaltigkeit.

Ähnlich verhält es sich mit der Anfälligkeit gegenüber Krisen der Finanzmärkte: So stellt der Bericht fest, dass es im letzten Jahrzehnt nur in vier EMDEs systemische Bankenkrisen gegeben habe (Litauen, Mongolei, Nigeria, Ukraine). Für diese relative Resistenz gegenüber Finanzmarktkrisen sind aber ganz unterschiedliche Faktoren verantwortlich. In weiten Teilen Afrikas sind die Finanzsektoren u.a. deshalb scheinbar stabil, weil sie unterentwickelt sind und ihre Funktion, die Vermittlung von Krediten an die produzierende Wirtschaft, nicht ausfüllen. In anderen Ländern wie z.B. China oder auch in vielen lateinamerikanischen Staaten gibt es ein hohes Regulierungsniveau, welches die betreffenden Staaten vor den Auswirkungen der Finanzmarktkrise einigermaßen geschützt hat. Die Aussage, dass die relative Seltenheit von Bankenkrisen in der Peripherie ein das Wachstum stabilisierender Faktor sei, besagt in dieser Allgemeinheit wenig; dahinter verbergen sich ganz unterschiedliche strukturelle Faktoren. Wie die Autoren selbst feststellen: Expandierende Kreditvolumina können sowohl positiv als auch negativ für das Wirtschaftswachstum sein.

* Bleiben die Schwellen- und Entwicklungsländer krisenresistent?

Dies ist die aktuell spannende Frage – sind die Schwellen- und Entwicklungsländer dauerhaft krisenresistenter als die fortgeschrittenen Länder? Darauf kann der Bericht letzten Endes nicht antworten; dies erlaubt seine Methodik nicht. Er ist allerdings insofern skeptisch als er meint, dass es bei einer weiteren Verschärfung der Krise im Norden z.B. zu einem Verfall der Rohstoffpreise bzw. zu einem plötzlichen Kapitalabzug kommen könnte. Dies könnte zur Krisenübertragung in den Süden führen. Um dem gegenzusteuern, sollten die EMDEs größere Devisenreserven anlegen, flexible Wechselkurspolitik betreiben und antizyklische Fiskalpolitik praktizieren – Empfehlungen, die die unter dem Diktat von EU und IWF stöhnenden Wirtschaftspolitiker Europas mit Neid registrieren werden. Immerhin sind die Chancen der meisten Schwellen- und Entwicklungsländer heute besser als früher.

Dafür spricht einmal die hohe interne Dynamik eines Teils der – vor allem asiatischen – Schwellenländer, widergespiegelt in einer hohen Investitionstätigkeit. Dies gilt allerdings bei weitem nicht für die Gesamtheit der EMDEs: Während die Investitionsquoten, also der Anteil der Realinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt, in den fortgeschrittenen Ländern im Trend rückläufig sind und 2012 knapp über 19% des BIP betragen, steigen sie in Asien deutlich an und liegen jetzt bei 42%. In Osteuropa verändern sie sich kaum, liegen aber mit 22% doch über dem Niveau der EU. In Lateinamerika steigen sie tendenziell leicht an (23%), ähnlich wie in Sub-Sahara-Afrika, wo sie allerdings mit 21% sehr niedrig sind.

Zum anderen nimmt die interne Handelsverflechtung in den Entwicklungsregionen zu, wie Dieter Boris für Lateinamerika zeigt (???042ae6a0dc0ec0e0f???). Dies gilt in noch stärkerem Maße für Asien, aber überhaupt nicht für Afrika. Insofern spitzt sich die Problematik der relativen Krisenresistenz des Südens aktuell auf die Frage zu, ob die interne Dynamik der nachholenden Entwicklung im handelspolitisch relativ eng verflochtenen asiatischen Raum stark genug ist, um die rezessiven Einflüsse der entwickelten Industrieländer zu begrenzen. Für eine solche, notwendigerweise empirisch ausgerichtete Analyse, eignen sich die ökonometrischen Methoden, die der WEO vom Oktober 2012 anwendet, ganz offensichtlich nicht.

Hinweis:
* IMF: World Economic Outlook October 2012, Washington DC 2012. Bezug: über www.imf.org.
Veröffentlicht: 5.10.2012

Empfohlene Zitierweise:
Jörg Goldberg, Abkoppelung oder nachholende Industrialisierung? Zur Krisenresistenz in der Peripherie, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 5. Oktober 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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