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Renationalisierung der Ölindustrie in Argentinien

Artikel-Nr.: DE20120419-Art.19-2012

Renationalisierung der Ölindustrie in Argentinien

Über die Korrektur neoliberaler Fehler

Nur im Web – Die Entscheidung der argentinischen Regierung, die frühe staatseigene Öl- und Gasgesellschaft YPF zu renationalisieren, ist mit einem Aufschrei der Empörung, Drohungen, Prognosen des Zorns und Ruins und rüden Beschimpfungen von der internationalen Presse aufgenommen worden. Das haben wir alles schon einmal gehört, kommentiert Mark Weisbrot.

Als die argentinische Regierung Ende 2001 ihre Schulden nicht mehr bedienen konnte und dann – einige Wochen – später ihre Währung abwertete, machte sich Untergangsstimmung in den Medien breit. Die Abwertung würde eine unkontrollierbare Inflation hervorrufen, dem Land stünden wegen mangelnder Kreditwürdigkeit Zahlungsbilanz-Krisen bevor, die Wirtschaft befände sich in einer Abwärtsspirale in eine immer tiefere Rezession.

* Die argentinische Erfolgsgeschichte wird selten erzählt

Neun Jahre später ist das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) Argentiniens um etwa 90% gewachsen, das schnellste Wachstum in der Hemisphäre. Die Beschäftigung befindet sich auf Rekordniveau, und sowohl Armut als auch extreme Armut konnten um Zweidrittel reduziert werden. Sozialausgaben, die an die Inflation angepasst wurden, haben sich nahezu verdreifacht. All dies ist wohl der Grund dafür, dass Cristina Kirchner im letzten Oktober einen erdrutschartigen Wahlsieg einfahren konnte.

Natürlich wird diese Erfolgsstory selten erzählt, vor allem weil sie die Rücknahme vieler fehlgeschlagener neoliberaler Maßnahmen beinhaltet, welche von Washington und dem Internationalen Währungsfond unterstützt wurden, und die dem Land von 1998 bis 2002 seine schlimmste Rezession bescherten. Nun macht die Regierung eine weitere gescheiterte neoliberale Maßnahme der 1990er Jahre rückgängig, die Privatisierung ihrer Öl- und Gasindustrie, die schon damals nicht hätte stattfinden dürfen.

Es gibt gute Gründe für dieses Vorgehen, und die Regierung wird höchstwahrscheinlich wieder einmal Recht behalten. Repsol, der spanische Ölkonzern, der derzeit 57% Anteile an Argentiniens YPF besitzt, hat nicht genug produziert, um mit Argentiniens schnell wachsender Wirtschaft Schritt zu halten. Von 2004 bis 2011 ist die argentinische Ölproduktion sogar um 20% gesunken, die Gasproduktion um 13% – YPF hat dazu viel beigetragen. Zudem haben sich die sicheren Öl- und Gasreserven des Konzerns in den letzten Jahren wesentlich verringert.

* Verstaatlichung von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung

Die nachlassende Produktion ist nicht nur ein Problem der Bedarfsdeckung von Konsumenten und Handel, sondern gefährdet darüber hinaus ernsthaft die Gesamtwirtschaft.

Das Defizit der Öl- und Gasproduktion hat zu einem rasanten Anstieg der Importe geführt. Diese haben sich 2011 im Vergleich zu vorhergehenden Jahr auf 9,4 Mrd. Dollar verdoppelt und somit einen großen Teil der argentinischen Handelsüberschüsse zunichte gemacht. Eine positive Handelsbilanz ist seit dem Default von 2001 aber von außerordentlicher Bedeutung für Argentinien. Weil die Regierung weitgehend von der Kreditaufnahme auf den internationalen Finanzmärkten ausgeschlossen ist, muss sie darauf achten, immer über genug Fremdwährung zu verfügen, um Zahlungsbilanz-Krisen zu vermeiden. Das ist ein weiterer Grund, warum sie es sich nicht länger leisten kann, ihre Energieproduktion und das -management dem privaten Sektor zu überlassen.

Warum also diese Entrüstung über Argentiniens Entscheidung, durch einen Zwangsverkauf den Mehrheitsanteil an einem Ölkonzern zu übernehmen, der für die meiste Zeit der Unternehmensgeschichte ein staatlicher war? Mexiko verstaatlichte sein Öl 1938 und – wie eine Vielzahl von OPEC-Ländern – verbietet das Land ausländische Investitionen in Öl. Die weltweit meisten der Öl- und Gasproduzenten – von Saudi-Arabien bis Norwegen – haben staatliche Konzerne. Die Privatisierungen von Öl und Gas in den 1990er Jahren waren Fehltritte eines außer Kontrolle geratenen Neoliberalismus. Sogar in Brasilien, wo in den 1990er Jahren staatliche Unternehmen im Wert von 100 Mrd. Dollar privatisiert wurden, hat die Regierung die mehrheitliche Kontrolle über Petrobras behalten.

* Anschluss an den Kontinent

Lateinamerika hat in den letzten anderthalb Dekaden seine „zweite Unabhängigkeit“ erlangt. Einem wesentlichen Anteil am wirtschaftlichen Comeback der Region spielte die souveräne Kontrolle über die Energieressourcen ausgemacht. Bolivien hat 2006 seine Kohlenwasserstoff-Industrie wieder verstaatlicht und steigerte seinen Kohlenwasserstoff-Ertrag von weniger als 10% auf mehr als 20% des BIP (die Differenz macht etwa Zweidrittel der aktuellen Staatseinnahmen der Vereinigten Staaten aus). Ekuador hat unter Rafael Correa seine Kontrolle über das Öl und seine Anteile an der Produktion privater Konzerne deutlich aufgestockt.

Folglich findet Argentinien gerade wieder Anschluss an seine Nachbarn und die Welt und berichtigt Fehler vergangener Tage. Die Gegner hingegen haben eine schwache Stellung, um Steine zu werfen. Die Ratingagenturen drohen, Argentinien herabzustufen. Sollte sie irgendjemand erst nehmen, nachdem sie während der Immobilienblase für wertlose hypothekengesicherte Schrottpapiere AAA-Ratings vergaben und dann voraussagten, dass die US-Regierung sogar vor der Zahlungsunfähigkeit stünde? Und die Drohungen der Europäischen Union und der rechtsgerichteten spanischen Regierung? Was haben sie in der letzten Zeit richtig gemacht, in einem Europa, das in der zweiten Rezession innerhalb von drei Jahren steckt, fast in der Mitte eines verlorenen Jahrzehnts, mit 24% Arbeitslosigkeit in Spanien?

Es ist interessant, dass Argentinien in den letzten neun Jahren einen solch bemerkenswerten wirtschaftlichen Erfolg gehabt hat, wo es doch wenig ausländische Direktinvestitionen erhielt und größtenteils von den internationalen Finanzmärkten abgeschnitten war. Einem Großteil der Wirtschaftspresse zufolge sind dies nämlich die zwei wichtigsten Schlüsselbereiche, die jede Regierung erfreuen sollte. Aber die argentinische Regierung hat andere Prioritäten gesetzt. Vielleicht ist das ein weiterer Grund, warum Argentinien so scharf unter Beschuss gerät.

Mark Weisbrot ist Kodirektor des Centre for Economic Policy Research (CEPR) in Washington D.C. und Präsident des Projekts „Just Foreign Policy“. Der Beitrag erschien zuerst im britischen Guardian. Übertragung aus dem Englischen: Sarah Hellmerichs.

Veröffentlicht: 19.4.2012

Empfohlene Zitierweise:
Mark Weisbrot, Renationalisierung der Ölindustrie in Argentinien. Über die Korrektur neoliberaler Fehler, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 19. April 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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