Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Ökonomische Alternativen für die Post-2015-Ära

Artikel-Nr.: DE20140910-Art.30-2014

Ökonomische Alternativen für die Post-2015-Ära

TDR 2014: Policy Space und Global Governance

Vorab im Web – Nach der Vermeidung einer Großen Depression und einer gewissen Stabilisierung der Finanzmärkte wächst in politischen Kreisen die Überzeugung, dass die Weltwirtschaft zur Normalität zurückgekehrt ist. Doch mit boomenden Aktienkursen, Exportsteigerung durch sinkende Löhne und fiskalpolitischen Experimenten ist es nicht getan, schreibt die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung in ihrem diesjährigen Trade & Development Report (s. Hinweis). Rainer Falk stellt ihn vor.

Schleppendes Wachstum, schlechte Beschäftigungsbedingungen, hohe Verschuldung und ein anhaltend hohes Niveau der Ungleichheit sind weder neu noch normal. Der Rede von der „neuen Normalität“ der Weltwirtschaft hält der jetzt erschienene TDR 2014 deshalb entgegen: Die Hauptprobleme der Nachkrisenökonomie liegen in der unzureichenden aggregierten Nachfrage und der fortgesetzten finanziellen Instabilität, und beides hängt mit dem eingeschlagenen Kurs in der Wirtschaftspolitik zusammen.

● Fundierte Alternative

Um eine glaubwürdige Alternative zum wirtschaftspolitischen Mainstream zu entwickeln, verwenden die UNCTAD-Ökonomen ein eigenes globales Modell, das die potentiellen Konsequenzen eines abgestimmten Pakets aus fiskalischen, monetären sowie industrie- und handelspolitischen Maßnahmen bewertet. Unterschieden wird zwischen einem Basis-, einem „Business-as-usual“- und einem alternativen Szenario. Das alternative Szenario beinhaltet eine wachstumsorientierte Haushaltpolitik, einschließlich öffentlicher Investitionen, eine Einkommenspolitik zur Unterstützung des Nachfragewachstums und Industriepolitiken zur Förderung von Investitionen; desweiteren entwicklungsorientierte Handelsabkommen ebenso wie die Regulierung des Finanzsektors und Kapitalverkehrskontrollen, um die Wahrscheinlichkeit finanzieller Schocks zu begrenzen.

Der Vergleich der Wachstumsergebnisse einzelner Länder und Regionen zeigt für das alternative Szenario bemerkenswerte Verbesserungen, die teilweise den starken Rückwirkungen und Synergien aus der Koordinierung der Wirtschaftspolitik geschuldet sind. Darüber hinaus betont der Bericht, dass globale Ungleichgewichte vor dem expansiven Hintergrund des alternativen Szenarios effektiver zu korrigieren seien. Die wachstumspolitische Leistungsfähigkeit des Basisszenarios ist demgegenüber wesentlich anfälliger für finanzielle Schocks, die sich bekanntlich aus steigenden gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichten und Überschuldungssituationen ergeben können.

Neue Normalität der Weltwirtschaft?

Sechs Jahre nach dem Ausbruch der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise hat die Weltwirtschaft noch zu keinem nachhaltigen Wachstumspfad gefunden, argumentiert UNCTAD in ihrem TDR 2014. Mit einem erwarteten Wachstum von 2,5 bis 3% in 2014 bleibt die globale Erholung schwach, während die Wirtschaftspolitik oft nicht nur inadäquat, sondern auch inkonsistent agiert. Im Zurück zum "Business as usual" wurde die Bearbeitung der Krisenursachen "vergessen". Doch der Bruch mit der sich hinziehenden Periode niedrigen Wirtschaftswachstum erfordert eine Stärkung der aggregierten Nachfrage durch Reallohnwachstum und eine gleichere Einkommensverteilung statt immer neue Finanzblasen.

In seinem Überblick über die Trends der Weltwirtschaft erwartet der Bericht eine bescheidene Verbesserung des Wachstums in 2014. Nach einer Expansion von rund 2,3% in 2012 und 2013 ist das Output-Wachstum in diesem Jahr auf 2,5-3% projektiert. Die moderate Beschleunigung ist vor allem auf die Industrieländer zurückzuführen, deren Wachstumsrate von 1,3% in 2013 auf 1,8% in 2014 anziehen dürfte. Dies wiederum resultiert aus der leichten Entspannung der wirtschaftlichen Lage in der EU, während in Japan und den USA in diesem Jahre keine weitere Verbesserung zu erwarten ist.

Für die Entwicklungsländer insgesamt sieht der Bericht eine ähnlich Performance wie in den Jahren zuvor voraus, also durchschnittlich 4,5-5%. In Asien und Subsahara-Afrika dürfte das Wachstum über 5,5% liegen, während es in Nordafrika und Lateinamerika mit rund 2% unterdurchschnittlich ausfallen dürfte.

Spiegelbildlich zur ökonomischen Aktivität bleibt auch der internationale Handel ohne Glanz. Mit einem Wachstum des Warenhandels von wenig mehr als 2% in 2012-2014 bleibt das Wachstum des internationalen Handels sogar hinter dem des globalen Outputs zurück. Die TDR-Autoren betonen, dass der Handel nicht wegen höherer Handelsbarrieren oder Angebotsschwierigkeiten an Tempo verloren hat, sondern als Resultat der schwachen globalen Nachfrage. Deshalb sind auch Anstrengungen zur Exportsteigerung durch Lohnkürzungen und "interne Abwertung" eher selbstzerstörerisch und kontraproduktiv, vor allem wenn mehrere oder alle Handelspartner dieselbe Strategie verfolgen. Die globale Expansion des Handels wird durch eine robuste Erholung des Outputs - angetrieben durch heimisches Wachstum - stattfinden und nicht andersherum.

Die wohlfeile Rede von einer neuen Normalität der Weltwirtschaft nach Jahren der Krise halten die TDR-Ökonomen angesichts solcher Daten für eine Schimäre. Die Risiken eines Rückfalls in die Krise oder einer längeren Phase der Stagnation oder sogar Deflation bestehen weiter fort.

● Ausweitung des politischen Spielraums (“policy space”) unabdingbar

Die Durchsetzung alternativer wirtschaftspolitischer Szenarien, so argumentieren die TDR-Autoren, erfordert – ebenso wie Umsetzung einer ambitionierten entwicklungspolitischen Agenda in der Zeit nach 2015 – eine beträchtliche Ausweitung der politischen Spielräume, und zwar in Industrie- wie Entwicklungsländern. Die der Politik zur Verfügung stehenden Instrumente und der Spielraum, sie einzusetzen, hängen immer von einer komplexen Mischung aus Regeln, Zwängen und Normen auf nationaler und internationaler Ebene ab. Gleichwohl ist in den letzten Jahren die Besorgnis gewachsen, dass diverse rechtliche Verpflichtungen aus multilateralen, regionalen und bilateralen Abkommen die politischen Spielräume vor allem der Entwicklungsländer ungebührlich eingeschränkt haben.

Die Autoren des Reports konzedieren, dass es in einer interdependenten Weltwirtschaft, die aus ungleichen souveränen Staaten besteht, in Bezug auf „policy space“ immer ein Geben und Nehmen geben wird. Doch haben die Governance-Arrangements gerade unter der finanzorientierten Globalisierung die Gewichte zu stark zugunsten der privaten Konzerne und zuungunsten der Handlungsmöglichkeiten der Regierungen verschoben. Die ursprüngliche Hoffnung, dass dies angesichts der globalen Finanzkrise wieder korrigiert werde, hat sich nicht erfüllt, und die Reformen blieben bestenfalls halbherzig.

Die Ergebnisse der Simulierungen unter dem UNCTAD-Modell unterstreichen die Notwendigkeit politischer Konsistenz und makroökonomischer Kohärenz. Beispielsweise werden die Exportmöglichkeiten des einen Landes beeinträchtigt, wenn andere durch Lohnkürzungen ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen; ein Handelsbilanzüberschuss der einen Ökonomie bedeutet Abzug von Kaufkraft aus einer anderen; Liquiditätsspritzen einer Zentralbank zur Stimulierung der Beschäftigung können andernorts zu Finanzblasen führen usw.. Es sei deshalb wesentlich, die Anstrengungen zur Schaffung effektiverer und inklusiverer globaler Institutionen zu verstärken, um Märkte zu regulieren, nichtnachhaltige Ungleichgewichte zu korrigieren und die globale Unterstützung für Länder, die tiefer auf der Stufenleiter der Entwicklung stehen, zu verstärken.

● Zentral für Post-2015-Agenda

Zum wiederholten Male illustriert dieser neue TDR auch, dass die Policy-space-Problematik ins Zentrum der globalen Entwicklungsagenda gehört. Ohne mehr politischen Spielraum wird es nicht möglich sein, das ehrgeizige Set an neuen Entwicklungszielen, über das z.Zt. in der UNO verhandelt wird, umzusetzen. Die Autoren unterstreichen vor allem die Rolle, die eine proaktive Handels- und Industriepolitik für die Post-2015-Entwicklungsagenda spielen können.

Zur Handelspolitik argumentiert der Bericht, dass in regelsetzenden Verhandlungen die multilateralen Abkommen so reformuliert müssen, dass die legitimen Belange der Entwicklungsländer anerkannt werden. Multilaterale Regeln und Bestimmungen setzen der nationalen Wirtschaftspolitik – etwa einer merkantilistischen Handelspolitik – oft Grenzen, wenn diese schädlich für andere Länder ist. Doch multilaterale Abkommen sollten Entwicklungsländer nicht dazu drängen, auf Politiken zu verzichten, die die wirtschaftliche Entwicklung unterstützen. Auch wenn die existierenden multilateralen Abkommen gewisse Flexibilitäten für alle WTO-Mitglieder gewährleisten und eine besondere und differenzierte Behandlung der am wenigsten entwickelten Länder möglich machen, gehen mit ihnen doch Restriktionen für Handels- und Industriepolitiken einher.

Auch argumentieren die UNCTAD-Autoren, dass die Entwicklungsländer sehr vorsichtig in Bezug auf den Verlust von „policy space“ sein sollten, wenn sie neue bilaterale oder regionale Handels- und Investitionsabkommen abschließen. Solche Abkommen enthalten oft striktere Verpflichtungen als multilaterale Abkommen oder betreffen neue Themen, die den Einsatz von Instrumenten behindern, die sich als effektiv für die Industrialisierung erwiesen haben.

Konventionelle Positionen behaupten, dass die Akzeptanz von solchen strikteren politischen oder regulatorischen Verpflichtungen notwendig sei, um ausländische Investitionen anzuziehen und Firmen aus Entwicklungsländern die Teilnahme an globalen Wertschöpfungsketten zu ermöglichen. Demgegenüber sagen die UNCTAD-Ökonomen, dass diese langfristig auch eine Falle darstellen können, um Rohstoffenklaven zu perpetuieren oder die Länder auf Produktionsnischen am unteren Ende der Wertschöpfungsskala beschränken. Kritisch sieht der Bericht auch die derzeitigen internationalen Investitionsregeln und die damit einhergehenden Ad-hoc-Schiedsgerichte, die wichtige gesetzgeberische Funktionen an sich gezogen haben, die ansonsten Staaten vorbehalten sind. Zusätzlich zum Mangel dieser Gerichte an Tranparenz und Kohärenz könne oft beobachtet warden, dass sie einer privatwirtschaftlichen Logik folgen und die breiteren Interessen eines Gastlandes oder seine Entwicklungsstrategie missachten.

● Vier Prioritäten

Vier Politikbereiche sieht UNCTAD als vorrangig für die Umsetzung neuer Entwicklungsziele:

* Erstens ist die Industriepolitik von entscheidender Bedeutung. Selbst Industrieländer, so das Argument, akzeptieren ihre Rolle bei der Vorantreibung des Produktivitätswachstums, der Förderung von Innovationen und der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die USA beispielsweise verfolgten einen industriepolitischen Ansatz, der den „unternehmerischen“ mit dem „koordinierenden Staat“ verknüpft, um politische Spielräume zu nutzen, die noch nicht durch internationale Regelungen verbaut sind.

* Zweitens ist in rohstoffabhängigen Ökonomien die Konversion von Rohstoffrenten in anhaltendes Wachstum nur durch strukturelle Transformation, Industrialisierung und ein höheres Niveau von Investitionen sowie Anreize zur Verknüpfung von Handel und Kapitalakkumulation möglich. Industriepolitik, die den privaten Sektor unterstützt, kann sehr nützlich für solche Diversifizierungsprozesse sein.

* Drittens können globale Wertschöpfungsketten nicht einfach durch Anpassung an die Interessen der führenden (ausländischen) Unternehmen genutzt werden. Die Belege, dass diese Ketten die Industrialisierung fördern, sind bestenfalls ambivalent, und diese Form der weltwirtschaftlichen Integration birgt hohe Risiken. Der Bericht erwähnt ein Beispiel selbst aus China, wo im elektronischen Sektor nur 3% der Profite auf chinesische Firmen entfallen.

* Viertens scheinen die entwicklungspolitischen Effekte exportorientierter Wachstumsstrategien seit der Großen Rezession abzunehmen – im Gefolge des abnehmenden Wachstums in den Industrieländern und der rückläufigen Elastizität ihrer Importnachfrage. Für Entwicklungs- und Schwellenländer ist daher eine neue Balance ihrer wirtschaftlichen Strategie angesagt – weniger Setzen auf den Export und mehr auf die heimische oder regionale Nachfrage.

● 50 Jahre UNCTAD/70 Jahre Bretton Woods

Da der Bericht mit dem 50. Jahrestag von UNCTAD und dem 70. Jahrestag der Bretton-Woods-Institutionen zusammenfällt, halten seine Autoren die Frage für angebracht, was diese Jubiläen heute für die Schaffen einer inklusiven und nachhaltigen internationalen Wirtschaftsordnung bedeuten (der Frage ist ein eigenes Kapitel gewidmet). Wer die Geschichte ernst nehmen wolle, müsse heute für die Gewährleistung eines adäquaten „policy space“ plädieren; das globale Handelssystem könne die gewünschten Ergebnisse nur bereitstellen, wenn es von einer effektiven Reform der globalen Finanzarchitektur begleitet werde.

Hinweis:
* UNCTAD: Trade and Development Report 2014: Global governance and policy space for development, 242 pp, United Nations: New York-Geneva 2014. Bezug: über www.unctad.org

Posted: 10.9.2014

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Falk, Ökonomische Alternativen für die Post-2015-Ära. TDR 2014: Policy Space und Global Governance, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 10. September 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.