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Ukraine und die Krise des internationalen Rechts

Artikel-Nr.: DE20140326-Art.10-2014

Ukraine und die Krise des internationalen Rechts

Nicht erst seit der Krim …

Vorab im Web - Der US-Wissenschaftler Jeffrey D. Sachs polarisiert. Ob als (neoliberaler) Berater nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion oder später als Verfechter der Millennium-Entwicklungsziele und geläuterter Kritiker von IWF und Weltbank – er provoziert Widerspruch. Die Ukrainekrise ist für ihn im Wesentlichen Ausdruck der Krise des internationalen Rechts und diese wiederum maßgeblich eine Konsequenz westlicher Rechtsverletzungen. Wir dokumentieren die Intervention von Jeffrey Sachs gegen den neuen Schwarz-Weiß-Mainstream leicht gekürzt.

So beängstigend die Ukraine-Krise ist, so wenig darf die generelle Missachtung des internationalen Rechts in den letzten Jahren übersehen werden. Ohne den Ernst der jüngsten Aktionen Russlands herunterzuspielen, sollten wir sehen, dass sie im Kontext wiederholter Verletzungen des internationalen Rechts durch die USA, die EU und die NATO stattfinden. Jede dieser Verletzungen untergräbt das brüchige Gebäude des internationalen Rechts und riskiert, die Welt in einen gesetzlosen Krieg aller gegen alle zu stürzen.

● Der Kontext westlicher Rechtsverletzungen

Auch die USA und ihre Verbündeten haben in den letzten Jahren eine Reihe militärischer Interventionen im Widerspruch zur Charta der Vereinten Nationen und ohne die Unterstützung des UN-Sicherheitsrats begangen. Das NATO-Bombardement Serbiens unter der Führung der USA 1999 war durch das internationale Recht nicht gedeckt und geschah trotz des starken Widerspruchs von Russland, einem Verbündeten Serbiens. Die nachfolgende Unabhängigkeitserklärung des Kosovo von Serbien, die die USA und die meisten EU-Mitglieder anerkannten, ist ein Präzedenzfall, den Russland jetzt eifrig in Bezug auf sein Handeln auf der Krim zitiert. Die Ironie ist offensichtlich.

Auf den Kosovo-Krieg folgten die US-geführten Kriege in Afghanistan und im Irak – beide ohne Unterstützung des Sicherheitsrats und im Falle des Irak trotz heftiger Widerstände darin. Die Ergebnisse waren für Afghanistan und den Irak außerordentlich katastrophal.

Die NATO-Aktionen 2011 in Libyen zum Sturz von Muammar el-Qaddafi stellten eine weitere Verletzung des internationalen Rechts dar. Nachdem der Sicherheitsrat eine Resolution zur Einrichtung einer Flugverbotszone verabschiedet und andere Aktionen zum vorsorglichen Schutz libyscher Zivilisten eingeleitet hatte, nutzte die NATO die Resolution als Vorwand zum Sturz des Qaddafi-Regimes mit Hilfe von Luftangriffen. Russland und China widersprachen energisch und wiesen damals wie heute darauf hin, dass die NATO ernsthaft ihr Mandat überschritten hatte. Libyens Situation bleibt instabil und gewaltsam und ohne effektive Regierung bis zum heutigen Tag.

Wie Russland selbst wiederholt hervorhob, waren die US-Aktivitäten in Syrien ähnlich illegal. Als 2011 die Proteste des Arabischen Frühlings begannen, forderten auch in Syrien friedliche Demonstranten Reformen. Das Regime von Präsident Bashar al-Assad ging gewaltsam gegen die Protestierenden vor, was einige Militäreinheiten zur Revolte veranlasste. An diesem Punkt – im Sommer 2011 – begannen die USA, die militärische Erhebung zu unterstützen, während Präsident Barack Obama erklärte, dass Assad „zur Seite treten“ müsste.

Seither haben die USA, Saudi-Arabien, die Türkei und andere – in Verletzung der syrischen Souveränität und des internationalen Rechts – logistische, finanzielle und militärische Unterstützung für die Aufständischen bereit gestellt. Es gibt keinen Zweifel, dass sich Assad grausam verhalten hat, aber es gibt ebenso keinen Zweifel, dass die US-geführte Unterstützung der Erhebung eines Verletzung der Souveränität Syriens ist, die zu einer Aufwärtsspirale der Gewalt beigetragen hat, die bis heute über 130.000 syrische Menschenleben gefordert und einen großen Teil des kulturellen Erbes und der Infrastruktur dieses Landes zerstört hat.

● Das internationale Recht am Scheideweg

Man kann viele andere US-Aktionen hinzufügen, einschließlich des Einsatzes von Drohnen auf dem Territorium souveräner Staaten ohne Erlaubnis von deren Regierungen, verdeckte Militäroperationen, illegale Auslieferung und Folter von Terrorverdächtigen und massive Ausspähungen durch die Nationale Sicherheitsagentur (NSA) der USA. Wenn sie durch andere Länder oder UN-Organisationen deswegen kritisiert werden, wischen die USA deren Einwände zur Seite.

Das internationale Recht steht am Scheideweg. Die USA, Russland, die EU und die NATO berufen sich darauf, wenn es zu ihrem Vorteil ist, und missachten es, wenn sie sich davon beeinträchtigt fühlen. Noch einmal: Hier geht es nicht um die Rechtfertigung von Russlands unakzeptablen Aktionen, sondern vielmehr darum, sie im Kontext der Serie von Aktionen zu sehen, die dem internationalen Recht widersprechen.

Die gleichen Probleme könnten bald nach Asien überschwappen. Bis vor kurzem haben China, Japan und andere asiatische Länder energisch das Erfordernis verteidigt, dass der Sicherheitsrat jede auswärtige Intervention in souveränen Staaten genehmigt. Gleichwohl finden sich seit kurzem mehrere Länder in Ostasien in einer Spirale von Ansprüchen und Gegenansprüchen in Bezug auf Grenzen, Schiffsrouten und territorialen Rechten wieder. Bislang blieben diese Dispute im Wesentlichen friedlich, aber die Spannungen steigen. Wir müssen hoffen, dass die Länder der Region weiterhin den großen Wert des internationalen Rechts als Bollwerk der Souveränität sehen und entsprechend handeln.

Schon lange gibt es Skeptiker des internationalen Rechts – solche, die glauben, dass es niemals die Oberhand gegenüber den nationalen Interessen der wichtigsten Mächte gewinnen wird und dass die Aufrechterhaltung des Machtgleichgewichts zwischen Konkurrenten alles ist, was zur Sicherung des Friedens getan werden kann. Aus dieser Perspektive sind die Aktionen Russlands auf der Krim einfach Aktionen einer Großmacht zur Absicherung seiner Vorrechte.

● Illusionäres Machtgleichgewicht

Doch solch eine Welt ist zutiefst und unnötigerweise gefährlich. Wir haben wieder und wieder gelernt, dass es so etwas wie ein wahres „Machtgleichgewicht“ nicht gibt. Es gibt immer Ungleichgewichte und destabilisierende Machtverschiebungen. Ohne eine gewisse rechtliche Einhegung ist der offene Konflikt allzu wahrscheinlich.

Heute trifft es in besonderem Maße zu, dass die Länder sich nach Öl und anderen lebenswichtigen Ressourcen drängeln. Es ist kein Zufall, dass die meisten todbringen Kriege der letzten Jahre in Regionen stattfanden, die reich an wertvollen und umkämpften Ressourcen sind.

Da wir in diesem Jahrhundertjahr auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zurückblicken, sehen wir wieder und wieder, dass der einzig mögliche Weg zu Sicherheit das internationale Recht ist, das durch die Vereinten Nationen aufrecht erhalten und von allen Seiten respektiert wird. Ja, es klingt naiv, doch niemand muss zurückblicken, um die Naivität des Glaubens daran zu erkennen, dass Großmächtepolitik den Frieden und das Überleben der Menschheit sichern wird.

In der Ukrainekrise sollte der Sicherheitsrat helfen, eine Verhandlungslösung zu finden, die die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine bewahrt. Das wird nicht bald geschehen, doch die UN sollten bereit für einen Durchbruch zu einem späteren Zeitpunkt sein. Und so wie sich die USA in diesem Fall an den Sicherheitsrat wenden, so sollten sie sich selbst an das internationale Recht halten und helfen, ein Bollwerk gegen eine gefährliche globale Instabilität zu errichten.

Jeffrey D. Sachs ist Professor für Nachhaltige Entwicklung und Gesundheitspolitik und Direktor des Earth Institute an der Columbia University, ebenso Sonderberater des UN-Generalsekretärs zu den Millennium-Entwicklungszielen. © Syndicate

Empfohlene Zitierweise:
Jeffrey D. Sachs, Ukraine und die Krise des internationalen Rechts. Nicht erst seit der Krim ..., in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 26. März 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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