Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Permanenter Ausnahmezustand in der Türkei

Artikel-Nr.: DE20170420-Art.10-2017

Permanenter Ausnahmezustand in der Türkei

Die Türkei nach dem Referendum

Vorab im Web - Bereits durch den Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 erklärt und seitdem mehrfach verlängert wurde, hatte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seine Befugnisse ausgeweitet. Mit den Verfassungsänderungen, die Gegenstand des Referendums am 16. April 2017 waren, werden bestimmte Ausnahmeregelungen faktisch institutionalisiert und ein ultra-präsidenzialistisches Regime etabliert. Die autoritären Tendenzen sind Symptome eines allmählichen Niedergangs des Regimes der Adalet ve Kalkınma Parti (AKP). Ein Bericht von Joachim Becker

Das lang gehegte Projekt einer ultra-präsidenzialistischen Verfassungsnovelle ist Präsident Erdoğan erst unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes angegangen. Lange Zeit galt die Zustimmung einer nicht kleinen Zahl von AKP-Abgeordneten zu einem solchen Projekt als unklar. Unter dem Ausnahmezustand war aber die Parteidisziplin sichergestellt. Mit der Bildung einer Allianz mit der ultranationalistischen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), die allerdings innerhalb der MHP höchst umstritten war, bekam Erdoğan die für ein Verfassungsreferendum nötigen Stimmen zusammen. Sowohl die zentristische Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) als auch die einer starken Repression ausgesetzte linke, pro-kurdische Halkların Demokratik Partisi (HDP) stimmten gegen die Verfassungsänderungen.

● Ultra-Präsidenzialismus

Mit den Verfassungsänderungen erhält der Staatspräsident extrem umfassende Befugnisse. Er ernennt und entlässt die Minister. Das Amt des Premierministers wird abgeschafft. Er kann das Parlament auflösen und per Dekret regieren. Er gewinnt sehr starken Einfluss auf die Schlüsselernennungen im Justizbereich. Das bedeutet einen Bruch mit der bisherigen politischen Ordnung. Das Parlament und die Parteien würden marginalisiert. Der AKP ist die Rolle einer Wahlmaschine und eines Klientelnetzwerkes zugedacht. Für die zentristische CHP ist anscheinend die Rolle einer „offiziellen“, aber zahnlosen Opposition vorgesehen. Die Gewaltenteilung würde nach diesen Verfassungsvorstellungen weitgehend aufgehoben. Faktisch will die AKP eine Zweite Republik gründen.

Die Referendumskampagne der Regierung umfasste verschiedene Facetten. Sie suggerierte ein Mehr an Stabilität, würden die Kompetenzen in einer Hand konzentriert. Koalitionen und Parlamentarismus wurden in klassischer Manier der anti-parlamentarischen Rechten als Sand im Getriebe denunziert. Mit gezielten wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen, wie Förderpakete für Kleinunternehmen und eine Krankenversicherung für 53 Türkische Lira, suchte die Regierung soziale Kernwählerschaften der AKP, wie Klein- und Mittelunternehmer und prekäre Beschäftigte in den Vorstädten, sich gewogen zu halten. Stark setzte sie auf die nationalistische Karte. Dieses Thema wurde durch die Wahlkampfauftritte türkischer MinisterInnen im Ausland, vor allem in den Niederlanden und in Deutschland, auf die Tagesordnung gesetzt. Die Unterbindung von Ministerauftritten im Ausland wurde von der Regierung als Ausdruck von europäischer Doppelbödigkeit gebrandmarkt. Auch die türkischen Oppositionsparteien sprachen sich gegen diese Restriktionen aus. Sie haben der Regierung genützt. Denn sie konnte einige Punkte bei den nationalistischen Wählern, bei denen es starke Vorbehalte zur Verfassungsänderung gab, aber auch bei den Auslandstürken machen.

Außerdem setzte die Regierungskampagne auf Einschüchterung. Mehrfach stellten Vertreter des Regierungslagers die Gegner der Verfassungsänderungen auf eine Stufe mit „Terroristen“. Die Regierungsseite setzte die geballte Regierungs- und Medienmacht zur Propagierung der Verfassungsänderungen ein.

Ungleiche Kampagnenmöglichkeiten

Unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes waren die Kampagnenmöglichkeiten der Opposition sehr begrenzt. Ein Teil der HDP-Abgeordneten ist in Haft. Die gewählten HDP-Bürgermeister im Südosten des Landes wurden abgesetzt und die Stadtverwaltungen unter Kuratel gestellt. Durch Verhaftungen wurde ein Großteil der HDP-Strukturen zerschlagen. Mehr Spielräume hatte die CHP. In der ultra-nationalistischen MHP bildete sich eine starke und prominent besetzte Plattform für das „Nein“. Einzelne Vertreter der AKP gingen auf Distanz zu den Verfassungsplänen ihrer Partei.

Stark engagierten sich die linke Gewerkschaften und soziale Organisationen für das „Nein“. Sie machten Haus-zu-Haus-Kampagnen und nutzten intensiv die sozialen Medien. Denn die Fernsehsender sind fast alle auf Regierungslinie, und es sind auch nur drei oppositionelle Tageszeitungen – die traditionsreiche Cumhuriyet sowie die kleinen linken Blätter Bir Gün und Evrensel – übrig geblieben. Internationale Wahlbeobachter haben die sehr ungleichen Kampagnenbedingungen scharf kritisiert. So heißt es in einer Stellungnahme der OSZE: „Das Verfassungsreferendum am 16. April hat unter sehr ungleichen Bedingungen stattgefunden.“

● Manipulationsvorwürfe

Laut dem offiziellen Ergebnis stimmten 51,37% mit „Ja“ und 48,63% mit „Nein“. Sowohl die CHP als auch die HDP legten gegen das Ergebnis Einspruch ein. Denn die Wahlkommission ließ kurzfristig nicht abstempelte Wahlumschläge zu, was dem türkischen Recht widerspricht. Denn dies würde der Wahlmanipulation Tür und Tor öffnen. Die Zahlen, die über die nicht-abgestempelten Walumschläge genannt werden, differieren, reichen aber bis zu 2,5 Mio. Das wäre mehr als der Unterschied zwischen „Ja“ und „Nein“. Speziell aus dem Südosten des Landes mit seiner besonders intensiven Präsenz der Sicherheitskräfte werden auch zahlreiche andere Unregelmäßigkeiten gemeldet. Sehr ungleiche Kampagnenmöglichkeiten hat es in der türkischen Geschichte auch früher schon gegeben, aber Brüche der Wahlgesetzgebung und massive Manipulationsvorwürfe nicht. Angesichts der AKP-Dominanz in den relevanten Gremien werden den Einsprüchen wenige Chancen eingeräumt. Die Legitimität des Ergebnisses ist auf jeden Fall massiv in Frage gestellt.

Erosion der AKP

Auch die offiziellen Wahlergebnisse lassen einige für die AKP beunruhige Züge erkennen. Besonders gilt das für den Sieg des „Nein“ in allen großen Metropolen, einschließlich, wenn auch knapp, in Istanbul und Ankara. Istanbul war Erdoğans Sprungbrett in die nationale Politik. Nun hat selbst ein traditionell sehr konservativer Istanbuler Bezirk wie Üsküdar mehrheitlich mit „Nein“ gestimmt. Das „Nein“ gewann allgemein in den eher CHP-orientierten Regionen des Westens und Südens sowie im stark kurdisch bzw. alevi-geprägten Südosten des Landes, während das „Ja“ zum Teil sehr hohe Mehrheiten an der Schwarzmeerküste gewann und im inneren Anatolien die Oberhand hatte. Es war auch im Ausland insgesamt überwiegend, speziell in Belgien, Österreich, den Niederland und Deutschland.

Die AKP scheint ihren Zenit überschritten zu haben. Sie gelangte 2002 – bald nach ihrer Gründung – nach einer schweren ökonomischen und politischen Krise an die Regierungsmacht. Sie sah sich damals einem feindseligen Staatsapparat – besonders im Militär und der Justiz – gegenüber. Um die institutionellen Widerstände zu überwinden, setzte sie auf breite Allianzen – auch mit den Liberalen – und einen Diskurs der Demokratisierung. Sie führte das orthodoxe Strukturanpassungsprogramm ihrer Vorgänger fort und setzte auf ein Wachstum mittels Kreditstimuli. Die Türkei zog im Kontext internationaler Überliquidität viel Kapital an. Eine rasch wachsende Kreditvergabe an Privathaushalte (und Firmen) stimulierte die Baukonjunktur und den Konsum. Das zentrale Versprechen der AKP war Stabilität, nach der sich die große Teile Bevölkerung nach mehreren Finanzkrisen und instabilen Regierungen sehnten. Über Aufbau von Klientelnetzwerken sicherte die AKP ihren Einfluss längerfristig ab.

Ihre Außenpolitik war auf Stabilitätserhaltung orientiert. Einerseits setzte sie auf Beitrittsverhandlungen mit der EU, die 2005 aufgenommen wurden, aber nach der Wahl von Angela Merkel in Deutschland und Nicolas Sarkozy in Frankreich, die sich zum Beitritt der Türkei skeptisch zeigten, rasch versandeten. Andererseits normalisierte die AKP-Regierung die Beziehungen zu ihren Nachbarn, beispielsweise Syrien, und baute die Süd-Süd-Beziehungen aus.

Die Beitrittsgespräche mit der EU waren für die AKP ein Hebel um das kemalistische Establishment und den Einfluss des Militärs zurückzudrängen. 2010 vermochte sie ihre Position im Staatsapparat durch ein Verfassungsreferendum zu stärken. Dies eröffnete ihr neue Handlungsoptionen. Gleichzeitig begann die wirtschaftliche Dynamik nach zulassen. 2008/2009 erlitt die türkische Wirtschaft einen starken Einbruch, erholte sich aufgrund der rasch wieder einsetzenden Kapitalzuflüsse aber relativ schnell. Kurzfristig hohes Wachstum ging mit unhaltbaren Leistungsbilanzdefiziten von bis zu 10% des BIP einher. Das führte zu vorsichtigeren Einschätzungen des türkischen Wirtschaftsbooms. Die Baudynamik begann sich zu erschöpfen. Damit engten sich auch die Spielräume für eine eher konsensorientierte Politik ein.

Innenpolitisch setzte die AKP auf eine Verhärtung ihres Kurses und eine Akzentuierung des nationalkonservativen-religiösen Diskurses. Als erstes stieß sie die Liberalen ab. Dann kam es zum Bruch zwischen der Mehrheitsströmung der AKP, die aus der Milli Görüş-Bewegung kam, und der Gülen-Gemeinschaft, einer Art muslimischen Opus Dei. Dieser wurde mit großer Härte ausgetragen. Den Putschversuch im Juli 2016 schreibt die AKP-Regierung der Gülen-Gemeinschaft, die ihr früher im Justiz- und Polizeiapparat bei der Repression von Nutzen gewesen war, zu. Die offenen Fragen zum Putsch wurden von der CHP in der Kampagne zum Verfassungsreferendum thematisiert. Beispielsweise ist bis heute nicht bekannt, wer die Junta nach dem Coup gebildet hätte.

2013 wurde die AKP-Regierung von den Gezi-Protesten eines breiten kritisch-orientierten politischen Spektrums überrascht. Zu den Kurden verhielt sich die AKP taktisch, zeitweise suchte sie eine politische Lösung, ohne allerdings substanzielle Zugeständnisse anzubieten. Da die HDP nicht zur Unterstützung eines präsidenzialistischen Regimes bereit war und elektoral bei den Wahlen im Juni 2015 erstarkte, veränderte die AKP ihre Taktik. Ein Anschlag war für die AKP-Regierung der Anlass, die Sondierungen für eine politische Lösung der Kurdenfrage aufzugeben und die militärische Präsenz im Südosten des Landes stark aufzustocken. Es kam lokal zu Ansätzen eines Bürgerkrieges.

● Brisante Verstrickung in den Syrienkonflikt

Die Entwicklungen in der Südost-Türkei waren und sind aufgrund der Involvierung der Türkei in den militärischen Konflikt in Syrien besonders brisant. Ab etwa 2010 verschärfte die Türkei auch ihren außenpolitischen Kurs. 2011 sah sie im „arabischen Frühling“ die Möglichkeit, über Allianzbildungen mit den ideologisch eng verwandten Muslimbrüdern zu einer Regionalmacht aufzusteigen. Nach einigem Zögern positionierte sie sich in Syrien zugunsten der islamistisch-orientierten Oppositionsgruppen und einem militärisch herbei geführten Regimewechsel. Das Assad-Regime erwies sich als überlebensfähiger als von der türkischen Regierung erwartet. Und der Rückzug der Assad-Truppen aus den Kurdengebieten ermöglichte es, linken kurdischen Gruppen mit Verbindungen zur in der Türkei verbotenen Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) autonome Kantone zu bilden. Dies hat den Kurden in der Türkei neues Selbstvertrauen gegeben. Das Syrien-Engagement der AKP-Regierung hat zu einem zeitweilig schweren Zerwürfnis mit Russland, aber auch zu Friktionen mit der US-Regierung geführt. Engste außenpolitische Verbündete der AKP-Regierung sind nun die autokratischen Regime in Saudi-Arabien und Katar.

Ausblick

Innenpolitisch hat die Regierung einerseits ihr staatliches Machtinstrumentarium systematisch in eine autoritäre Richtung ausgebaut und andererseits eine extreme politische Polarisierung produziert, die durch aggressive Hasskampagnen in den Medien weiter angefacht wird. Wirtschaftlich ist ihre Lage prekär. Die Auslandsverschuldung hat eine problematische Höhe erreicht. Ein steigender Teil der Auslandsschulden ist kurzfristig. Unternehmen sind erheblich in Fremdwährung verschuldet. Die starke Abwertung der Lira setzt ihnen zu. Der Tourismus als wichtiger Devisenbringer ist schwer eingebrochen. Die Regierung sucht verzweifelt Auslandskredite für ihre großen Infrastrukturvorhaben. So hat sie eine Staatsholding gegründet, die letztlich als Sicherheit für Kredite herhalten soll. Die Ingredienzien für eine Finanzkrise sind gegeben. Inflation und Arbeitslosigkeit steigen. Auch außenpolitisch ist die Lage der türkischen Regierung prekär. Eine weitere innere Verhärtung und eine Akzentuierung des rechts-nationalistischen Diskurses nach innen und außen sind zu erwarten. Es zeichnet sich ein Ausnahmezustand in Permanenz ab.

Posted: 20.4.2017

Empfohlene Zitierweise:
Joachim Becker, Permanenter Ausnahmezustand: Die Türkei nach dem Referendum, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 20. April 2017 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.