Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Replik: Imperiale Lebensweise!

Artikel-Nr.: DE20170725-Art.15-2017

Replik: Imperiale Lebensweise!

Der globale Kapitalismus re-visited

Der renommierte kritische Entwicklungsforscher Dieter Boris unterzieht in W&E 05/2017 unser Buch „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Menschen und Natur im globalen Kapitalismus“ einer sehr weitgehenden Kritik. Wir würden, so Boris, im Kern argumentieren: „Hier, im Norden, Reichtum, Wohlstand, Verschwendung – dort, im Süden, Armut, Elend, Not. Ersteres ist ursächlich durch letzteres bedingt. Es besteht ein eindeutiges und alles determinierendes Kausalverhältnis.“ Und er unterstellt uns eine unseriöse Analyse. Eine Replik von Ulrich Brand und Markus Wissen.

Die bisherigen Reaktionen auf unser Buch zeigen, dass wir offensichtlich einen Nerv in der Debatte getroffen haben. Das gilt für die zustimmenden wie für die kritischen Reaktionen. Die Rezension von Dieter Boris gehört zweifellos zu letzteren. Sie will vor allem die „problematischen Elemente“ von Begriff und damit angeleiteter Analyse aufzeigen. Das finden wir zunächst gut und wichtig. Doch dabei, so unser Eindruck, missversteht er unser Anliegen.

● „Breite Pinselstriche“ statt noch eine Teilanalyse

Boris liest unser Buch primär als schalen Aufguss der Dependenztheorie. Unser Argument sei, dass der materielle Reichtum der metropolitanen Zentren auf der Ausbeutung und Armut der Peripherie beruhe. Dabei würden wir vernachlässigen, dass sich der Kapitalismus gerade nicht in den Ländern am dynamischsten entwickelt hat, die vom Werttransfer aus dem globalen Süden am stärksten profitierten (z.B. Spanien), sondern dort, wo sich ausgehend von der Trennung der unmittelbaren ProduzentInnen von den Produktionsmitteln eine interne Akkumulationsdynamik herausbildete (z.B. England). Auch in vielen Ländern des globalen Südens sei weniger die subalterne Integration in den Weltmarkt, sondern die innere Akkumulation entscheidend.

Wir stimmen dem ebenso zu wie der Aussage, dass es sich beim „globalen Süden“ mit China, Indien, den Andenländern und Subsahara-Afrika um eine höchst diverse Gemengelage handelt. Letzteres haben wir an vielen Stellen betont. Auch wenn wir beide keine Spezialisten für China sind, sind in dem Buch umfangreiche Bezugspunkte und Studien präsent. Allerdings muss ein Buch mit der von uns gewählten analytischen Flughöhe verallgemeinern – eine Diskutantin sagte bei einer Buchpräsentation in Wien, wir würden endlich mal wieder „breite Pinselstriche“ auftragen anstatt die „nächste Teilanalyse“ vorzulegen.

Es sind vor allem die folgenden Punkte, an denen wir uns missverstanden fühlen bzw. an die wir analytisch und politisch anders herangehen als Dieter Boris:

Erstens ist unsere Problemstellung nur teilweise, warum sich Länder des globalen Südens (nicht) entwickeln. Eine Entlarvung von Boris lautet, dass uns der „explosiv gewachsene Süd-Süd-Handel“ keiner Erwähnung wert sei, womit er suggeriert, dass sich eben Länder des globalen Südens durchaus aus Abhängigkeit befreien können. Wir argumentieren eher, dass diese Zunahme selbst herrschaftskritisch zu hinterfragen ist. “Wachstum“ und „Entwicklung“ bitte schön für wen in Afrika, Asien, Osteuropa oder Lateinamerika? Und zu welchen Kosten? Wenn der stark anwachsende Süd-Süd-Handel bei Boris als positiv dargestellt wird, dann melden wir Bedenken an, wenn dieser Handel etwa zwischen Indonesien und China auch aus Palmöl für Nahrungsmittel besteht, für das KleinbäuerInnen von ihrem Land vertrieben werden. Und an den Mega-Investitionen Chinas in Afrika und Lateinamerika gibt es ohnehin viel Kritik.

Wie in früheren und sehr gehaltvollen Analysen sind für den kritischen Politökonomen Boris Wirtschaftswachstum und andere makroökonomische Kennziffern die Indikatoren der Entwicklungstendenzen des globalen Kapitalismus. Er argumentiert: „Brand und Wissen erwecken den Eindruck, dass gegenwärtig die Außenhandels- und Investitionsbeziehungen der Metropolen zu den Peripherien wesentlich seien für den alles entscheidenden Zugriff auf Natur und Arbeitskraft in der Peripherie.“ Aus unserer Sicht entwickeln sich Abhängigkeitsverhältnisse eben nicht nur über Außenhandel und Auslandsinvestitionen. Das versuchen wir in Kapitel 3, in dem wir den Begriff ausführlich entwickeln, zu verdeutlichen.

● Imperiale Lebensweise auch in Süden

Unser Punkt ist: Die imperiale Lebensweise reproduziert sich auch in den Gesellschaften des Südens und macht die Ausweitung des Kapitalismus für mehr oder weniger Menschen so attraktiv. Während wir anregen, die Gesellschaften des globalen Südens als enorm segmentiert und machtdurchdrungen zu sehen, hält uns Boris makoökonomische Zahlen für Länder entgegen. Entscheidend für die Reproduktion der imperialen Lebensweise ist für uns eine global und jeweils innergesellschaftlich ungleiche Konstellation – entlang von Klassen, Geschlechtern, race, aber eben auch verallgemeinerten Produktions- und Konsummustern. Völlig überrascht sind wir entsprechend von dem Argument, wir würden ein altes Nord-Süd-Schema reproduzieren.

Zweitens: „Imperial“ kennzeichnet für uns nicht die „Herrschaft einer Minderheit über eine übergroße Mehrheit“ (Boris), sondern – etwa in der Tradition von Rosa Luxemburg und jüngst Klaus Dörre – den Zugriff des Kapitalismus auf sein Äußeres, eben eine Produktions- und Lebensweise, die strukturell den Menschen aufgezwungen wird und die ihnen gleichzeitig unter den gegebenen Bedingungen erweiterte Lebens- und Handlungsspielräume gibt.

Zudem hat das Adjektiv „imperial“ nicht nur eine analytische, sondern auch semantische Schärfe. Es geht uns gerade nicht darum, einfach die Existenz eines globalen Dominanzverhältnisses zu beklagen. Vielmehr wollen wir dessen alltagspraktische Reproduktion und Normalisierung erklären. Deshalb wirkt uns der komplexe alternative Definitionsvorschlag von Boris nicht nur etwas belehrend, sondern wenig hilfreich.

● Solidarisch-kritische Debatte weiterhin notwendig

Drittens interessiert sich Boris nach der anfänglichen Darstellung unseres Grundarguments überhaupt nicht mehr für eine Problemstellung, die trotz ihrer Dringlichkeit in weiten Teilen der (internationalistischen) Linken immer noch nicht angekommen ist: Die globale, aber oft gleichzeitig sehr lokale und konfliktive ökologische Dimension und ihre Verknüpfung mit Herrschaftsfragen. Boris würde die ökologischen Verwüstungen in vielen Regionen Chinas oder andernorts wahrscheinlich als bedauernswertes Übergangsphänomen des Aufstiegs der Schwellenländer begreifen – für uns ist es ein sich hier und heute dramatisch stellendes Problem, für das wir dringend emanzipatorische Alternativen bedürfen.

Schließlich: Wenn Boris argumentiert, die imperiale Lebensweise werde von als „relativ homogene Entität oder Wesenheit“ vorgestellt, welche die großen sozio-ökonomischen sozialstrukturellen Unterschiede in und zwischen Gesellschaften „quasi unsichtbar“ (!) mache, dann hat er entscheidende Passagen des Buches nicht gelesen – oder wollte sie nicht verstehen.

Dasselbe gilt für den Vorwurf, wir fielen entgegen unserer Intention doch regelmäßig auf die „Hervorhebung Einzelner und moralische Vorhaltungen an diese“ zurück und setzten auf die „besseren Menschen“ in Nischenprojekten – denunziert als „Zapatismus“ für den Globalen Norden – oder die „Selbstkreuzigung von Heerscharen imperialer Lebenskünstler“. Solch eine eigenwillige Interpretation lässt uns ob der selektiven Lektüre des Schlusskapitels zu „Konturen einer solidarischen Lebensweise“ durch Dieter Boris doch etwas ratlos zurück.

Wir halten dem kritischen Modernisierungstheoretiker Boris eine herrschafts- und hegemonietheoretisch informierte sozial-ökologische Perspektive entgegen. Die analytisch-theoretischen Differenzen, die hier zutage treten, haben enorme Implikationen für emanzipatorische Politik und bedürfen der weiteren, kritisch-solidarischen Diskussion.

Posted: 25.7.2017

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Brand/Markus Wissen, Replik: Imeriale Lebensweise! Der globale Kapitalismus re-visited, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 25. Juli 2017 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.