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Boom der internationalen Reproduktionsmärkte

Artikel-Nr.: DE20160414-Art.09-2016

Boom der internationalen Reproduktionsmärkte

Zur politischen Ökonomie des Biokapitalismus

Vorab im Web - Seit Apple und Facebook ihren Mitarbeiterinnen „social freezing“ anbieten, mobilisieren in den USA immer mehr Firmen, flankiert von der Pharmaindustrie, junge Frauen zu dem aufwendigen und teuren Verfahren. In Indien bieten mehr als 3000 Kliniken und noch mehr Vermittlungsagenturen Leihmutterschaft an. Fruchtbarkeitsmessen informieren über Reproduktionstechnologien und Methoden. Die Märkte für Eizellen, Sperma, Körperflüssigkeiten und Gewebe boomen. Christa Wichterich nähert sich dem Thema aus einer polit-ökonomischen Perspektive.

Seit der Geburt des ersten Reagenzglasbabys 1978 hat sich eine transnationale Reproduktionsindustrie auf Grundlage „assistierender Technologien“ entwickelt. Sie basiert auf dem Narrativ, dass Fortpflanzung und ein „gesundes“ Kind medizin-technisch machbar sind und der menschliche Körper optimierbar ist. Die repro-technischen Angebote haben zusammen mit den Life-Sciences und Biowissenschaften wiederum ein gefühltes „Recht auf ein eigenes Kind“ bei unfruchtbaren heterosexuellen Paaren erzeugt, zunehmend aber auch bei homosexuellen Paaren und Singles. Inzwischen wurden sechs Millionen Kinder nach einer künstlichen Befruchtung und massivem Hormoneinsatz geboren. Allein in den USA wurde der Umsatz der Repro-Branche bereits vor dem „social freezing“ auf jährlich 5 Mrd. Dollar geschätzt.

● Globale Landkarte des Fruchtbarkeitstourismus

Durch die unterschiedliche Rechtslage in verschiedenen Ländern entstand eine globale Landkarte für das reproduktive Business einerseits und für transnationalen Fruchtbarkeitstourismus andererseits. In Deutschland sind z.B. die pränatale Diagnostik von Chromosomenstörungen und In-Vitro-Fertilisation erlaubt, Eizellabgabe und Leihmutterschaft jedoch verboten. Deutsche Paare reisen deshalb nach Spanien oder Tschechien, um fremde Eizellen zu bekommen, oder nach Indien wegen einer Leihmutter.

Die Regierungen wollen neue Märkte. So fördert Indien die Branche als Medizintourismus durch Lizenzvergabe, Steuer- und Zollvergünstigungen. Andererseits stehen Regierungen in dem Dilemma, bei diesem heiklen Thema einen ethischen Kompromiss finden zu müssen. So wurde in Russland und in Indien im Rahmen von homophoben Tendenzen Leihmutterschaft für schwule Paare verboten. Als in Thailand ein australisches Paar die Annahme eines Babys mit Down-Syndrom verweigerte, verfügte die Regierung, dass Thai-Frauen nur noch Leihmütter für Thai-Bürger_innen sein dürfen, nicht für ausländische Auftraggeber. Die israelische Regierung ließ die Auftragskinder schwuler Paare nach dem Erdbeben in Nepal ausfliegen, weil sie israelische Staatsbürger_innen sind; die Leihmütter blieben zurück.

Kommerzieller Handel mit Stammzellen und Eizellen, mit Embryos und mit dem Urin von Schwangeren, aus dem Wachstumshormone gewonnen werden können, ist international verboten. Da die Medizin- und Pharmamärkte jedoch diese Biorohstoffe brauchen, ist die „Spende“ dieser Substanzen mit einer Aufwandsentschädigung erlaubt. Diese Kompensation variiert allerdings je nach sozialer Herkunft und Ausbildung. In der Krise war die Eizell“spende“ in Spanien mit 1000 € Entschädigung für eine Studentin eine attraktive Einkommensquelle, auch für Migrantinnen.

● Eine Art Landnahme von Fortpflanzung und Körper

Südafrika und die USA sind wegen der Vielfalt von Haut-, Haar- und Augenfarben begehrte Lieferregionen für Vermittlungsagenturen. Durch das Konstrukt der „Spende“ hat sich – ausgehend von den USA – eine Ideologie von Altruismus und Solidarität auf Basis der Unfruchtbarkeit bzw. Kinderlosigkeit entwickelt, die auch auf die Leihmutterschaft übertragen wird.

Der reproduktions-industrielle Komplex mit dieser Ressourcenbasis funktioniert nach den Prinzipien kapitalistischer Verwertung. Die Ökonomisierung dringt in bisher außermarktliche Bereiche vor, eine Art „Landnahme“ von Fortpflanzung und Körper. Die Kommodifizierung ist möglich durch Abspaltung der Biosubstanzen vom Körper und durch Aufspaltung von Sexualität, Befruchtung, Schwangerschaft und Geburt. So entsteht ein globales Akkumulationsregime mit Bioressourcen, Technologie, Pharmaprodukten sowie dem Outsourcing von Service und Arbeitsschritten in transnationale Wertschöpfungsketten.

Eine Vielzahl von Akteur_innen sind z.B. in den Package Deal involviert, der Bestelleltern eines Wunschkindes in Indien angeboten wird: Vermittlungsagenturen hüben und drüben, die Klinik, Tourismus (inklusive Hotel und Sightseeing), die Pharmaindustrie (Marktführer ist der Darmstädter Konzern Merck), Rechtsanwaltskanzleien, die Paare aus Ländern beraten, in denen Leihmutterschaft verboten ist, Tiefkühl- und Logistikfirmen, die auf Samen- und Eizellbanken pflegen bzw. termingerecht liefern, Rekrutierung von Leihmüttern auf lokaler Ebene.

Knotenpunkt Indien

Indien ist zu einem Knotenpunkt der Reproduktionsindustrie geworden, weil der Sektor legal und kaum reguliert ist, das medizinische Personal gut ausgebildet ist und der Prozess kaum halb soviel wie in den USA kostet (40.000 statt 100.000 US-Dollar). Das Motiv der Leihmütter ist die sog. Entschädigung, die mit 6000 US-Dollar etwa so viel ist, wie ein Rikshaw-Fahrer oder Landarbeiter in acht Jahren verdient.

Zur Verwertungslogik gehört, dass basierend auf einem Vertrag zwischen den Bestelleltern, der Klinik oder Vermittlungsagentur und der Leihmutter die ausgelagerte Schwangerschaft der Effizienznorm unterworfen wird. Zehn Monate leben die Frauen – wie die Fabrikexportarbeiterinnen in China - in einem Wohnheim neben der Klinik und unterliegen ständiger Medikamentengabe, Fortschrittskontrollen und Qualitätstests, da alle Bestelleltern ein gesundes Baby wünschen. Sie werden dazu erzogen, sich als Unternehmerin ihres Körpers zu verstehen, sind verantwortlich für das Gedeihen des fremden Embryos in ihrem Uterus, immer in dem Bewusstsein, dass es ein Kind für andere ist.

Um die Erfolgschancen der Einnistung zu erhöhen, werden fünf Embryos implantiert (statt zwei wie in Deutschland üblich). Deswegen kommt es relativ häufig zu Zwillings- und Drillingsschwangerschaften. Die „Überflüssigen“ werden gemäß des Wunsches der Bestelleltern ebenso abgetrieben wie genetisch „nicht-normale“ oder „missgebildete“ Embryos. Die Geburt erfolgt meist durch Kaiserschnitt, damit die Bestelleltern gezielt zur Übernahme anreisen können.

● Eine neue Form von Verdinglichung und Entfremdung

In den Sozialwissenschaften wird derzeit heftig über die Form der Arbeit diskutiert, die die Frauen leisten. Laut Vertrag stellen sie ihren Körper als Produktionsmittel zur Verfügung und müssen ein Qualitätsprodukt liefern. Die Schwangerschaft erleben sie wegen der Hormongabe, Implantationsversuche und Abtreibungen als körperlich anstrengende Arbeit und zudem als emotionale Herausforderung wegen der Trennung vom Neugeborenen unmittelbar nach der Geburt - in marxschen Kategorien formuliert: eine neue Form von Verdinglichung und Entfremdung. Es ist prekäre Arbeit, weil keinerlei Versicherungsschutz besteht und die Frauen im Falle einer Fehl- oder Totgeburt – bis auf eine anfängliche Ratenzahlung – leer ausgehen.

So wird durch repro-industrielle Wertschöpfungsnetzwerke die Erzeugung von menschlichem Leben zum Produktionsprozess, für den man sich die biologisch notwendigen Bausteine und Serviceleistungen auf transnationalen Märkten zusammenkaufen kann. Dies geschieht im Rahmen sozialer Ungleichheitsverhältnisse, am deutlichsten bei kaufkräftigen Paaren aus der globalen Mittelschicht und armen Frauen aus dem globalen Süden. Amrita Pande hat dies mit Bezug auf indische Leihmütter „Neo-Eugenik“ genannt. Fortpflanzung wird so Teil der neoliberalen Ökonomie und der „imperialen Lebensweise“ (Wissen/Brand) der globalen Mittelschichten.

Dr. Christa Wichterich ist freie Gutachterin und Publizistin sowie Mitherausgeberin von W&E.

Posted: 14.4.2016

Empfohlene Zitierweise:
Christa Wichterich, Boom der internationalen Reproduktionsmärkte. Zur politischen Ökonomie des Biokapitalismus, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 14. April (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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