Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Das LDC-Paradox: Wachstum ohne Strukturwandel

Artikel-Nr.: DE20141202-Art.41-2014

Das LDC-Paradox: Wachstum ohne Strukturwandel

Neuer UNCTAD-Report zu den ärmsten Ländern

Vorab im Web - Die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) werden das Schlachtfeld sein, auf dem sich Erfolg oder Scheitern der Post-2015-Entwicklungsagenda entscheiden, sagt die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in ihrem jüngsten LDC-Report (s. Hinweis). Dabei haben die meisten LDCs schon die 2015 auslaufenden Millennium-Entwicklungsziele (MDGs) trotz hoher Wachstumsraten nicht erreicht. Rainer Falk fasst den Bericht zusammen.

Der neue Bericht bezeichnet das Phänomen, dass die meisten ärmsten Länder die MDGs trotz hohen Wirtschaftswachstums verfehlen werden, als „LDC-Paradox“. Er trägt den Untertitel “Growth with Structural Transformation: A Post-2015 Development Agenda” (Wachstum mit struktureller Transformation: Eine Post-2015-Entwicklungsagenda) und fordert: Der ökonomische Teufelskreis, in dem die ärmsten Länder gefangen sind, muss aufgebrochen werden, wenn diese die neuen Entwicklungsziele, die 2015 verabschiedet werden, erreichen wollen. Der Weg dahin führt über stärkere Entwicklungsbeiträge der internationalen Gemeinschaft, vor allem aber über die interne Transformation dieser Ökonomien, u.a. durch die Diversifikation der oft rohstoffabhängigen Wirtschaft und den Aufbau eigenständiger produktiver Kapazitäten.

● Die meisten LDCs erreichen die Ziele nicht

Das LDC-Paradox hat seine Ursache darin, dass die LCD-Ökonomien keinen strukturellen Wandel erreichten, obwohl sie aufgrund hoher Exportpreise und steigender Entwicklungshilfezuflüsse stark gewachsen sind. Einige andere Entwicklungsländer, die nicht zur LDC-Kategorie gehören, vor allem solche, deren Produktion, Beschäftigung und Export stark von Rohstoffen abhängen, sahen sich mit einem ähnlichen Paradox konfrontiert.

Zwischen 2002 und 2008 übertraf das LDC-Wachstum das von der internationalen Gemeinschaft festgelegte 7%-Ziel, und selbst nach der Finanzkrise von 2008 wuchsen diese Länder im Durchschnitt um 5,7% pro Jahr – schneller als andere Entwicklungsländer.

Doch nur ein LDC – die Demokratische Volksrepublik Laos – ist derzeit auf dem Weg, alle sieben MDG-Ziele (außer MDG 8, das sich an die Industrieländer richtet) zu erreichen. Nur vier der LDCs außerhalb Süd- und Südostasiens (Äthiopien, Malawi, Ruanda und Uganda) dürften immerhin mehr als die Hälfte dieser Ziele erreichen.

In globaler Sicht wurde MDG 1 – die Halbierung der Armut – nur durch den schnellen Fortschritt in weiter fortgeschrittenen Entwicklungsländern, etwa China, erreicht, zeigt der Report. Doch das zentrale Ziel der Post-2015-Entwicklungsagenda wird aller Wahrscheinlichkeit die vollständige Ausrottung der extremen Armut bis 2030 sein. Das bedeutet Ausrottung der extremen Armut überall bis auf null, und dies wird in den LDCs am schwierigsten werden. Von ihrer Leistung wird Erfolg oder Misserfolg der gesamten Post-2015-Entwicklungsagenda abhängen.

SDGs ehrgeiziger als die MDGs

Die Ausrottung der Armut in 15 Jahren ist viel ehrgeiziger als das MDG-Ziel der Halbierung in 25 Jahren, stellt der Bericht fest. Sogar in China wurde das nicht erreicht, obwohl Wachstum und Entwicklung dort über eine doppelt so lange Periode außerordentlich hoch waren. Hinzu kommt, dass die Aussichten für die Exportpreise im Gefolge der Finanzkrise inzwischen viel unsicherer sind, während die Entwicklungshilfe an die LDCs aufgrund der Austeritätspolitiken in den Geberländern stagniert.

Der Bericht hebt drei politische Prioritäten hervor, die in eine Post-2015-Entwicklungsagenda für LDCs eingehen müssen: (a) Mobilisierung von Ressourcen für Investitionen mit maximalem Entwicklungsbeitrag, (b) Kanalisierung dieser Ressourcen in ökonomische Aktivitäten, die entscheidende Beiträge zur Transformation der Volkwirtschaften leisten, und (c) Einführung makroökonomischer Politiken, die Investitionen und Nachfragwachstum fördern statt sie zu behindern. Auch die Diversifizierung der Agrarökonomien muss ein Hauptelement in der Transformation sein, wenn die Armut ausgerottet werden soll.

● Differenzierte Entwicklung zwischen LDC-Ländergruppen

Die UNCTAD-Autoren fanden in dieser Hinsicht wichtige Unterschiede zwischen den einzelnen Ländergruppen der LDCs. Jene LDC-Ökonomien, die in der Lage waren, ihre Produktion im Sinne höherwertiger Verarbeitungsaktivitäten zu diversifizieren, wiesen fortgesetzt deutlich höheres Wachstum auf als Länder, die stark abhängig von natürlichen Ressourcen blieben.

Vor allem asiatische Exporteure verarbeiteter Produkte, wie Bangladesch und Kambodscha, verzeichneten einen schnellen Wandel ihrer Produktionsstrukturen, mit einem 16%igen Rückgang des Agrarsektors am Beschäftigungsanteil. Diese Transformation wurde unterstützt durch einen signifikanten Anstieg der Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft, der über 2% pro Jahr lag und eine allmähliche Verschiebung der Arbeitskräfte in den Industrie- und Dienstleistungssektor möglich machte. Umgekehrt verstärkte die Arbeitsproduktivität in der Industrie diese Dynamik, mit einem durchschnittlichen Wachstum von über 4% zwischen 1991 und 2012.

Die asiatischen LDCs wiesen auch die stärksten Zuwächse in der verarbeitenden Industrie auf (deren Anteil am gesamten Output um 5% anstieg) und übertrafen mit einem jährlichen Anstieg von 3,3% oder mehr auch beim BIP-Pro-Kopf-Wachstum die anderen LDCs.

Langsamer wuchs der Per-Capita-Output dagegen in den afrikanischen LDCs, nämlich mit einer Jahresrate von nur 1,9%, wobei er in Ländern wie Guinea und Sambia, die stark auf den Export mineralischer Rohstoffe spezialisiert sind, sogar stagnierte. Insgesamt ist es keine Überraschung, dass afrikanische LDCs und LDCs, die auf den Export mineralischer Rohstoffe spezialisiert sind, auch nur begrenzte oder sogar negative Veränderungen der Agrarproduktivität aufwiesen und wenig Anzeichen einer Transformation der Beschäftigungsstrukturen zeigten. Wichtiger noch: Beide Ländergruppen verzeichneten einen Rückgang des Anteils verarbeiteter Produkte am gesamten Output von 1%.

● Krisenanfälligkeit und informelle Arbeit

Gleichwohl stieg selbst in afrikanischen LDCs die Arbeitsproduktivität im industriellen Sektor zwischen 1991 und 2012 mit einer Jahresrate von 2,5% an. Diese Ziffer verbirgt allerding einen wichtigen Unterschied zwischen solchen LDCs, deren industrieller Sektor durch Verarbeitung dominiert wird, und solchen, wo extraktive Industrien vorherrschend sind (vor allem Öl, Gas und Mineralien). Exporteure verarbeiteter Güter (vorrangig asiatische LDCs) erwiesen sich in der Tat auch widerstandsfähiger gegenüber negativen externen Schocks, wie sie die globale Wirtschaftskrise nach 2008 mit sich brachte.

Auf der anderen Seite löste die Krise in solchen LDCs, deren industrieller Sektor von Rohstoffextraktion dominiert wird, einen starken Niedergang der Arbeitsproduktivität aus. Das unterstreicht die Verwundbarkeit von Ökonomien, die von natürlichen Ressourcen abhängig sind, und die Bedeutung der Diversifizierung ihrer Produktionsstrukturen.

Eine weitere interessante Entdeckung des Berichts besteht darin, dass selbst in solchen Ländern, die relativ erfolgreiche Exporteure von Fertigwaren sind, ein beträchtlicher Teil der Arbeitskräfte in Dienstleistungsbereichen Zuflucht suchen musste, die nur Jobs mit niedriger Produktivität und informeller Art anbieten. Insgesamt konnte die städtische Industrie nicht Schritt halten mit dem außerordentlichen Tempo der Land-Stadt-Migration, wobei der (informelle) Dienstleistungssektor einen beträchtlichen Teil des Arbeitskräfteüberschusses in den Städten absorbiert hat.

Der Anstieg des Anteils der Beschäftigten in wenig produktiven und informellen Jobs ist nach Ansicht der UNCTAD-Autoren ein ernstes Hindernis für das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum und die Entwicklung in allen LDCs. Hinzu kommt, dass diese Jobs, bei denen niedrige Produktivität mit niedrigem Einkommen verbunden ist, nicht nur die ökonomische Modernisierung behindern, sondern auch die Arbeiter in Armut halten.
● Externe und interne Komponenten einer Post-2015-Strategie

Auf internationaler Ebene hängt der Erfolg der Post-2015-Agenda dem Bericht zufolge jedoch auch von folgenden Faktoren ab:
* Erfüllung der lange bestehenden Verpflichtungen der Geber, was die quantitativen und qualitativen Ziele der Entwicklungshilfe an LDCs betrifft; diese muss auf den eigenen Entwicklungsstrategien der Empfänger basieren;
* Reform des internationalen Finanzsystems, um Krisenprävention und –reaktion ebenso zu verbessern wie das globale Steuersystem;
* Veränderung des internationalen Handelssystems, um den LDCs angemessenen Marktzugang zu verschaffen und ihnen die Verfolgung entwicklungsfördernder Politiken zu ermöglichen;
* Unverzügliche, effektive und gerechtigkeitsbasierte Maßnahmen gegen den globalen Klimawandel.

Die UNCTAD-Autoren betonen, dass es bei Entwicklung nicht einfach um wirtschaftliches Wachstum gehe. Notwendig sei vielmehr die strukturelle Transformation der ökonomischen Grundlagen in zwei parallelen Prozessen: die Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Produktion und die Verlagerung von Arbeit aus Bereichen niedriger Produktivität – wie kleinteilige Agrarwirtschaft und Dienstleistungen außerhalb der formellen Ökonomie – in dynamische Sektoren mit höherer Produktivität, wie verarbeitende Industrie und hochwertige Dienstleistungen. Es ist also nicht einfach Wachstum, was die Leistungen der LDCs in Bezug auf Entwicklungsziele determiniert, sondern die Kombination dieser beiden Prozesse der strukturellen Transformation.

In Zusammenfassung des Reports kann man sagen, dass die Post-2015-Entwicklungsagenda im Kern die Transformation des Teufelskreises, in dem viele LDGs heute gefangen sind, in einen „Tugendkreis“ der wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung leisten muss: Die Reduzierung der Armut, die Verbesserung von Ernährung und Gesundheit und die Förderung der Bildung erhöhen das produktive Potential der Menschen. Die Steigerung des produktiven menschlichen Potentials wiederum kann zur Verringerung der Armut, zur Verbesserung von Ernährung und Gesundheit sowie zu Fortschritten im Bildungssystem führen. Zugleich muss das produktive Potential in höhere Einkommen übersetzt werden, was die Schaffung von Arbeitsplätzen mit höherem Einkommen bedeutet. Und dies wiederum erfordert eine ökonomische Transformation im Sinne von Produktivitätssteigerungen und der Stärkung der dynamischen Sektoren der Wirtschaft.

Hinweis:
* UNCTAD: Least Developed Countries Report 2014: Growth with Structural Transformation: A Post-2015 Development Agenda, 198 pp, United Nations: New York and Geneva 2014. Bezug: über www.unctad.org

Posted: 2.12.2014

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Falk, Das LDC-Paradox: Wachstum ohne Strukturwandel. Neuer UNCTAD-Report zu den ärmsten Ländern, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 2. Dezember 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.