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Der "Máximo Líder" der Dritten Welt ist tot

Artikel-Nr.: DE20161206-Art.26-2016

Der "Máximo Líder" der Dritten Welt ist tot

Nachruf auf Fidel Castro

Vorab im Web - Am 25. November 2016, kurz nach seinem 90. Geburtstag im August, ist die Jahrhundertfigur Fidel Castro verstorben. Man hat den Eindruck, als ob zu jenem Ehrentag im August schon alles über den „Máximo Líder“ gesagt worden sei. Dennoch wird zweifellos erneut und noch längere Zeit darüber diskutiert werden, wieso ein junger, sehr engagierter politischer Führer (und Rechtsanwalt) aus bürgerlichem Elternhaus und später Staatschef eines kleinen Inselstaats von damals 10 Mio. Einwohnern die Weltpolitik in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts so lange und vergleichsweise intensiv mitbestimmen konnte. Von Dieter Boris.

Die kubanische Revolution von 1957/59 – mit 80 entschlossenen Guerillakämpfern und entgegen allen bisherigen Revolutionskonzepten begonnen – brachte Kuba erstmals eine reale politische Unabhängigkeit, sozialen Ausgleich, weitgehende Egalität und öffentliche Absicherung wichtiger Lebensgrundlagen (Gesundheit, Erziehung, Infrastruktur, Vorsorge etc.) – im Gefolge weitreichender Reformen.

● Herausragende Ergebnisse der menschlichen Entwicklung

Resümierend bemerkt der Castro-Biograph und ehemalige Chefredakteur von „Le Monde Diplomatique“ Ignacio Ramonet in „amerika21“ dazu: „Kuba … hat unter der Leitung von Fidel Castro trotz der ständigen Feindseligkeiten von außen bemerkenswerte Ergebnisse der menschlichen Entwicklung erreicht: Abschaffung des Rassismus, Emanzipation der Frau, Beseitigung des Analphabetismus, drastische Reduzierung der Kindersterblichkeit, Anhebung des allgemeinen kulturellen Niveaus… Was Bildung, Gesundheit, medizinische Forschung und Sport angeht gehört Kuba zur Gruppe der effizientesten Nationen.“

Auch wenn die langfristige ökonomische Umwandlung sowie (damit zusammenhängend) die immer wieder – mehr oder weniger – eingeschränkten politischen Freiheiten (nach herkömmlichen „westlichen“ Maßstäben) zweifellos Schwachstellen der Revolution bildeten, wurden die Wirkungen und deutlichen Besserstellungen von einer Mehrheit der kubanischen Bevölkerung – auch in krisenhaften Perioden – im Prinzip anerkannt und geschätzt. Zumal diese Defizite aus einer Mischung äußerer Zwänge (Boykott), selbst verschuldeter Fehler und großer objektiver Schwierigkeiten resultierten.

Die im Laufe der 1960er Jahre begonnenen Versuche, das „Modell“ der kubanischen Revolution auf den Subkontinent zu übertragen, schlugen in allen Fällen fehl, da verkannt worden war, dass die kubanische Revolution auf besonderen Ausgangsbedingungen beruhte und simple Wiederholungen unmöglich waren. Dies hatte teilweise verhängnisvolle Folgen, z.B. in Form der Begünstigung und/oder Stabilisierung von rechten Militärdiktaturen.

Befreiungshilfe im globalen Süden

Bald schon brachte das hohe Ansehen Kubas und seiner Revolutionsführer – vor allem Fidel Castros, aber auch Ernesto Che Guevaras, der in besonderem Maße sich der praktischen internationalen Solidarität verschrieb – dem kleinen Land die Rolle eines zentralen Repräsentanten der sog. Nichtpaktgebundenen Staaten („Blockfreie“), deren Gipfel 1979 in Havanna ausgerichtet wurde. Auch schon in der die (ehemals) kolonialen und halbkolonialen Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zusammenfassenden Bewegung des „Trikonts“ spielte Kuba eine führende Rolle. Zahlreiche Kongresse, Erklärungen, weltpolitische Vorstöße und solidarische Hilfsaktivitäten gingen von Havanna aus, das quasi zur Hauptstadt der damals so genannten Dritten Welt (heute: „globaler Süden“) wurde, und übrigens auch zum begehrten Reiseziel zahlloser linker Intellektueller aus Europa und den USA.

Kuba wurde zudem zeitweise auch zum Kristallisationspunkt des sog. Ost-West-Konflikts, da die sehr nahe bei den USA liegende Insel 1962 zum Ort der Stationierung von russischen Atomraketen (nach der Invasion in der Schweinebucht zur Warnung vor weiteren Interventionsversuchen seitens der USA) werden sollte. In der Kuba-Krise vom Oktober 1962 wurde erstmals die Gefahr eines Dritten Weltkriegs greifbar.

Neben Lateinamerika lagen die Schwerpunkte der internationalen Solidarität Kubas vor allem in Afrika. Im Kampf gegen das Apartheid-Regime Südafrikas und die Kolonialsysteme in Namibia, Angola, Mozambique etc. waren in den 70er Jahren bedeutende Kontingente kubanischer Soldaten an der Seite der Befreiungsbewegungen am Kampf für Unabhängigkeit beteiligt. Ohne die kubanische Hilfe wäre die Befreiung vom kolonialen Joch zweifellos wesentlich schwieriger, wenn nicht unmöglich gewesen.

● Kampf gegen illegitime Schulden

Auch in der Schuldenkrise der „Dritten Welt“ seit 1982, die verheerende Wirkungen für viele Länder mit sich brachte und zudem im weiteren Verlauf zur Erzwingung neoliberaler Anpassungs- und Stabilisierungsprogramme seitens der westlichen Gläubiger und des Internationalen Währungsfonds (IWF) führte, hat Fidel Castro eine wesentliche Rolle gespielt. Er kämpfte entschieden für die Bildung eines „Schuldnerkartells“ mit dem Ziel der Zahlungsverweigerung, da der größte Teil der aufgehäuften Schulden als illegitim angesehen werden müsse.

Aus Fidel Castros Grußbotschaft an den Internationalen Gegenkongress, 1988

"? die Auslandsverschuldung der unterentwickelten Länder stellt in der Gegenwart die größte Bedrohung für die schon schwer in Mitleidenschaft gezogene Stabilität der Weltwirtschaft dar, da sie die Wirtschaft des größten Teils dieser Ländergruppe schwerstens belastet. Und noch mehr: In der ihr eigenen Dynamik hat die Auslandsverschuldung den streng ökonomischen Rahmen überschritten und sich in eine politisches Problem von ungeheurem Ausmaß verwandelt - sowohl auf nationaler Ebene in jedem einzelnen der betroffenen Länder als auch auf der Ebene der internationalen politischen Beziehungen?

Die Auslandsverschuldung ist die historische Folge der Jahrhunderte andauernden und ungerechten Struktur, auf der die gegenwärtigen kommerziellen Beziehungen des Kapitalismus beruhen, die solch schädliche Erscheinungen wie den ungleichen Tausch, das Dumping und den Protektionismus hervorgebracht haben. Ein weiteres Ergebnis der Unordnung und der Anarchie des internationalen Währungs- und Finanzsystems des Kapitalismus ist, dass unter der Führung einer Gruppe ihrer Hauptmächte willkürlich und eigennützig die Geld- und Finanzbeziehungen manipuliert werden, was unheilvolle Folgen für die unterentwickelten Länder zeitigt?

Das Scheitern der durch den Internationalen Währungsfonds betriebenen Anpassungsprogramme ist eine unumstößliche Tatsache. In Wirklichkeit wurden die genannten Programme entwickelt, um die verschuldeten Länder an die sich wandelnden Interessen des transnationalen Kapitals anzupassen. Das, was sie tatsächlich verfolgen, besteht darin, die Marktmechanismen zu stärken, die Rolle, die der Staat spielen kann und muss, zu begrenzen und zuletzt die nationalen Privatsektoren zu begünstigen, die stark mit dem Auslandskapital verquickt sind?"

Quelle: Trägerkreis des Internationalen Gegenkongresses der IWF/Weltbank-Kampagne/Die Grünen im Bundestag (Hrsg.), Gegen IWF und Weltbank, Pahl-Rugenstein: Köln 1988.

An den großen Internationalen Gegenkongress anlässlich der Jahrestagung von IWF und Weltbank 1988 in Berlin sandte er eine Grußbotschaft. Darin heißt es u.a.: „Ohne eine wirkliche und anhaltende ökonomische Entwicklung kann es keine endgültige Lösung des Verschuldungsproblems geben. Und diese wird nicht möglich sein, wenn die Mittel, über die die Dritte Welt verfügen kann, weiterhin für die Zahlung des Schuldendiensts verwendet werden. Genau so wenig möglich wird dies ohne eine grundlegende Umstrukturierung der gegenwärtigen internationalen Wirtschaftsordnung, die mit jedem Tag irrationaler und anachronistischer wird.“ (Weitere Auszüge in der Box)

● Schwierige postsowjetische Neuorientierung

Erst als mit dem Untergang der Sowjetunion und den damit verbundenen gewaltigen ökonomischen Schwierigkeiten das Land auf sich selbst zurückgeworfen war, begann der Stern Kubas in den peripheren Ländern zu sinken, zumal die kapitalistische Option auch dort zunehmend als einzige Möglichkeit wahrgenommen wurde. Der Systemkonflikt schien zugunsten des weltweiten Vorrückens des Kapitalismus entschieden zu sein, Kuba galt vielen also nur noch als Auslaufmodell.

Erst nach einigen Jahren, nach Verringerung der ökonomischen Probleme aus eigener Kraft, begann Kuba wieder eine aktivere internationale Solidaritätspolitik, u.a. im medizinischen Bereich (Ebola-Krise!) und bezüglich musterhafter ökologischer Projekte zu spielen und leitete sukzessive kleine Reformschritte in Ökonomie und Gesellschaft ein.

Infolge einer sehr geschwächten Gesundheit trat Fidel Castro 2006 von seinen Führungspositionen zurück, und diese Neuorientierung (auch mit Richtung auf eine Verständigung mit den USA) wurde von seinem Bruder Raul Castro maßgeblich bestimmt.

● Polarisierend, aber ein Leben lang an der Seite der Verelendeten

Fidel Castro war und ist ein Mann, der extrem polarisiert hat. Das – von Freund und Feind gleichermaßen anerkannte – Charisma, sein Mut und seine Entscheidungsfreudigkeit sowie die von ihm demonstrierte politische und physische Überlebensfähigkeit (bei hunderten von Attentatsversuchen), seine einzigartige rhetorische Begabung und intellektuelle Brillanz sowie sein lebenslanges politisches Engagement für die verelendeten und ausgebeuteten Massen in vielen Teilen der Dritten Welt – hat ihn lange Zeit (und in der Erinnerung bis weit ins 21.Jahrhundert) zu einem der wichtigsten Inspiratoren und Anführer der Emanzipationsbewegungen im „Globalen Süden“ gemacht. Er war in seinem intellektuellen und politischen Profil ein klassischer „Linkspopulist“, wie man heute sagen würde, der sich erst relativ spät zu sozialistisch-kommunistischen Lehren bekannte.

So bewahrheitet sich – entgegen allen falschen Determinismusverdikten gegenüber seinem Denken – eine Einsicht von Marx, dass Zufälle in der Geschichte ebenso wie bedeutende Persönlichkeiten eine große Rolle spielen – „Zufälligkeiten…, unter denen auch der ‚Zufall’ des Charakters der Leute, die zuerst an der Spitze der Bewegung stehn, figuriert.“ (K. Marx, Brief an L. Kugelmann v. 17. April 1871, MEW 33, S., 209)

Empfohlene Zitierweise:
Dieter Boris, Der "maximo lider" der Dritten Welt ist tot. Nachruf auf Fidel Castro, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 27. November 2016 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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