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Die G20 in den Zeiten der Cholera

Artikel-Nr.: DE20161216-Art.27-2016

Die G20 in den Zeiten der Cholera

Herausforderungen für die deutsche Präsidentschaft

Zum Beginn ihrer G20-Präsidentschaft hat die Bundesregierung eine Agenda vorgelegt, die die Richtung für den Gipfel der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer am 7./8. Juli 2017 in Hamburg vorgeben soll. Das Motto der Bundesregierung lautet: „Eine vernetzte Welt gestalten“. Doch es ist nicht nur fraglich, ob diese Agenda den schwierigen Herausforderungen der G20 gerecht wird. Die Frage ist nicht zuletzt, wie handlungs- und gestaltungsfähig die G20 selbst noch ist angesichts der aufbrechenden globalen Widersprüche und Gegensätze. Von Rainer Falk.

Die einen reden von einer Zeitenwende, die anderen von einem tiefgreifenden politischen Umbruch. Wieder andere sehen die Welt am Rand einer neuen globalen Unordnung. Wie immer die Begriffe gewählt werden – es ist unübersehbar, dass sich die weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Verhältnisse an einem Einschnitt befinden. Vor allem die Globalisierung scheint an einem Wendepunkt angelangt. Unter deutscher Präsidentschaft, so will es die Bundesregierung, soll die G20 nicht mehr und nicht weniger als „eine Diskussion zu den Chancen und Risiken der Globalisierung anstoßen“, und zwar nach der Devise: „Globales Handeln und zunehmende Integration von Volkswirtschaften und Gesellschaften sind vorteilhaft für die Menschen – diese Botschaft muss besser unterlegt und kommuniziert werden.“

● Neue Globalisierungsdebatte?

Sprache ist verräterisch. Als ginge es nur um ein Vermittlungsproblem, verkündet die Bundesregierung in ihrer G20-Agenda (s. Hinweis): „Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Skepsis gegenüber grenzüberschreitendem Handel und offenen Märkten müssen wir uns gemeinsam stärker darum bemühen, die konkreten Vorteile von Handels- und Investitionsoffenheit sowie Handelsintegration einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln (sic!)“ – allerdings unter Hinzufügung des Halbsatzes: „ohne dabei Ängste vor möglichen Belastungen für einzelne Sektoren, Bevölkerungsgruppen oder Regionen zu ignorieren.“

So verkürzt der Grundansatz, so blass ist auch die Problemdiagnose. Registriert wird die Zunahme von Verunsicherung und Sorgen auch in den Industrieländern: „Dies äußert sich mitunter in Zweifeln an den Vorteilen der Globalisierung und des freien Handels.“ Mitunter! Dabei hat die angekündigte Globalisierungsdebatte längst begonnen. Von Seiten der herrschenden Funktionseliten wurde sie allerdings einseitig aus dem Blickwinkel der „Vorteile“ geführt. Verschwiegen haben die neoliberalen Protagonisten der Globalisierung stets die wesentlichen Konsequenzen einer regellosen und brachialen Liberalisierung, beispielsweise dass die Auslagerung der Produktion in Billiglohnländer und die technologischen Veränderungen (heute: Digitalisierung) vor allem die unqualifizierten ArbeiterInnen in Industrieländern treffen oder dass die galoppierende Ungleichheit auch innerhalb der Gesellschaften wesentlich mit der Finanzialisierung der Ökonomien zusammenhängt. Jetzt wundern sie sich, dass die Rechten (von Trump über die Brexiters und Le Pen) ihnen das um die Ohren hauen.

● Drei-Säulen-Programm

Die deutsche G20-Agenda für 2017 kommt mit einem Drei-Säulen-Programm daher: Stabilität (Widerstandsfähigkeit) sicherstellen, Zukunftsfähigkeit verbessern, Verantwortung übernehmen. Dies liest sich teilweise so wie ein bloßes Weiter so: Die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit soll vor allem über „Strukturreformen“ gestärkt werden – das übliche Codewort für Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Auch die internationale Finanzarchitektur soll gestärkt und die Finanzmärkte „weiterentwickelt“ werden, die Besteuerung international „fair und verlässlich“ gestaltet und die Zusammenarbeit bei Handel und Investitionen vertieft werden.


Zu einer wirklichen Kehrtwende auf dem G20-Gipfel würde allerdings zunächst einmal das Eingeständnis bisherigen Versagens gehören. Davon findet sich aber kein Wort in dem Dokument. Die bisherige Geschichte der G20 wird als Erfolgsgeschichte präsentiert: Erst die Stabilisierung der Finanzmärkte, nachdem diese die Welt 2008 fast an den Abgrund gebracht hatten – dann die G20 als Forum der umfassenden internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und jetzt als Instrument für die Lösung aller globalen Probleme, von den geopolitischen Konflikten über den Terrorismus, die Flüchtlingsfrage bis zu Armut und Hunger sowie Klimawandel und Epidemien.

Die Bundesregierung knüpft an das Motto der chinesischen G20-Präsidentschaft von einem „starken, nachhaltigen, ausgewogenen und inklusiven Wachstum“ an. Statt dieses aber zu konkretisieren, will sie die G20-Agenda um weitere Themen „ergänzen“, z.B. um Gesundheits- und Frauenförderung. Positiv zu sehen ist, dass starke Akzente auf die Klimapolitik im Sinne der Umsetzung des Pariser Abkommens und die Agenda 2030 bzw. die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (SDGs) gesetzt werden. Diese stehen im Zentrum des Kapitels über die Verbesserung der Zukunftsfähigkeit. Die Frage ist nur, ob die G20 nicht auch hier inzwischen von der Zeit überholt wurde.

● G20 im Umbruch

In wichtigen G20-Ländern haben sich in den letzten zwölf Monaten Veränderungen vollzogen, deren Bedeutung für das Handeln dieser Gruppe noch gar nicht absehbar ist. In Argentinien, bei dem die nächste G20-Präsidentschaft liegt, ist mit Mauricio Macri eine neoliberale Regierung an die Macht gekommen. In Brasilien haben die alten Mächte einen konstitutionellen Putsch gegen Dilma Rousseff inszeniert, der auch das sozialpolitische Erbe Lulas in Frage gestellt, wobei noch nicht klar ist, wie lange sich die alte korrupte Kaste unter Michel Temer wird halten können. In der Türkei befindet sich die Regierung Erdogan auf einem strammen Rechtskurs. In Frankreich, Italien, Spanien ist die politische Zukunft zumindest ungewiss. Alles in allem eher schlechte Voraussetzungen für eine Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit, für die der G20 wegen ihres exklusiven Charakters schon bislang die Legitimität fehlte.

Der wichtigste „Elefant“ im G20-Raum ist jedoch der neue Präsident der USA, der mit seinem „America First“-Programm alles das auf den Kopf stellen könnte, für das die G20 bislang gestanden hat. Man denke etwa an das Vorhaben der erneuten Deregulierung der Finanzmärkte oder die protektionistischen Drohungen gegen die G20-Mitglieder China und Mexiko. Was sich jetzt schon, noch vor dem Amtsantritt Donald Trumps am 20. Januar, sagen lässt: Es gibt mindestens zwei Agenden auf der internationalen Ebene: die des Pariser Abkommens und der Agenda 2030, wie sie die deutsche G20-Agenda noch widerspiegelt, und die der künftigen US-Administration. Und es fragt sich, welche dieser beiden in der G20 ab 2017 obsiegen wird. Es gehört nicht viel Vorstellungskraft dazu, dass die sich abzeichnende neue Konfrontationspolitik Washingtons und der auch andernorts zu beobachtende Rückzug auf die Nation die verbliebenen Ansätze von Kooperation und Zusammenarbeit ausbremsen werden.

● Was bleibt?

In einem solchen Szenarium findet sich die deutsche Bundesregierung unter Angela Merkel – zusammen mit Peking – unversehens auf dem linken Flügel der G20 wieder. Doch gerade die zusätzlichen Aufgaben, die die Bundesregierung auf die G20-Agenda bringen will, klingen da fast schon wie die Losungen aus der Vergangenheit: „Nachhaltig gestaltete globale Lieferketten“ werden da gefordert, während Trump die ausgelagerten Arbeitsplätze ‚heim ins Reich‘ holen will. Von der „Einbindung internationaler Unternehmen“ ist die Rede, während in Washington eine weitere Entfesselung der Konzerne vorbereitet wird. Verlangt wird die „Einhaltung grundlegender Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards“, während andernorts die soziale Demontage und das ökologische Roll back vorangetrieben wird.

In einem solchen Kontext gehört schon einiges an Optimismus dazu, wenn die Bundesregierung behauptet: „Gleichzeitig war die Chance, durch eine vertiefte internationale Zusammenarbeit die wachsende globale Vernetzung zum Nutzen aller zu gestalten, nie größer.“ Realistischer wäre die Vermutung, dass etliches von den Vorhaben der deutschen G20-Agenda bereits obsolet ist, noch bevor die deutsche Präsidentschaft so richtig begonnen hat.

Spannend ist also die Frage, was von den „Schwerpunkten des G20-Gipfels“, die die Agenda der deutschen Präsidentschaft vorgesehen hat, bleiben wird, wenn der Gipfel im Juli nächsten Jahres in Hamburg zusammentritt. Auch für die G20 gilt: Sie kann letztlich nur so gut sein wie ihre Mitglieder. Im Moment sieht es eher so aus, als müssten diejenigen, die in ihr das neue Forum einer kooperativen Global Governance sehen, mindestens noch so lange auf die Erfüllung ihrer Hoffnungen warten, wie die Protagonisten in Gabriel Garcia Márquez‘ berühmtem Roman „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“.

Hinweis:
* G20 Germany 2017. Hamburg. Schwerpunkte des G20-Gipfels 2017, zu finden unter www.g20.org.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Falk, Die G20 in den Zeiten der Cholera. Herausforderung für die deutsche Präsidentschaft, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 16. Dezember 2016 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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