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Ein Dritter Weg für Europa

Artikel-Nr.: DE20160627-Art.15-2016

Ein Dritter Weg für Europa

Nach dem Brexit-Votum der Briten

Der Brexit ist ein schwerer Schlag für Eliten der EU und die Anhänger einer politischen Union. Aber in Krisen liegt auch immer eine Chance. Befreit von mythischer Überhöhung und Sakralisierung der „europäischen Idee“ könnte der Abschied von überkommenen Illusionen auch eine Befreiung sein, hin zu einer anderen, aber dafür funktionsfähigen Integration, schreibt Peter Wahl.

Der Brexit ist ein Symptom, ein besonders spektakuläres, aber nicht die Ursache der multiplen EU-Krisen. Einige dieser Ursachen sind jetzt deutlich zutage getreten. Da sind an erster Stelle die Abgehängten. Wenn man sich die soziologische Struktur der Stimmverteilung anschaut, springt sofort ins Auge, dass die ohne Job, ohne Vermögen, ohne höhere Bildung und ohne fette Rente einen überdurchschnittlichen Anteil der Austrittswilligen ausmachen. Und ohnehin zeichnet sich die britische Variante des Kapitalismus durch besondere soziale Rücksichtslosigkeit und Ungeniertheit bei der Zurschaustellung ihres Klassencharakters aus.

● Versagen der Sozialdemokratie

Da die britische Sozialdemokratie mit Tony Blair zudem New Labour erfunden hat, d.h. die Transformation der Sozialdemokratie in Vollstrecker neoliberaler Reformen, dürfte das Abgehängtsein noch markanter sein als in Deutschland, wo erst mit Rot-Grün die Demontage des Sozialstaates so richtig einsetzte, oder in Frankreich, wo Hollande sich in diesen Tagen mit einem Hartz IV à la française größte Mühe gibt, auch die französische Sozialdemokratie zu ruinieren. In Umfragen steht er jetzt bei 14% Zustimmung.

Wenn aber die Subalternen ihre politische Interessenvertretung verlieren, füllen andere das Vakuum. Es schlägt die Stunde von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Um ihren prekären sozio-ökonomischen Status zu kompensieren, werden die Abgehängten für Ideologien empfänglich, die ihnen scheinbar Stärke und Wertschätzung verleihen. Schon Schopenhauer hat den Zusammenhang, wenn auch mit elitärem Unterton, trefflich formuliert: „Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn.“

Träte an die Stelle von Neoliberalismus und Austerität eine wirklich sozialdemokratische Politik, würden die Populisten ziemlich schnell mindestens die Hälfte ihrer Wähler verlieren. Das gilt für alle EU-Mitgliedsstaaten. Wer also den Brexit auf dumpfe, nationalistische und fremdenfeindliche Haltungen reduziert, verkennt die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein und damit die tieferen Ursachen des Problems.

● Spaltung der Eliten

Überdies standen nicht Farange und Konsorten an der Spitze der Austrittsbewegung, wie manche suggerieren: „Farange, der Mann der Europa in die Krise stürzte“ (Spiegel) oder: „Hier lacht der Brexsack“ (BILD über Farange). Es waren die Konservativen, die den Prozess ausgelöst haben, und es war ein Tory, Boris Johnson, der unbestrittener Spitzenstar des Out-Lagers war. Hinter ihm stand fast die Hälfte der Tory-Fraktion, mehrere Minister, ein großer Teil der Partei und die Hälfte der Presse. Der Brexit stand unter konservativer Hegemonie.

Dahinter steckt eine Spaltung, quer durch die britischen Eliten. Es gibt dabei zwei Motive für deren Brexit-Flügel:
* Wirtschaftspolitisch ist diesen Leuten die EU trotz quasi konstitutioneller Verankerung des Neoliberalismus’ noch nicht markt- und unternehmerfreundlich genug. Vor allem der City sind die Regulierungen aus Brüssel äußerst lästig.
* Angesichts der Umbrüche im internationalen System - Aufstieg Chinas und der britischen Ex-Kolonie Indien, Renaissance Russlands als Großmacht etc. - glaubt dieser Flügel, dass die Atommacht und das Sicherheitsratsmitglied Großbritannien solo und per special relationship mit den USA international mehr Gewicht habe, als wenn es in der EU aufgeht. Außerdem passt ihnen die starke Stellung Deutschlands in der EU nicht.

Ob das Kalkül dieser Elitenfraktion aufgeht, sei dahin gestellt. Aber es verweist auf ein Problem, das die ganze EU betrifft, nämlich auf den Kampf um Status und Einfluss der Mitgliedsstaaten. Die EU war nie eine basisdemokratische Veranstaltung, sondern wird durch informelle Hierarchien strukturiert, mit der Achse Paris-Berlin an der Spitze. Das, was euphemistisch „deutsch-französische Freundschaft“ heißt, ist seinerseits durch Hegemonialinteressen zwischen Paris und Berlin geprägt. Spätestens seitdem Frankreich wirtschaftlich schwächelt und die Deutschen in der Euro- und Griechenlandkrise die Interessen ihres Standorts knallhart durchziehen, eiert die Achse gewaltig.

● Ist die EU noch zu retten?

Unter dem Eindruck des Brexit-Schocks hört man allenthalben, dass jetzt tiefgreifende Veränderungen anstünden. Das sagen Politiker unter solchen Umständen immer: „Und nach dieser Krise – so viel ist klar – wird die Welt nicht mehr dieselbe sein wie vorher“, so Steinbrück als Finanzminister beim Finanzcrash 2008. Danach wurde das Kasino etwas sicherer für die Spieler gemacht, geschlossen wurde es aber nicht. Die Frage ist, ob es dieses Mal zu mehr reicht als zu Durchwursteln as usual.

Wie auch immer, die EU wird nicht so schnell untergehen. Der Gemeinsame Markt und seine profit opportunities liegen im Interesse der Eliten aller Länder. Hier kann man darauf vertrauen, dass die Kapitallogik dafür sorgen wird, dass nichts anbrennt. Wenn die erste Aufgeregtheit abgeklungen ist, wird es ein Assoziierungsabkommen geben, das das Königreich mindesten so gut stellen wird wie die Schweiz oder Norwegen. Und ohne Visum reisen, das gab es auch schon ohne und vor der EU.

Für die Rest-EU dürfte sich jedoch – nolens volens – einiges ändern. Zu erwarten ist ein Trend hin zu dem, was gern „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ genannt wird, inzwischen aber wohl auf drei, vier oder fünf Geschwindigkeiten kommt. Diversität und Flexibilisierung, Dezentralisierung, Regionalisierung, Subsidiarität bis hin zur Pluralität von ökonomischen Modellen werden an die Stelle der immer engeren Union der Völker Europas treten.

Das wird auch selektive Desintegration auf einzelnen Gebieten bedeuten, z.B. in der Währungsfrage. Der Euro könnte dauerhaft nur funktionieren in einer politischen Union und dem was dazu gehört, an erster Stelle Transferzahlungen. Das ist jedoch absolut utopisch. Daher muss es eine Alternative geben, die der sozio-ökonomischen Heterogenität der Eurozone Rechnung trägt. Sonst kommt es zu einem Knall, gegen den der Brexit ein Kinderspiel ist.

● Variable Geometrie der Integration

Natürlich wird es auch mehr Integration auf anderen Gebieten geben, z.B. beim ökologischen Umbau oder in der Flüchtlingsfrage. Aber all das frei von dem Zwang, dass jeder bei allem mitmachen muss. Im Euro-Sprech: variable Geometrie der Zusammenarbeit vulgo: Koalitionen von Willigen.

Gleichzeitig muss es eine Öffnung nach außen geben, nach Nordafrika, zur Türkei, nach Osten zur Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, mit flexiblen, maßgeschneiderten Assoziierungsabkommen. Ohnehin hat der Versuch, im Zeitalter der Globalisierung eine neuen Großstaat zu gründen, etwas aus der Zeit Gefallenes.

Bevor die EU eruptiv und konfrontativ auseinanderfliegt, ist es besser, sich gezielt auf den hier skizzierten Weg einzulassen. Es wäre ein Dritter Weg, zwischen Rückfall ins Zeitalter der Nationalstaaten und der Dystopie vom europäischen Superstaat. Aber natürlich bedeutet das den Abschied sowohl von der Illusion eines europäischen Bundesstaates, als auch von der Sehnsucht selbst mancher Linker nach der Supermacht EU.

Posted: 27.6.2016

Empfohlene Zitierweise:
Peter Wahl, Ein Dritter Weg für Europa. Nach dem Brexit-Votum der Briten, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 27. Juni 2016 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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