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Ernährungssouveränität contra Welthunger

Artikel-Nr.: DE20130318-Art.12-2013

Ernährungssouveränität contra Welthunger

20 Jahre Via Campesina

Vorab im Web – Ob bei den Weltsozialforen oder den großen Protestaktionen am Rande der Ministerkonferenzen der Welthandelsorganisation – immer wenn die Bewegung für globale Gerechtigkeit von sich reden machte, war auch die Kleinbauern- und Landarbeiter-Internationale Via Campesina mit von der Partie. Vom 6.-13. Juni 2013 findet nun in Jakarta/Indonesien der 6. Kongress der Bewegung statt. In seinem Vorfeld sprach Rainer Falk mit Henry Saragih, dem Generalkoordinator von La Via Campesina.
Rainer Falk: Via Campesina wird 2013 20 Jahre alt. Wo stehen Sie heute?

Henry Saragih: Es hat einige Zeit gedauert, bis unsere Forderungen, z.B. nach Nahrungsmittelsouveränität, auf fruchtbaren Boden fielen. Zuerst waren es nur soziale Bewegungen, die unser Konzept unterstützten. Inzwischen haben einige Regierungen, etwa Bolivien, Ecuador und Venezuela, das Konzept übernommen und teilweise sogar in der Verfassung verankert. Und natürlich denken auch in anderen Ländern Politiker darüber nach, ob das Konzept der Ernährungssouveränität nicht geeignet ist, um die Ernährungsfrage zu lösen. Schließlich gibt es die internationale Verpflichtung, Hunger und Armut bis 2015 um die Hälfte zu reduzieren.

* Deregulierung auf unsere Kosten

RF: Es fällt auf, dass Sie sich immer wieder mit der Rolle internationaler Organisationen, wie IWF und Weltbank, aber auch der WTO, beschäftigen. Ist das für eine Basisbewegung nicht ziemlich weit weg?

HS: Für uns im Süden haben die Politiken dieser Institutionen sehr unmittelbare Auswirkungen, weil sie zur Veränderung der Regulierungssysteme innerhalb unserer Länder führen, etwa die Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank. Indonesien musste einen Letter of Intent an den IWF akzeptieren, angeblich um die Wirtschaftskrise zu lösen, und unter diesem Letter of Intent drängten sie darauf, Privatisierungen, Deregulierungen und Liberalisierungen auch im Bereich der Agrarpolitik durchzuführen. Im Ergebnis verstärkte sich die Abhängigkeit vom Import von Nahrungsmitteln.

Auch in Bezug auf die Landfrage drängt die Weltbank auf die Privatisierung des Bodens und der natürlichen Ressourcen. Deswegen betrachten wir diese Institutionen als unsere Gegner, ebenso wie dies auch unsere Freunde in Südkorea oder Japan tun. Die Freihandelsabkommen unter dem WTO-Modell öffnen unsere Märkte für die ausländische Konkurrenz – mit unmittelbaren Folgen für die kleinbäuerlichen Produzenten. Erinnern Sie sich daran, dass am Rande der Cancún-Ministertagung sogar ein südkoreanischer Bauer aus schierer Verzweiflung Selbstmord beging! Während der Ministertagung in Hongkong demonstrierten Tausende von Bauern aus Taiwan, Südkorea, Indonesien, Japan und der ganzen Welt gegen die WTO.

* Weltbank und Landgrabbing

RF: Ich erinnere mich daran sehr gut, aber ändert sich nicht auch etwas? Vor einiger Zeit hat beispielsweise die Weltbank in ihrem Weltentwicklungsbericht zugegeben, dass sie die Landwirtschaft jahrzehntelang vernachlässigt hat.

HS: Ich kann auf Seiten der Weltbank keine grundlegenden Veränderungen erkennen, aber sie versuchen, ihre Politik etwas verantwortungsvoller aussehen zu lassen. Aber wenn wir genauer hinsehen, orientieren sie nach wie vor darauf, dem Agrobusiness die Schlüsselrolle für die Lösung der Nahrungsmittelfrage zu gewähren. Nehmen Sie nur die Weltbank-Initiative „Responsible Agricultural Investment“ (RAI). Sie verkündet hehre Prinzipien, die aber von der Umsetzung meilenweit entfernt sind und so lediglich Landgrabbing legitimieren und langfristig die Übernahme von bäuerlichem Land durch Konzerne erleichtern.

RF: Was jetzt „Finanzialisierung des Agrarsektors“ genannt wird – betrifft das die Leute vor Ort oder ist das nur ein großes Spiel fernab in den Kasinos?

HS: Die Auswirkungen der Spekulation und der Bubble Economy sind nun überall spürbar. Das ist Wasser auf die Mühlen unserer Agenda, der um den Schutz des heimischen Agrarsektors und Nahrungsmittelsouveränität geht statt um bloße Liberalisierung.

RF: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität?

HS: Ernährungssicherheit folgt den Märkten bzw. soll vor allem über die Märkte hergestellt werden, während Ernährungssouveränität auf die Menschen setzt. Ernährungssicherheit weist dem Agrobusiness eine zentrale Rolle bei der Lebensmittelproduktion und –verteilung zu, nicht der Regierung, nicht dem Staat, nicht den Kleinbauern oder den indigenen Völkern. Zur Ernährungssicherheit kann auch die Produktion genmanipulierter Lebensmittel gehören. Im Konzept der Ernährungssouveränität kommt demgegenüber dem Staat eine wichtige Rolle bei der Gewährleistung fairer Bedingungen für die Kleinbauern in der Nahrungsmittelproduktion und bei der Bewahrung unserer natürlichen Ressourcen zu.

RF: Die G8 verfolgt seit letztem Jahr eine Initiative unter dem Namen „New Alliance for Food Security and Nutrition in Africa“, die auch bei dem kommenden G8-Gipfel in Nordirland wieder diskutiert werden soll. Eine andere Initiative ist die “Alliance for the Green Revolution for Africa” (AGRA), der der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan vorsteht und die auch von Bill Gates gesponsert wird. Wie stehen Sie zu diesen Initiativen?

* Das herrschende Modell der Agrarökonomie muss sich ändern

HS: An der G8-Initiative sind wir nicht beteiligt. Demgegenüber verfolgen wir sehr aufmerksam den UN-Prozess um den neuen Ausschuss für Ernährungssicherheit in Rom, den wir mit seinen Mitwirkungsmöglichkeiten für NGOs als neuen Raum für Nahrungsmittelpolitik betrachten. Das entspricht eher unserer Position: Ernährung durch ländliche Entwicklung, und deshalb zurück zu den Bauern. Was AGRA betrifft, so halten wir es für zu optimistisch zu glauben, man könne den Hunger in Afrika durch eine grüne Revolution bekämpfen, auch wenn sie jetzt von einer „zweiten Generation“ der Grünen Revolution sprechen. In Asien kann man die Grüne Revolution nicht als Erfolg bezeichnen, sie hat zur Vertreibung der Leute vom Land und zur Zerstörung von Biodiversität beigetragen.

RF: Sie sprechen auch von der Notwendigkeit einer zweiten Agrarreform im Süden. Was meinen Sie damit?

HS: Nach der Nahrungsmittelpreiskrise und dem Ansturm auf Land in Form von Landgrabbing brauchen wir nicht nur eine modernere und effektivere Landwirtschaft, wir brauchen auch eine Umverteilung des Landes zugunsten der kleinen Bauern.

RF: Interessanterweise sagen Sie, dass das Thema Agrarreform nicht nur ein Thema des Südens ist, sondern auch im Norden eine Rolle spielen sollte. Bemerkenswert ist auch, dass die Akteure des Landgrabbings nicht nur Multinationale Konzerne aus dem Norden sind, sondern auch aus Ländern des Südens kommen. Zeigt das nicht, dass die Zeiten der klaren Fronten zwischen Nord und Süd der Vergangenheit angehören?

HS: Ja, natürlich. Deswegen sagen wir, dass wir neue Konzepte wie Ernährungssouveränität brauchen, die die Situation und das Modell der Ökonomie und der Agrarwirtschaft wirklich verändern. Wir können nicht sagen: Alle Probleme kommen aus dem Norden. Beispielsweise befindet sich das Hauptquartier der indonesischen Palmölkonzerne nicht in Japan, sondern im eigenen Land. Sie exportieren beispielsweise über ausländische Direktinvestitionen in London, und die Exporteinnahmen fließen nicht nach Indonesien, sondern auf Konten bei englischen Banken.

* Vor dem 6. Kongress von Via Campesina

RF: Wie werden sich solche Fragen auf dem kommenden 6. Kongress von Via Capesina im Juni niederschlagen. Wird die bisherige Politik lediglich bekräftigt werden oder gibt es so etwas wie eine neue Agenda?

HS: Wir sind gerade dabei, ein neues programmatisches Dokument vorzubereiten, die Vision von Via Campesina für das 21. Jahrhundert. Feste Elemente darin sind die Stärkung der Ernährungssouveränität, die ökologische Landwirtschaft, die Stärkung der Position der Lebensmittelproduzenten und der Rolle der Frau oder der Aufruf an die junge Generation, den Dörfern nicht den Rücken zuzukehren.

Darüber hinaus geht es darum, über den Agrarsektor hinaus breitere Allianzen anzustreben, zum Beispiel mit den Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften. Wir brauchen insbesondere einen besseren Austausch mit den Armen außerhalb der Landwirtschaft oder auch mit der Umweltbewegung. Greenpeace beispielsweise spricht inzwischen auch von Ernährungssouveränität.

Hinweis:
* Das Gespräch fand am Rande eines Europa-Besuchs von Henry Saragih in Luxemburg statt. Weitere Informationen zur Arbeit von Via Campesina unter www.viacampesina.org.
Veröffentlicht: 13.3.2013

Empfohlene Zitierweise:
Interview mit Henry Saragih, Ernährungssouveränität vontra Welthunger. 20 Jahre Via Campesina, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 13. März 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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