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Hungerbekämpfung: Business oder Sozialpolitik?

Artikel-Nr.: DE20130410-Art.19-2013

Hungerbekämpfung: Business oder Sozialpolitik?

Zur Luig-Peltzer-Kontroverse (1)

Nur im Web – Das Verdienst der Studie „Business Case Hungerbekämpfung“ ist es, die Kooperation zwischen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern mit Unternehmen der Agrar- und Ernährungsindustrie und des Handels kritisch zu thematisieren. Aus entwicklungspolitischer Sicht steht die Frage, was eine solche Kooperation den ersteren und insgesamt der ärmeren Bevölkerung bringt – und wie viele profitieren können. Ein Beitrag von Ingo Melchers.

Ein zentraler Punkt, den Benjamin Luig von Misereor anführt und in seiner Replik auf Roger Peltzer wiederholt, ist die Marktmacht der Unternehmen der vor- und nachgelagerten Industrie. Eine übermäßige Marktmacht wird auch von klassischen Ökonomen thematisiert und kritisiert. Diese kann Märkte und Preise verzerren. Nun kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass in den vergangenen Jahren insbesondere im Einzelhandel für Nahrungsmittel und wichtigen Inputmärkten ein starker Konzentrationsprozess vonstattenging. Doch was folgt daraus?

* Selbstbewusste Kleinbäuerinnen und -bauern

Offenbar lässt sich eine relevante und wachsende Anzahl von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern nicht davon abschrecken, sich in eine direkte Kooperations- und Lieferbeziehung mit Unternehmen zu begeben. Die Bauernverbände und Erzeugergemeinschaften in Europa, aber auch in den Entwicklungsländern haben sich in den vergangenen zehn Jahren in ihren Positionierungen entsprechend ihrer Vielfalt von Interessen und ideologischen Ausrichtungen stärker aufgefächert. Sie haben sich vielfach und vernehmbarer zu agrarpolitischen Fragestellungen zu Wort gemeldet und so etwas wie Gegenmacht aufgebaut. Das ist gut so.

Heute kann keine NGO und keine Regierung (mehr) für sich in Anspruch nehmen, die Bauern und Bäuerinnen zu vertreten oder in ihrem Namen zu sprechen. Das tun sie selber – differenzierter und immer selbstbewusster – und das ist ein erster Hinweis auf Veränderungen. Kleinbäuerinnen und Kleinbauern können nicht mehr so leicht von Parteien und Organisationen instrumentalisiert werden.

Im Folgenden sollen nur zwei Aspekte dieser Debatte beleuchtet werden: Zum einen soll der Anteil der kleinbäuerlichen Einheiten erörtert werden, die davon profitieren (können), in der einen oder anderen Form direkt oder indirekt mit Unternehmen der aufnehmenden Hand oder Inputzulieferern zusammenzuarbeiten. Zum anderen soll darüber gesprochen werden, was dies für die bedeutet, die dazu nicht in der Lage sind. Zur Rolle des Staates wird hier sehr wenig geschrieben. Da sind sich wohl die meisten einig, dass nach den Jahrzehnten der Strukturanpassung eine „nachholende Entwicklung“ nötig ist.

* Wer kann profitieren?

Die von Benjamin Luig angeführte Studie vom IIED und Oxfam („Tipping the Balance“) nennt 2-10% der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, die von einer Wertschöpfungskettenentwicklung Nutzen ziehen kann. Konkret behaupten die Autoren (Bill Vorley et al.) auf S.46: “… value chain interventions are more likely to involve only the top 2–10 per cent of small-scale producers, and in terms of spend per farmer may well be un-replicable by governments and thus not sustainable in the longer term (Hellin et al., 2009)”.

Roger Peltzer stellt diese Zahl in Frage, und in der Tat ist sie umstritten. Ein anderer Autor, Steve Wiggins vom Overseas Development Institute (ODI), wird in einer anderen – ebenfalls sehr lesenswerten – Studie des IIED zitiert (http://pubs.iied.org/pdfs/16517IIED.pdf): “… smallholder development will benefit directly probably no more than the uppermost quartile of small farmers, those with a little more land and resources than their often land-poor neighbours”. Wenngleich hier vielleicht ein leicht anderes Universum – das obere Viertel – angesprochen wird, ist die Zahl sehr viel höher. Ganz offensichtlich ist bei diesen konkreten Zahlen Vorsicht geboten. Es sind Schätzungen, und in diese Schätzungen können große Anschauungen und unterschiedliche Leitbilder einfließen. Auch dürfte diese Zahl von Land zu Land sehr stark variieren.

Es ist jedoch davon auszugehen, dass unter den gegebenen Bedingungen – und darauf wird zurückzukommen sein – in der Regel nur eine Minderheit der Kleinbauern in der Lage ist, sich mit Gewinn und wirtschaftlicher Perspektive in die Logik einer Wertschöpfungskettenentwicklung zu begeben. Diese Erfahrung machen nicht nur staatliche Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch Hilfswerke und NGOs, die mit Kleinbauernorganisationen zusammenarbeiten und versuchen, durch Fair Trade oder andere Zertifizierungen dazu beizutragen, dass den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ein größerer Teil der Wertschöpfung zufällt.

Mit den Ärmsten der Armen, mit Menschen gar, die akut vom Hunger betroffen oder bedroht sind, Business Development machen zu wollen, ist nicht möglich. Und daher mutet in diesem Zusammenhang auch Benjamin Luigs Forderung, dass als „zentrale Messlatte der Hungerbekämpfung besonders die ärmsten und marginalisiertesten Gruppen profitieren“ müssten, als unverständlich an. Erreichen die vielen Projekte nicht nur von Misereor, die mit Fair Trade den Kleinbauern Zugang zu privilegierten Märkten ermöglichen, wirklich die Ärmsten der Armen? Inklusive Geschäftsmodelle, direkte Kooperation zwischen Unternehmen und Kleinproduzenten, die Wertschöpfungskettenentwicklung, Farmers Business Schools, Kooperationsplattformen etc. sind wertvolle, konsolidierte und wirkungsmächtige Instrumente und Ansätze, um Marktzugang für Benachteiligte zu verbessern, Einkommen zu steigern, Verhandlungsrelationen zugunsten der Bauern zu verbessern, mehr Transparenz in die Wertschöpfungskette zu bringen und den Unternehmen eine verlässlichere und qualitativ hochwertige Zulieferung zu ermöglichen. Das alles sind sehr gute entwicklungspolitischen Errungenschaften.

* Zur Rolle von Standards

Standards spielen in den Stellungnahmen von Roger Peltzer und Benjamin Luig eine Rolle. Standards, egal, ob sie gesetzlich verankert oder privater Herkunft sind, sind auch Marketing-Instrumente, mit denen attestiert wird, dass dem Produkt gesundheitliche, soziale oder ökologische Eigenschaften innewohnen, die die nicht-zertifizierten Produkte nicht haben. Jeder Standard ist eine Markteinstiegsbarriere. Je höher der Standard, desto höher die Barriere. Niemand würde den enormen Trainings- und Dokumentationsaufwand auf sich nehmen, wenn das Zertifikat auch umsonst zu haben – und damit die Glaubwürdigkeit des Zertifikats gleich null wäre.

Auch der Verweis Benjamin Luigs auf den Codex Alimentarius als gesetzliche Vorgabe löst das Problem nicht. Jede staatliche Behörde, die mit gutem Willen Kleinproduzenten den Markteinstieg erleichtern will, beispielsweise durch privilegierten Zugang zu Programmen der Schulspeisung, wird mit der Lebensmittelkontrolle (Bakteriengehalt, Feuchtigkeitsgrad, Aflatoxine etc.) konfrontiert werden. Im Sinne der Konsumenten wird auch der Staat Ware zurückweisen, die gesundheitliche Gefahren aufweist – genauso wie der private Träger Ware zurückweist, die den vereinbarten Standards nicht entspricht. Das sind für eine wachsende Zahl von Produzenten interessante betriebswirtschaftliche Optionen, aber eben auch Markteinstiegsbarrieren.

Roger Peltzer betont, dass es die Sorge von internationalen Labeln ist, den Sprung über die Barriere zu erleichtern oder zu ermöglichen. Nicht nur die staatliche Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch viele Unternehmen selbst und auch Vorhaben von NGOs und Hilfswerken arbeiten daran. Dennoch bleibt der Standard eine Barriere, die viele nicht übersteigen können oder wollen. In Deutschland z.B. ist der Anteil ökologischer Lebensmittel vor kurzem von 3,7 auf 3,9% gestiegen; ein relevanter Marktanteil, aber noch gering. Vielleicht sehen viele Bäuerinnen und Bauern die Attraktivität der zusätzlichen Vergütung als zu gering, das Risiko als zu hoch, die verfügbare Arbeitskraft als zu teuer, als dass sie diese Markteinstiegsbarriere überspringen möchten oder können. Bei Fair Trade liegen die Anteile deutlich darunter. Welcher Standard nun besser für Konsumenten und für Kleinbauern sei – ja, das ist eine ganz andere Debatte und entscheidet sich weniger in der EZ oder in der Politik als vielmehr im Supermarkt – oder im Tante-Emma-Laden.

* Unterschiedliche „Rural Worlds“

Aber zurück zu den „Reichsten der Armen“ im ländlichen Raum. Luig entnahm die Zahl 2-10% der Studie von Bill Vorley et al. von IIED und Oxfam. Der Teil der Studie, der einiges zur Diskussion beitragen kann, beschreibt die unterschiedlichen „Rural Worlds“. In Anlehnung an andere Studien beispielsweise der OECD (OECD Povnet, 2006) beschreibt Vorley die soziale und wirtschaftliche Differenzierung innerhalb der kleinbäuerlichen Einheiten.
Für die bereits erwähnten 2-10%, der „Rural World 1“ – oder die oberen 25%, die Steve Wiggins nennt, gilt die Devise: „Stepping up“. Eintritt in formelle und koordinierte Märkte.

Der „Rural World 2“ gehört die Mehrheit der bäuerlichen Familien an. Für sie gilt: „Hanging in“, Investitionen in den landwirtschaftlichen Teil ihrer Betriebe – so die Studie - werden nur zögerlich unternommen, die Vielfalt der Märkte sollte unterstützt werden, für die Politik gelte hier die Devise: breite Unterstützung für den Sektor, Schutz der Landrechte, langsames Upgrading aus der Informalität.

Schließlich die „Rural World 3“: das sind die Ärmsten, zum Beispiel ca. 25% der kleinbäuerlichen Einheiten in Subsahara-Afrika, die weniger als 0,11 ha besitzen. Der Begriff Bäuerliche Einheiten scheint hier oft nicht mehr geeignet, viele Bauern in dieser Kategorie sind faktisch landlos. Der Anteil weiblicher Haushaltsvorstände ist hoch, das Haushaltseinkommen hängt eher von nicht-landwirtschaftlicher Beschäftigung oder Transfers ab. In anderen Publikationen erhielt diese „Rural World“ den Zusatz: „Stepping out“, also die Erwartung, dass die betroffenen Familien bei entsprechender Alternative aus dem ländlichen Raum oder zumindest aus der landwirtschaftlichen Erzeugung aussteigen.
Die Menschen aus der „Rural World 3“ leben eher in der Landwirtschaft, als dass sie von ihr leben. Ihre Optionen sind ländliche Beschäftigung, die sich besonders durch das Wohlergehen der „Rural World 1“ positiv entwickelt, und: zeitweise oder dauerhafte Migration. Erreicht werden sie durch dynamischere Arbeitsmärkte und vor allem durch soziale Sicherheitsnetze, bedingte oder bedingungslose Transferzahlungen, Arbeit schaffende Maßnahmen, Gesundheits- und Bildungsprojekte. Weniger durch die landwirtschaftliche Produktion oder Geschäftsmodelle mit der Wirtschaft. Das ist unmittelbar verständlich und scheint in der wissenschaftlichen Literatur auch unstrittig zu sein. Auch Bill Vorley ist eher skeptisch, was die landwirtschaftlichen Entwicklungsperspektive der „Rural World 3“ angeht. Eine Trennung nur zwischen den „Reichen der Armen“ und den „restlichen 90%“, wäre angesichts dieser viel tiefer gehenden sozialen Differenzierung irreführend.

* Sozialpolitik als Menschenrecht und wichtige Säule der Ernährungssicherung

Es sind die nachweislich wirkungsvollen sozialpolitischen Instrumente, die geeignet sind, die Ärmsten der Armen (u.a. der „Rural World 3“) zu erreichen und den Hunger zu bekämpfen. Sie legen überhaupt erst die Grundlage dafür, dass man in irgendeiner Zukunft über Produktion, Vermarktung, Ausbildung oder Business – in der Landwirtschaft oder außerhalb – reden kann. Viele Beispiele aus Asien, Ruanda, Äthiopien, Brasilien, Peru und Mexiko weisen eine unzweideutige empirische Dichte für den Erfolg dieser Ansätze auf. Für Menschen, die nicht in der Lage sind, für sich und ihre Familienangehörigen zu sorgen, muss es ein soziales Netz geben. Eine intelligente und entschiedene Sozialpolitik ist nicht nur effektiv, sondern auch menschenrechtlich geboten. Umso unverständlicher, dass dieses sozialpolitische Instrumentarium eine so geringe Rolle in den Diskursen der Bekämpfung des Hungers und des Rechts auf Nahrung spielt.

Investitionen in den Agrarsektor weisen von allen Wirtschaftssektoren die mit Abstand die höchste Armutsbekämpfungseffizienz auf, ohne jeden Zweifel. Und hier setzen sinnvollerweise viele erfolgversprechenden Ansätze der ländlichen Entwicklung an. Aber die Landwirtschaft leidet wohl an der normativen Überdehnung der Erwartungen an sie. Auch kritische Menschen und Organisationen glauben offenbar, dass es in erster Linie wirtschaftliches (landwirtschaftliches) Handeln sein müsse, das den Hunger direkt zu bekämpfen habe und es Aufgabe des Privatsektors sei, dies zu bewerkstelligen. Konsequente Sozialpolitik ist für die Ernährungssicherung unabdingbar. Und ein intelligentes und differenziertes Kontinuum von Agrar- und Sozialpolitiken, die an die differenzierten Bedarfe der unterschiedlichen „Rural Worlds“ angepasst sind.

* Warum also Kooperation mit dem Privatsektor?

Die Kooperation mit dem Privatsektor ist aus entwicklungspolitischer Sicht sinnvoll. Trotz der sorgfältigen und teilweise durchaus beunruhigenden Ausführungen Luigs über die Marktmacht großer Konzerne im Saatgutbereich oder Einzelhandel ist kaum nachvollziehbar, dass diese für die Armut und den Hunger verantwortlich sein sollen. Die gesamte Diskussion um Inklusive Geschäftsmodelle geht ja gerade davon aus, dass Kleinbauern im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten eine gestärkte Position haben, weil ihre Produkte gefragter sind, weil sich die Unternehmen der aufnehmenden Hand um sie bemühen müssen. All das ist relativ neu und bildet die Grundlage für neue Kooperations- und Aushandlungsprozesse zwischen Unternehmen und Kleinbauern.

Roger Peltzer führt in seiner Replik aus, dass viele Unternehmen durchaus an selbstbewussten und schlagkräftigen Bauernorganisationen interessiert sind, um wirklich repräsentative Ansprech- und Verhandlungspartner zu haben. Richtig. Mit tausend Kleinbäuerinnen und Kleinbauern individuell zu verhandeln, ist zweifelsohne komplizierter und kostenintensiver als mit einer Genossenschaft. Die Senkung dieser Transaktionskosten sollte und dürfte den Genossenschaften oder Erzeugergemeinschaften vergütet werden und diese in ihrer Verhandlungsposition weiter stärken.

Apropos Transaktionskosten: Unternehmen, die in der Annahme höherer landwirtschaftlicher Effizienz großflächiger Einheiten Land kaufen oder pachten, unterschätzen oft systematisch die enormen Transaktions- sowie rechtlichen und politischen Folgekosten dieser Investitionen. Viele der Landinvestitionen, die wirklich mit dem Ziel großflächiger landwirtschaftlicher Produktion getätigt werden, könnten sich als Flop erweisen.

Unternehmen und vermarktungsorientierte Kleinbauern und –bäuerinnen werden in ihren konkreten Geschäftsbeziehungen natürlich gegensätzliche Erwartungen und Interessen bezüglich Preisen, Lieferbedingungen und Zahlungsfristen haben. Und sicher ist die von Luig dargestellte Marktmacht ein Problem, dem durch genossenschaftliche Organisation und vielleicht durch gesetzliche Regelungen gegengesteuert werden kann – und das vielleicht dennoch nie ganz befriedigend gelöst werden wird. Im Großen dürften Bauern und Unternehmen aber oft am gleichen Strang ziehen, weil die Kooperation den Kleinproduzenten dazu hilft, neue, bisher nicht zugängliche Märkte zu bedienen.

* Allianzen für eine politische Modernisierung und Inklusion?

Die Gegner einer sozial und wirtschaftlich inklusiven Modernisierung sind doch oft ganz andere: die politischen und bürokratischen Eliten, deren Institutionen keine rechtlichen, politischen und infrastrukturellen Anreize für Produktion und Investition setzen und ihre Macht durch Monopole, Extraktion, ethnische Instrumentalisierungen und nicht selten Korruption reproduzieren. Diese überwiegend in den betroffenen Ländern und Regionen selbst erzeugten institutionellen und politischen Verhältnisse erschweren den Zugang der Ärmsten zu Ressourcen und zu Förderinstrumenten. Dazu gehörte auch eine Modernisierung der Marktwege.

Wenn Luig die große Anzahl der Kleinhändler anführt, die von einer direkteren Kooperation zwischen Unternehmen der abnehmenden Hand und Kleinbäuerinnen und Kleinbauern bedroht sein könnten, spricht er einen realen Konflikt an. In vielen Ländern sind heute allerdings die landwirtschaftlichen Produzenten die Verlierer ineffizienter, langer und teurer Vermarktungsketten. In einer direkte(re)n Kooperation und Lieferbeziehung liegen erhebliche Potenziale die Transaktionskosten zu senken und die daraus entstehenden Gewinne neu zu verteilen: an die Unternehmen, die Bauern, die Konsumenten.

Es ist richtig, es gibt nicht nur Gewinner, und jede Veränderung bringt neue Widersprüche hervor. Und es ist auch richtig, dass Kleinbauern nicht sofort auf Augenhöhe mit Konzernen verhandeln können. Aber es sind die Unternehmen des Agrarhandels und der Verarbeitung, die sich bewegen und innovativere und kooperativere Geschäftsbeziehungen einüben müssen, wenn sie ihre agrarischen Rohstoffe auch in zehn Jahren noch zuverlässig beziehen wollen. Das ist – neben einer schlagkräftigen bäuerlichen Organisation und entsprechenden Politiken des Staates – ein wirksamer Hebel für inklusive und innovative Geschäftsmodelle. Die wirtschaftliche Dynamisierung, die in vielen ländlichen Regionen bereits zu beobachten ist, wird die landwirtschaftliche und die nicht-landwirtschaftliche Beschäftigung ankurbeln und Optionen für einen Teil der „Rural Worlds“ 2 und 3 bieten – und hoffentlich damit auch die Bedingungen der Bekämpfung des Hungers strukturell verbessern.

Der landwirtschaftliche Strukturwandel, der Generationenwechsel, der sinkende Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt, sowie das schnelle Wachstum der neuen städtischen Mittelklassen sind säkulare Prozesse, die nicht einzelnen Akteuren angelastet werden können. Nein, ein objektiver und unaufhebbarer Interessenskonflikt zwischen Kleinbauern und Unternehmen der Industrie und des Handels ist nicht wirklich zu erkennen. In einem Umfeld dynamisch wachsender Agrarmärkte, das zunehmend Koordination entlang der Wertschöpfungskette erfordert, sind Bauern und Unternehmen eher potenzielle Partner einer inklusiven und wirtschaftlichen Modernisierung.

Solche Allianzen sind keineswegs vorbestimmt, alle Seiten können sich auch mit den am weitesten rückwärtsgewandten Kräften in der Gesellschaft zusammenschließen und den sozialen Fortschritt behindern. Alles schon vorgekommen. Aber die Bedingungen für eine breitenwirksame ländliche Wirtschaftsentwicklung, die soziale (und ethnische) Grenzen relativiert, sind heute besser als in den vergangenen 30 Jahren. So kann die „Rural World 1“ in vielen Ländern wachsen und sogar zur Mehrheit der kleinbäuerlichen Einheiten werden, für andere entstehen diversifizierte Beschäftigungsoptionen in der Landwirtschaft oder Verarbeitung, die attraktiver sind als das, was die die Menschen der „Rural World 3“ heute oft noch erleiden müssen.

Partnerschaften zwischen nationalen oder internationalen Unternehmen mit dem oberen Zehntel – oder Viertel – der ländlichen Armen können somit in der mittleren und langen Frist nicht nur wirtschaftlich und sozial, sondern auch politisch dazu beitragen, ein wenig mehr Bewegung in verkrustete und elitäre Strukturen zu bringen, die über den Kreis der direkt Beteiligten deutlich hinaus geht. Diese Partnerschaften mit den Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit zu initiieren oder zu unterstützen, für mehr Transparenz zu werben, die Management- und Verhandlungskapazitäten der kleinbäuerlichen Produzenten und ihrer Organisationen zu fördern, die Instanzen eines legitimen Interessensausgleich aller Seiten zu stärken – und gleichzeitig Agrar-, Sozial und Investitionspolitiken im Sinne einer ländlichen Armutsbekämpfung und Wirtschaftsentwicklung zu beraten, dies scheint mir eine vernünftige entwicklungspolitische Option zu sein.

Ingo Melchers ist Mitarbeiter der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und leitet ein Projekt zu Agrarpolitik und Ernährungssicherung, das das BMZ berät. Sein Beitrag gibt ausschließlich seine eigene Meinung und nicht notwendigerweise die der GIZ wieder.

Veröffentlicht: 10.4.2013

Empfohlene Zitierweise:
Ingo Melchers, Hungerbekämpfung: Business oder Sozialpolitik? Zur Luig-Peltzer-Kontroverse, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 10. April 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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