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Imperativ Alternative Wirtschaftspolitik

Artikel-Nr.: DE20130514-Art.22-2013

Imperativ Alternative Wirtschaftspolitik

Manifest gegen die Austeritätsgläubigkeit

„Handelt jetzt!“ Unter diesem Titel haben fünf renommierte Wirtschaftswissenschaftler aus drei Kontinenten ein 215 Seiten starkes Buch geschrieben, das mit einem 5-Punkte-Manifest abschließt (s. Hinweis). Es handelt sich um den Engländer Paul Davidson, den Amerikaner James Galbraith, den Deutschen Heiner Flassbeck, den Japaner Richard Koo und die Inderin Jayati Ghosh. Jean Feyder stellt das Buch vor.

Die fünf Ökonomen stellen fest, dass der Neoliberalismus gescheitert ist und plädieren für Sofortmaßnahmen zur Wiedebelebung der Weltwirtschaft, um den Rückfall in Nationalismus und einen neuen Kampf der Nationen zu verhindern. Eine ernsthafte internationale Kooperation und eine sofortige Beendigung der Austeritätspolitik sind für sie das Gebot der Stunde.

* Rekordarbeitslosigkeit nach der Finanzkrise

Europa erlebt eine dramatische Rekordarbeitslosigkeit und zunehmende Armut. Fünf Jahre nach dem Ausbruch der Krise ist immer noch kein Aufschwung in Sicht. Eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50%, wie wir sie in Griechenland und Spanien beobachten, ist für die Autoren ein schlagender Beleg für das Versagen des gesamten europäischen Systems.

Die Finanzkrise des Jahres 2008 war Ausdruck einer Deregulierung, die viel zu weit ging und auf zu vielen Finanzmärkten ein Kasino hat entstehen lassen, das gewaltige Risiken für die Weltwirtschaft birgt. Die Staatsverschuldung stieg rapide, als die Regierungen zuerst einspringen mussten, um einen globalen Wirtschaftskollaps zu verhindern. Mittlerweile bedroht jetzt eine falsche finanzielle Austeritätspolitik große Teile der Weltwirtschaft in einer Weise, dass ein Rückfall in eine tiefe Rezession oder gar Depression nicht mehr ausgeschlossen werden kann.

Der Versuch, die Arbeitsmärkte global zu flexibilisieren und die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften zu verbessern, hat zu einem Unterbietungswettlauf geführt. Ungleichheit hat extrem zugenommen. Die Perspektiven einer ganzen Generation haben sich verdüstert.

* Zentrale ökonomische Irrlehren

Die Effizienz der Finanzmärkte wurde völlig überschätzt. Zu große Freiheiten wurden ihnen gewährt. Nur flexible Arbeitsverhältnisse und flexible Löhne, glaubte man, seien notwendig zum Abbau der Arbeitslosigkeit und folglich auch das Beste für die ArbeitnehmerInnen.

Die Geldpolitik müsse völlig unabhängig von der Politik gemacht werden. Unabhängige Zentralbanken seien der Garant für Preisstabilität. Die Privatisierung fast aller Lebensbereiche führe zu einer optimalen Ordnung zwischen Staat und Markt. Staatliche Schulden müssten auf jeden Fall verhindert werden, weil sie private Investoren an den Kapitalmärkten verdrängen.

Liberalisierte Finanzmärkte sind jedoch instabil und führen zu massiver Fehlallokation der Ressourcen. Die Finanzialisierung der Rohstoffmärkte hat dazu geführt, dass Rohstoffpreise sich wie reine Finanzpreise verhalten, die von physischem Angebot und Nachfrage vollkommen entkoppelt sind und enormen Schaden anrichten.

Ebenso sind Arbeitsmärkte instabil. Sinkende Löhne bedeuten unmittelbar sinkende Nachfrage nach Konsumgütern, dies sei das entscheidende ‚missing link‘ in der herrschenden Theorie. Nicht alle Länder der Welt können durch Lohnsenkung ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Der Wettbewerbsvorteil eines Landes geht auf Kosten der Wettbewerbsvorteile des Nachbarn.

Wenn alle anderen Sektoren versuchen, ihre finanzielle Situation zu verbessern, also zu sparen, ist aktive und expansive Finanzpolitik des Staates absolut unumgänglich, argumentieren die Verfasser. Die Finanzpolitik müsse die Rolle eines Stabilisators wahrnehmen. Sie könne sich nicht erlauben, Staatsschulden zurückzufahren, noch dürfe sie ihren Anteil an der Wirtschaftstätigkeit verringern, wenn die Privaten versuchen, sich zu entschulden oder mehr zu sparen. Es sei ein schwerer, gerade in Europa und in den USA drohender Fehler, die konkrete Politik des Staates vom Niveau der Staatsschulden abhängig zu machen.

* Eine radikal andere Wirtschaftspolitik

Die Hauptempfehlungen der Autoren für eine alternative Entwicklungsrichtung lauten:

a) Die Politik muss die Macht der Finanzmärkte drastisch einschränken. Aktivitäten, die keinen gesellschaftlichen Ertrag versprechen, aber hohe Risiken bergen, sind zu beenden. Dies gilt für jegliche Kasinospiele, die die Fragilität des Finanzmarktes weiter vergrößern.
b) Die Arbeitsmärkte der westlichen Welt dürfen nicht weiter flexibilisiert werden, sondern auf stabile Erträge für die Menschen ausgerichtet werden. Vorgeschlagen wird eine konsequente Partizipation der Arbeitnehmer an den Erfolgen der wirtschaftlichen Entwicklung, also eine Lohnpolitik, die das Nominallohnwachstum am Produktivitätserfolg plus Inflationsziel ausrichtet. Weiterer Lohndruck ist zu verhindern, umso mehr die gestiegene Arbeitslosigkeit unmittelbare Folge der Finanzkrise war, nicht aber gestiegener Löhne.
c) Besonders Europa muss über eine grundlegende Neubestimmung der Rolle der Geldpolitik nachdenken. Diese muss auch direkt für Investitionen und Beschäftigung verantwortlich gemacht werden. Die alleinige Konzentration auf das Ziel der Inflation, wie derzeit nur in Europa praktiziert, hat sich als völlig unzureichend erwiesen.
d) Um einer neuen Rezession entgegenzusteuern, muss eine aktive Finanzpolitik in der industrialisierten Welt gemacht werden, so wie das jetzt die neue japanische Regierung versucht. Dazu müssen öffentliche Schulden enttabuisiert werden. Öffentliche Defizite wie auch Leistungsbilanzdefizite müssen im Zusammenhang der volkswirtschaftlichen Spar- und Investitionsvorgänge betrachtet werden. Einzelwirtschaftliche Betrachtungen nach Art der „Schwäbischen Hausfrau“, die in Deutschland gerne als Referenz genommen werden, gehen am Kern der Sache vorbei. Unternehmen, die auf Bargeld und Guthaben sitzen und so wenig investieren, dass sie per Saldo sparen, deuten auf eine gravierende Fehlentwicklung in der Marktwirtschaft hin. In jedem Falle ist das Eingreifen des Staates erforderlich. Fiskalische Expansion in Ländern mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen ist das Gebot der Stunde.
e) Die ökologischen Grenzen der wirtschaftlichen Entwicklung sind zu beachten und zu respektieren. Nur ein kompetenter Staat ist in der Lage, Ressourcen dauerhaft so umzulenken, dass die natürliche Umwelt geschont wird. Eine völlig andere Entwicklungsrichtung ist einzuschlagen. Den Entwicklungsländern muss geholfen werden, ihre Entwicklungspotentiale zu erhalten.

* Mut zum Dialog

Soweit die Substanz des Manifestes. Dieses wird weiter erklärt und begründet durch die einzelnen Beiträge eines jeden der fünf Autoren. So erläutert Jayathi Gosh die Gefahren und Probleme der Liberalisierung der Finanzmärkte für die Entwicklungsländer. Sie stellt das bestehende Entwicklungsmodell, das auf verstärkter Exportpolitik und vollkommener Integration in den Weltmarkt basiert, in Frage und macht interessante wirtschaftspolitische Reformvorschläge.

Die fünf Autoren sind nicht die ersten, die die Austeritätspolitik in Frage stellen und ihr Ende verlangen. Ihr Buch hat allerdings den Vorteil, genau zu erklären, warum eine solche Politik nicht funktioniert. Sie legen die geistigen Wurzeln des vielfältigen Versagens der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik offen. Sie machen konkrete Vorschläge für eine alternative, kohärente Politik, die weit über die Parole „Mehr Wachstum“ hinausgeht. Sie treten damit für eine fundamentale Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik ein.

Die Rezession, vor der die Autoren warnen, ist inzwischen in vielen Ländern, sogar in Holland, eingetreten. Mehr und mehr müssen Sparprogramme zurückgestellt werden. EU-Kommissionspräsident Barroso muss zugeben, dass die Austeritätspolitik an ihre Grenzen stößt. Olivier Blanchard, Chefökonom des Internationalen Währungsfonds kommt zur Schlussfolgerung, die Unabhängigkeit der Zentralbanken könne nicht beibehalten werden.

Es ist höchste Zeit, dem steigenden Vertrauensverlust in Europa und die Demokratie mit den damit verbundenen Gefahren entgegenzutreten. Wir können es uns nicht mehr erlauben, einer gescheiterten Politik herdentriebsartig nachzulaufen und bestenfalls immer nur reaktiv mit oberflächlichen Reparaturen zu begegnen. Es geht um Grundsatzfragen unserer Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitspolitik. Wie sollte ein neoliberales Wirtschaftsmodell bei uns zum Erfolg führen, das in den Entwicklungsländern seit Jahrzehnten Hunderte von Millionen zu Hunger und Armut verdammte?

* Hauptproblem Deutschland

Die hier vertretenen Ansichten werden ohne Zweifel in den betroffenen Ländern, besonders Südeuropas, auf Verständnis, Interesse, wenn nicht sogar auf Zustimmung stoßen, möglicherweise sogar in Teilen der französischen Politik. Das Hauptproblem scheint mir Deutschland zu sein, das die bestehende europäische Finanz- und Währungspolitik entscheidend mitbestimmt hat. Zwar hat sich die Arbeitslage dort verbessert, allerdings bei sehr geringen Löhnen. Zwar spricht man jetzt über Mindestlöhne, sieht aber keine Notwendigkeit, an den bestehenden Fundamenten zu rütteln. Ob das aber im langfristigen Interesse Europas, also auch Deutschlands liegt, ist zu bezweifeln.

Wir müssen handeln, und dazu ist Mut und Dialog von Nöten, an dem sich alle Betroffenen, also alle Europäer, zu beteiligen haben. Das Buch jedenfalls ist jedem zu empfehlen ist, dem die Zukunft Europas am Herzen liegt.

Jean Feyder war Botschafter Luxemburgs, zuletzt bei den in Genf ansässigen internationalen Institutionen, wie WTO, UNCTAD und WHO.

Hinweis:
* Heiner Flassbeck/Paul Davidson/James K. Galbraith/Richard Koo/Jayati Gosh, Handelt Jetzt! Das globale Manifest zur Rettung der Wirtschaft, 215 S., Westend: Frankfurt/Main 2013. Bezug: Buchhandel.

Veröffentlicht: 14.5.2013

Empfohlene Zitierweise:
Jean Feyder, Alternative Wirtschaftspolitik Gebot der Stunde. Manifest gegen die Austeritätsgläubigkeit, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 14. Mai 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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