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Karl Marx in Venedig

Artikel-Nr.: DE20150615-Art.16-2015

Karl Marx in Venedig

Kunstsuche im Sommer 2015

Vorab im Web - Jedes Jahr ist der Sommer auch ein Sommer der Kunst. Von Köln und Paris über Basel und Venedig zieht der Tross der Sammler, der Kuratoren, der Galeristen und der Künstler selbst auf der Suche nach Inspiration und Geschäft, Invention und Zeitgeist. Doch in diesem Jahr wird der Mainstream gleich mehrfach durchbrochen. Seit jeher ist das Verhältnis von Kunst und Politik umstritten. Heuer könnte es heißen: Kunst ist Politik. Eine Übersicht von Rainer Falk*).

Während die Art Basel in diesem Jahr mehr denn je für die Kapriolen des Kunstmarktes mit seinen ins Atemberaubende schießenden Preisen steht und immer noch eine reichlich eurozentrische Szene repräsentiert, wird ein paar Kilometer weiter – im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein – ein neues Verständnis von Design propagiert: „Making Africa“ ist eine Ausstellung, die sich erstmals dem kreativen Schaffen auf dem Kontinent widmet, ohne sich dem Thema über Recycling, humanitäres Design oder traditionelles Handwerk zu nähern. Genreübergreifend wird eine neue Generation von Gestaltern präsentiert, die Design als Werkzeug für ökonomischen, politischen und sozialen Wandel nutzt und damit einen Bogen vom jüngsten Afrika-Boom zur Mitte des 20. Jahrhunderts schlägt, als eine junge Generation ihre Befreiung vom Kolonialismus feierte. „Die Zukunft gehört Afrika“, sagt Okwui Enwezor, der beratender Kurator der Ausstellung ist, selbstbewusst.

Globales Parlament der Formen

Der Nigerianer mit US-amerikanischem Pass, Okwui Enwezor, ist zugleich Kurator der diesjährigen Biennale in Venedig und kein Unbekannter, wenn es um die Verbindungen zwischen Kunst, Globalisierung und Befreiung geht. Vor Jahren, 2002, kuratierte er die Documenta XI in Kassel, auf der die Globalisierung der Kunst erstmals glaubwürdig abgebildet wurde. Davor schon konzipierte er für das Münchener Haus der Kunst, dessen Direktor er heute ist, in Zeiten des tiefsten Afrika-Pessimismus eine Schau, deren zentrale Aussage war, dass die Moderne in Afrika keinesfalls erschöpft ist, solange die Befreiung unvollendet bleibt.


Enwezor ist nicht nur der erste afrikanische Kurator der Biennale. Es präsentiert dem Publikum auch etwas, das dieses auf einer vergleichbaren Kunstschau noch nicht gesehen hat. Im Zentrum der Ausstellung, in der „Arena“ läuft von Juni bis November eine Dauerperformance, in der Schauspieler ununterbrochen „Das Kapital“ von Karl Marx vorlesen – alle vier Bände (wenn man die „Theorien des Mehrwerts“ als 4. Band ansieht), von vorne bis hinten, Zeile für Zeile, Abschnitt für Abschnitt, und wenn alles vorgetragen ist, beginnt die Lesung wieder von Neuem.

● Kapital – das große Drama

Das Motto der Biennale lautet in diesem Jahr „All the Worlds Futures“ („Alle Zukünfte der Welten“). Doch erst einmal muss der gegenwärtige „state of things“, der Stand der Dinge, reflektiert werden. Und hier „ist das Kapital das große Drama unserer Zeit“, sagt Enwezor. „Heute lastet nichts schwerer auf jeder Sphäre der Erfahrung, von den räuberischen Verhältnissen der politischen Ökonomie bis zur Gier der Finanzindustrie. Die Ausbeutung der Natur durch ihre Kommodifizierung als natürliche Ressource, die wachsenden Strukturen der Ungleichheit und die Schwächung des breiteren Gesellschaftsvertrags“, all das verlange unweigerlich nach Veränderungen. Und: „Wir können nicht über Ungleichheit nachdenken, ohne über Kapital zu sprechen.“

Wie in einem globalen „Parlament der Formen“ (Enwezor) hat der Kurator um das Zentrum der Ausstellung eine Kunstvielfalt gruppiert, die in diesem Jahr ihre Gleichen sucht, beispielsweise historische Neonarbeiten von Bruce Nauman, die mit Wörtern wie "Life", "Death", "Love" und "Hate" spielen. Olaf Nicolai beschäftigt sich mit einer Sound-Arbeit des italienischen Komponisten Luigi Nono, Jeremy Deller erforscht "Factory Songs" der britischen Arbeiterklasse, und Mathieu Kleyebe Abonnenc führt Stücke des legendären afroamerikanischen Musikers Julius Eastman auf. In einem eigenen Saal setzt Hans Hacke sein blaues Segel per Ventilator in Bewegung, und an den Wänden präsentiert er kunstmarktkritische Statistiken. Auf den Spuren der Globalisierung untersucht Taryn Simon die Produktions- und Handelsketten der Blumen. Und passend zur Kapitalrezitation interviewt der Videokünstler Isaac Julien den marxistischen Theoretiker David Harvey.

● Afrika als Kontinent des Designs

Dass uns in Weil – direkt neben der Fabrik, die im Wesentlichen europäisches und US-amerikanisches Design produziert – Afrika als „ein Kontinent des Designs“, so der Untertitel der Ausstellung, präsentiert wird, ist an sich schon ein Novum und ein Beitrag zu einem neuen, unverstellten Blick auf den Kontinent. Über dem Prolog der Schau steht das Motto „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Historiker haben, werden die Geschichten von der Jagd immer die Jäger glorifizieren.“

Beispiele




Die im Museum präsentierten Arbeiten kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen: Objekt- und Möbeldesign, Grafik, Illustration, Mode, Architektur, Stadtplanung, Kunst, Handwerk, Film, Fotografie und Digitales. Sie alle stehen für den Perspektivenwechsel, den Afrika heute so dringend braucht – die Brillenskulpturen des Kenianers Cyrus Kabiru etwa. Oder der Digitaldruck von Jim Cuchu „All Oppression is Connected“. Oder auch das Urban Africa-Projekt von David Adjaye.

„Making Africa“ vertritt ein Konzept des kritischen Designs, für das es nicht genug ist, einen hübschen Stuhl zu entwerfen oder eine hübsche Grafik. Design sei mehr als ein Verkaufsargument, schreibt die Kuratorin der Ausstellung, Amelie Klein, die zwei Jahre für ihr Projekt recherchiert hat. „Es kann Ausdruck einer gesellschaftlichen Veränderung sein, ja sogar selbst die Gesellschaft verändern.“ Das subversive Potential von Design in Afrika erläutert Enwezor am Beispiel des Ausstellungstitels so: „To make – ich denke, das umfasst wirklich alles, was die Selbstgefälligkeit des Massenkonsums infrage stellt.“ Angesichts der Zerstörung afrikanischer Volkswirtschaften durch Billigimporte stellt er fest: „Im afrikanischen Kontext müssen wir also auch die politische Dimension von making begreifen – das making als eine Art subversiver Akt, als Erforschung neuer Ansichten, Konzepte und Industrien.“

● Exemplarische Innovationen

Natürlich umfasst die Kartographie der Formen in diesem Sommer mehr als das fulminante Kunstfestival der Biennale in Venedig oder die afrikanische Designpalette in Weil. Das Centre Pompidou in Paris zeigt eine Retrospektive des Stars der Moderne Le Corbusiers und eine solche des lange unterschätzten Konkreten Gottfried Honegger. Im Park von Versailles sind die geschwungenen Skulpturen von Anish Kapoor zu bewundern – teilweise so anstößig, dass Spießer, die es in Frankreich auch gibt, ihre Entfernung forderten. In Appenzell in der Schweiz gibt es „Die Dada – Frauen und Dada“. Im Museum für zeitgenössische Kunst in Barcelona spielt Osvaldo Lamborghini „proletarisches Kammertheater“. Im Berliner Amerika-Haus wird Salgados „Genesis“ gezeigt. Und, und, und…

Auch die diesjährige Expo in Mailand bietet viele Kunstausstellungen um sich herum und ist selbst einem politischen Thema gewidmet: „Feeding the Planet, Enery for Life“. Aber am exemplarischsten für originelle, politische Innovationen sind doch Venedig und Weil. Zur Ausstellung „Making Africa“ ist ein prachtvoller und inhaltsreicher Katalog erschienen. Eine Art Katalog oder Resümee in Buchform ist für das Ende der Biennale angekündigt. Die Biennale in Venedig (www.labiennale.org) läuft noch bis zum 22. November; „Making Africa“ (www.makingafrica.net) bis zum 13. September. Die Afrika-Schau zieht dann weiter nach Bilbao und Barcelona.

Posted: 14.6.2015

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Falk, Karl Marx in Venedig. Kunstsuche im Sommer 2015, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 14. Juni 2015 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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