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Politische Integration oder neoliberale Agenda?

Artikel-Nr.: DE20140609-Art.20-2014

Politische Integration oder neoliberale Agenda?

Europa nach der Europawahl

Vorab im Web - Die jüngste Direktwahl des Europäischen Parlaments Ende Mai 2014 hat stärkere Wirkungen entfaltet als alle ihre Vorgänger, vielleicht mit Ausnahme der ersten europäischen Direktwahl 1979. Zum ersten Mal in der Geschichte der friedlich verhandelten Vereinigung Europas hat die Wahl direkt, unmittelbar und mit Kraft in das politische Machtzentrum gewirkt. Eine Analyse von Oliver Schmidt.

Eine Reihe von Kommentatoren teilt diese Einschätzung nicht. Einerseits wird argumentiert, dass das Machtgerangel – oder auch der Machtkampf; doch wird dieser Begriff im EU-Zusammenhang oft unscharf verwendet, als ob es eine Feindlichkeit entlang nationaler Linien gäbe – wie üblich im Europäischen Rat, also zwischen den Regierungschefs, stattfinde und dass einzelne Regierungschefs, insbesondere Angela Merkel, hier mehr oder weniger ihre persönliche Machtposition ausfeilten. Andererseits wird argumentiert, dass formal ja die Entscheidung ohnehin wie üblich beim Europäischen Rat liege und es sich bei den sog. Spitzenkandidaten um eine Art Luftnummer handele, welche auf keiner formell-vertraglichen Grundlage beruhe.

● Wahlsysteme in Europa

Beide Argumentationen arbeiten sich implizit an dem ‚Idealfall‘ ab, in dem ein Spitzenkandidat für ein exekutives Amt von der Mehrheit der Wähler in dasselbe eingesetzt wird. Das ist etwa beim französischen Präsidenten der Fall. Aber schon die deutsche Kanzlerin wird nicht auf diesem Wege gewählt, ebenso wenig wie der spanische oder der italienische Ministerpräsident. All diese werden von ihren jeweiligen Parlamentsmehrheiten gewählt. Übrigens sind die Mehrzahl der nord- und westeuropäischen Länder parlamentarische Demokratien, während wir in Ost- und Südosteuropa häufiger gemischte präsidial-parlamentarische Demokratien finden, welche dem französischen ‘Modell’ ähneln.

Der Unterschied zwischen diesen liegt vornehmlich im Wahlrecht und in der damit eng verbundenen Verfassung der Parteien:

* Großbritannien hat ein striktes Mehrheitswahlrecht, welches gewöhnlich einer von zwei großen Parteien eine klare Mehrheit beschert. Daher ist die britische Parlamentswahl fast immer gleichbedeutend mit der Wahl des Vorsitzenden einer dieser beiden Parteien zum Premierminister; und daher ist der Vorsitzende (mit Ausnahme Margret Thatchers gab es bisher nie eine weibliche Vorsitzende) auch immer gleich dem Spitzenkandidaten. Und da es üblicherweise keine Koalitionsverhandlungen gibt, ist der Wahlsieger zumeist am nächsten Tag der Premierminister.

* Fast alle anderen Länder haben eine Form des Mehrheitswahlrechts; Parlamentsmehrheiten hängen von Koalitionsverhandlungen ab. Parteien mögen Spitzenkandidaten präsentieren, und sie tun das mehr und mehr, weil es ihre Chancen auf Medienresonanz erhöht. Das Maß dieser Projektion variiert von Land zu Land: In Spanien ist es relativ stabiler Bestandteil der Nach-Franco-Demokratie. In Deutschland variiert es ein wenig über die Zeit (Spitzenkandidat Schröder stürzte Parteichef Lafontaine; die Spitzenkandidaten Stoiber und Steinbrück verschwanden in der Versenkung, ebenso wie Spitzenkandidat Beckstein in Bayern [dessen Partei immerhin mit Abstand die meisten Stimmen erhalten hatte], in Hessen manövrierte Wahlverlierer Koch die Fast-Wahlsiegerin Ypsilanti aus; ebenso wie in NRW die Wahlverliererin Kraft den Fast-Wahlsieger Rüttgers). In Italien ist es fast die Ausnahme, weil die meisten Koalitionen nicht von einer Wahl bis zur nächsten halten; und weil in Italien die zweite Parlamentskammer eine relativ stärkere Stellung hat als in den meisten anderen Ländern (wie sähe etwa die deutsche Regierungsbildung aus, wenn die Kanzlerin eine Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat erhalten müsste, um ins Amt zu gelangen?).

Wenn man dieses Spektrum zugrunde legt, dann ist die europäische Union eher in der Nähe Italiens angesiedelt: Ein Parlament mit einer Vielzahl von Parteien (welche oft nicht besonders stabil sind) und eine exekutive Führung, welche von zwei Kammern gewählt werden muss, in denen unterschiedliche Mehrheiten vorherrschen. Entsprechend ähnelt die Besetzung der exekutiven Führung eher einer italienischen Koalitionsbildung als einer deutschen, und es ist unsinnig, sie mit einer britischen zu vergleichen – genauso wenig, wie man aus dem Vergleich der britischen und italienischen Regierungsbildung besonders relevante Schlüsse über die Tiefe oder Breite deren demokratischer Verfassung ziehen kann.

● Europaparlament versus nationale Regierungen?

Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied zwischen dem EU-Parlament und dem britischen oder dem italienischen Parlament. Letztere sind festgefügt in ein in vielen Jahren, im britischen Fall in Jahrhunderten, gewachsenes institutionelles Gefüge – die Rolle des Parlaments ist klar relativ zur Rolle anderer Organe wie Regierung, Präsident etc. Aber auch die Verhaltensmuster und generellen Vorstellungen über die ‘Spielregeln’ (die politische Kultur) sind sehr kohärent unter fast allen Beteiligten (Politikern und Wählern). U. a. deshalb wurde David Cameron Premierminister und ist es noch immer, obwohl es bei der letzten Wahl eine Mehrheit gegen ihn gab – aber eine Koalitionsbildung gegen die größte Partei, welche nur knapp die Parlamentsmehrheit verfehlte, ist in der britischen politischen Kultur nicht verankert. In der italienischen politischen Kultur scheint es fast umgekehrt zu sein – Schachern und Koalitionswechsel der kleineren gegen die größeren Parteien ist nahe dem Herzen der italienischen Politikkultur. Die letzten 20 Jahre sind von verschiedenen Anläufen geprägt, diese Kultur ‘zum alten Eisen zu werfen’ (so Ministerpräsident Renzi jüngst in der Süddeutschen Zeitung), aber sie hat sich bisher als extreme veränderungsresistent erwiesen.

Das institutionelle Gefüge der EU und die politische Kultur im Europaparlament und zwischen den EU-Organen sind dagegen ganz und gar nicht festgefügt, sondern im Wandel begriffen. Aus Sicht des EU-Organs Parlament ist die unterschriebene Erzählung die des Kampfes des Parlaments als Stimme des Volkes gegen die nationalen Regierungen als Stimme der Bürokraten und Nationalegoismen. Ironischerweise ist das die Erzählung des britischen Parlamentes, welches sich (über Jahrhunderte) gegen Adel und Kirche durchgesetzt hat. Während sich Adel und Kirche allerdings auf Gott beriefen, berufen sich die nationalen Regierungen heute auf genau dasselbe Volk, von dem sie gewählt sind. Sie verweisen darauf, dass sie jeweils höhere Anteile von WählerInnen auf sich vereinen als das Europäische Parlament – zwar wurde 2014 der Trend sinkender Wahlbeteiligung zum EU-Parlament gebrochen, aber die Stabilisierung auf niedrigem Niveau (43%) ist zu einem großen Teil den Parteien zu verdanken, die dagegen sind, dass Europas Völker im Europaparlament eine geeinte Stimme haben sollten.

Institutioneller Wandel ist politischer Natur, und er spielt sich damit jenseits der formellen Festlegungen ab. Darauf hat Jürgen Habermas (in der FAZ vom 30.5.2014) hingewiesen. Zugleich hat er als ‘wichtigster deutscher Philosoph und Soziologe‘ (Greven) in eben diesen Prozess eingegriffen, als er formulierte, dass der Vorschlag eines anderen als der beiden Spitzenkandidaten (der Konservative Jean-Claude Juncker und der Sozialdemokrat Martin Schulz) „das europäische Projekt ins Herz treffen“ würde und einem „Akt mutwilliger Zerstörung“ gleichkäme. Greven formulierte (in der ZEIT vom 5.6.2014) eine buchhalterisch-formalistische Kritik an Habermas’ Analyse des europäischen politisch-kulturellen Prozesses inmitten massiver wirtschaftlicher und geo-politischer Veränderungen. Grevens Argument ist zweifellos auf der sicheren Seite, wie korrekt geführte Bücher zu sein pflegen. Aber man muss nicht Habermas sein, um zu erkennen, dass Politik mehr ist als die Anwendung von existierenden Formalitäten – ebenso wie jede Organisation mehr ist als ihre Bücher und Bilanzen.

● Spannendes Europa und unkonventionelle EZB

Europa ist so spannend wie lange nicht – auch, aber nicht nur, weil Wladimir Putin es an seine geo-politische Dimension erinnert hat (gemeinhin als Ukraine-Krise diskutiert), die zwar beeinflusst, aber jenseits der wirtschaftspolitischen Krise liegt, welche die EU seit 2010 vornehmlich beschäftigt. Es ist schade, dass nur eine Minderheit aller EU-BürgerInnen, und auch kaum die Hälfte aller Deutschen, ihre Chance wahrgenommen hat, auf diesen spannenden Prozess Einfluss zu nehmen. Aber das macht es nicht weniger spannend, eher mehr – siehe die Legitimitätsargumente zwischen nationalen Regierungen und europäischem Parlament.

Kaum zwei Wochen nach der Wahl hat das Europäische Parlament unverhofft, vielleicht ungewollt, Unterstützung erhalten von der Europäischen Zentralbank (EZB). Es fällt schwer, die jüngsten geldpolitischen Entscheidungen der EZB-Führung nicht auch als Antwort auf das Ergebnis der Europawahl zu deuten – wiewohl die Grevens dieser Welt natürlich korrekt darauf bestehen werden, dass die EZB formell unabhängig ist von allen anderen. Nichtsdestotrotz hat sie genau zu diesem Zeitpunkt, zu dem die Kritiker (radikale wie gemäßigte) der Austeritätspolitik in vielen Ländern starke Wahlergebnisse erzielt haben, ihre Politik noch einmal bestätigt und verstärkt, auf wirtschaftliche Wachstumsimpulse (oder zumindest Lockerung von Wachstumsbremsen) zu zielen. Diese Geldpolitik geht zulasten der Geldsparer und hat ein gewisses Risiko für die Geldwertstabilität in Teilen des Euro-Raumes (etwa in Deutschland). Dabei ist euroweit allerdings die Deflation die größte Bedrohung, welche die EZB beschäftigt.

Es gibt also ein fast unübersehbares Knäuel von Interessen und Politikvorstellungen, welches unentwirrbar bleiben wird: Nationale Regierungen und Regierungskoalitionen; konservative, liberale, sozialdemokratische und andere linke Politiken; fiskalstarke (tendenziell im Norden) und fiskalschwache (tendenziell im Süden) Regionen, Euro- und Nicht-Euro-Länder, EU-Staaten, welche Russland eher als Bedrohung sehen (tendenziell in Ost- und Südost-Europa) und EU-Staaten, welche Russland eher als Handels- und Geopolitik-Partner sehen (tendenziell Deutschland, Frankreich, Großbritanien); und ‘last but not least’ Befürworter einer umfassenderen politischen Integration Europas und Befürworter eines Stopps und/oder Rückschnitts politischer Integration. Zwar sind erstere tendenziell vertreten durch das EU-Parlament und dessen Anspruch auf Einfluss auf die Exekutive, dieser Tage verkörpert in den Spitzenkandidaten aus der letzten Europawahl. Im Europaparlament ist aber eben rund ein Viertel der Abgeordneten Gruppen zuzuordnen, die fortschreitende politische Integration vehementer ablehnen, als es die im Europäischen Rat vereinten Regierungen in verschiedenen Schattierungen tun.

● Neoliberale Agenda trotz Juncker?

Wie wird das Spiel weitergehen? Das extremste Szenario wäre ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU – wirtschafts- und sozialpolitisch mag das vielen Linken wünschenswert erscheinen. Es ist völlig unklar, welche kurz- und mittelfristigen Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft und das europäische Finanzsystem sowie das Gefüge der zwischenstaatlichen Beziehungen dieser Schritt hätte. Linke mögen auf weniger Freihandel und mehr sozialstaatliche Integration hoffen; aber es ist ebenso gut möglich, dass irgendein anderes Ergebnis herauskommt, insbesondere ein wesentlich fragmentierteres Europa, welches in seinem wirtschaftlichen und institutionellen Wettbewerb neoliberalen Vorstellungen näher sein könnte als linken.

Als wahrscheinlichstes Szenario bildet sich derzeit heraus, dass Jean-Claude Juncker EU-Kommissionspräsident werden wird; er wird einer Kommission vorstehen, in der Großbritannien ein schwergewichtiges Ressort besetzen wird, etwa Außenhandel oder Binnenmarkt, um eine freihändlerisch-neoliberale Politik voranzutreiben. Die deutschen Konservativen werden sich wahrscheinlich durchsetzen, den deutschen Kommissarsposten weiterhin mit Günther Öttinger zu besetzen, wahrscheinlich weiterhin Energie oder ein vergleichbares Ressort, in welchem eine vergleichbare Politik verfolgt werden kann.

Mit Blick auf die Fiskalpolitik kann immerhin damit gerechnet werden, dass die EU-Kommission eine (weitere) Abkehr von der Austeritätspolitik einfädeln wird, mit Programmen etwa gegen Jugendarbeitslosigkeit, mehr Bildung, verbesserte (IT-)Infrastruktur, vor allem in Süd, Südost- und Osteuropa. Im schlechtesten Falle könnten diese mit steigenden Militärausgaben der östlichen und der größeren EU-Staaten zusammenfallen – in Reaktion auf die Ukraine-Krise. Das würde zwar zu keynesianischem Wirtschaftswachstum führen, wäre aber insgesamt eine ganz unerfreuliche Entwicklung mit vielen langfristigen Nachteilen (für alle Beteiligten, also sowohl die EU als auch Russland).

Das Nachsehen werden die Sozialdemokraten haben. Falls nicht eine der sozialdemokratischen Regierungen – Italien, Frankreich oder Dänemark etwa – einen prominenten Kopf nominiert, wird Europa einmal mehr von Konservativen und ihren Politiken geprägt werden.

Aus linker Sicht besteht das große Risiko, dass sich ein Kommissionspräsident Juncker als Pyrrhussieg erweisen könnte. Er würde im Namen auch der gemäßigten (integrationsorientierten) Linken Gesicht eines vermeintlich gestärkten EU-Parlaments sein. Aber er würde einer Kommission vorstehen, welche in ihren Kern-Machtbereichen Handel und Binnenmarkt eine neoliberale Agenda vorantreibt; auch gegen eine (vermutliche) Mehrheit im EU-Parlament. Zugleich würde diese Kommission auf Initiativen im Bereich der Sozialpolitik weitgehend verzichten. Für die linke Wählerschaft wären es aber solche Initiativen; etwa EU-weite Mindeststandards bei Entlohnung und Arbeitslosenunterstützung und Schutz vor Altersarmut, welche sie für die europäische (Einigungs-)Sache mobilisieren könnte.

Posted: 9.6.2014

Empfohlene Zitierweise:
Oliver Schmidt, Politische Integration oder neoliberale Agenda?, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 9. Juni 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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