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Samir Amins neuer Marxismus

Artikel-Nr.: DE20180903-Art.14-2018

Samir Amins neuer Marxismus

Nachruf auf einen großen Theoretiker

Mit Samir Amin verstarb am 12. August 2018 einer der großen Theoretiker des kapitalistischen Weltsystems, der Renaissance des Marxismus im Anschluss an die gesellschaftliche Krise am Ende des Zweiten Weltkriegs und des Kolonialsystems. Amin war der hervorragendste Vertreter des wissenschaftlichen Marxismus nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Er war Mentor und Motor der idealistischen Promotoren des Entkolonisierungsprozesses im Süden. Und doch dokumentiert er wie kein anderer die Grenzen der Marx‘schen Theorie, schreibt Hartmut Elsenhans.

Über den Widerstand von Intellektuellen und Studenten gegen die Kolonialkriege, ähnlich wie später in den USA im Widerstand gegen den Vietnamkrieg, war eine soziale Kraft unter der Jugend entstanden, die die autoritären Strukturen bürgerlicher Herrschaft in Politik, Gesellschaft, selbst im Privatleben, abschüttelte. Sie glaubte mit der Zertrümmerung dieser Strukturen und Einstellungen den Kapitalismus zu zertrümmern und zertrümmern zu müssen. Eine Welt, in der Kapitalisten wirtschaftlich reich und bestimmend waren, die aber von vielen vorkapitalistischen und nichtkapitalistischen Einstellungen geprägt war, wurde durch die Krise der Entkolonisierung entlegitimiert. Die Übernahme (1959) des französischen Studentenverbands, 1955 noch Verfechter des Kolonialismus, durch eine zunächst nur als Minderheit wahrnehmbare progressive Studentenschaft beschreibt diesen Weg.

● Ein neuer Marxismus

Ein solcher gesellschaftlicher Wandel braucht Rechtfertigungen und Erklärungsmodelle. Ein neuer Marxismus, der mit den verknöcherten Vorstellungen des Sowjetmarxismus brach und dabei zunächst vielleicht nicht offen, aber doch tatsächlich den Mythos der Progressivität der Arbeiterklasse infrage stellte, erfüllte diese Aufgabe.

In der vergleichenden Sicht auch auf seine Zeitgenossen unterscheidet sich Amin von jenen in dreifacher Hinsicht:
* Keiner ist vergleichbar offen für empirische Befunde und hat vergleichbar intensive Feldforschung betrieben.
* Keiner ist vergleichbar offen für die Bedeutung innergesellschaftlicher Zusammenhänge trotz der auch bei Amin starken Betonung externer Faktoren und der Konzentration auf die historische Entwicklung der Entfaltung von Widersprüchen innerhalb von kapitalistischen Wirtschaften, die den roten Faden der von ihm gezeichneten historischen Entwicklung darstellen.
* Keiner seiner Zeitgenossen hat mit größerer Virtuosität die Marx‘sche Theorie auf empirische Angemessenheit überprüft und den empirischen Entwicklungen und den theoretischen Herausforderungen konkurrierende Einsätze angepasst.

Gleichwohl ist Samir Arnim in diesem Unterfangen einer Modernisierung des Marxismus wenigstens teilweise gescheitert. Es gelang ihm nicht, die in den Mittelpunkt seiner Argumentation gestellten Theorien für – Immanuel Wallerstein würde sagen: antisystemische – Widerstandsbewegungen nutzbar zu machen. Er blieb eine Referenz der im Kern westlich orientierten „Evolués“, kleinbürgerlicher Intellektueller.

● Empirisch solide, theoretisch innovativ

Samir Amin brachte für sein wissenschaftliches Projekt die Vertrautheit mit unterentwickelten Wirtschaftsstrukturen aus der Anschauung seiner ägyptischen Heimat mit, konnte dies mit der Blüte marxistischen Denkens im Nachkriegsfrankreich der Entkolonisierungsperiode verbinden, in der das kommunistische Erbe der Resistance mit antikolonialistischem Widerstand der Jugend in Dialog trat. Die Offenheit der französischen Universität für auch für heterodoxe Theorien hatte spiegelbildlich zur Folge, dass auch Samir Amin sich mit nichtmarxistischen Ansätzen differenziert auseinander setzte und dabei in seinem marxistischen Ansatz an Differenziertheit gewann.

Die Kommentatoren haben häufig seine empirischen Arbeiten zu Wirtschaften und Gesellschaften insbesondere des schwarzafrikanischen Westens wenig gewürdigt. Gleichwohl sind diese Arbeiten nicht nur handwerklich solide, anders als die Ausführung vieler mit ihm konkurrierender linker Theoretiker, sondern auch theoretisch innovativ. Es geht um die Frage, weshalb trotz vorhandener finanzieller Ressourcen der Prozess des Wirtschaftswachstums nicht vorankommt. Amin glaubt wie viele der Dependencia-Theoretiker, dass die ursprüngliche Akkumulation im Süden auch durch Abzug finanzieller Ressourcen durch den Norden erschwert wurde. Gleichwohl betont er auch die internen Blockierungen im Verhalten und dem Bereicherungsdrang der Bourgeoisien. Selbst wenn er dazu neigt, diese Blockierungen auf frühere Phasen kapitalistischer ungleicher Spezialisierung und Ausbeutung zurückzuführen, sieht er, dass das eigentliche Problem darin besteht, zu erklären, warum in wenigen Gebieten der Welt die „Reichen“ oder „Feudalen“ nicht zur Vergeudung von gesellschaftlichem Mehrprodukt zurückkehren konnten, wie sie dies seit Jahrtausenden auf allen Kontinenten der Welt in allen Kulturen getan hatten. Weil er Kapitalismus als Resultat von Kapitalakkumulation und nicht von Widerstand von unten begreift, bleibt nur der Ausweg, für Europas Rückständigkeit die Zersetzung vorkapitalistischer Strukturen heranzuziehen, die in den sehr viel entwickelteren tributären Produktionsweisen Asiens erhalten geblieben waren.

Mit der Trennung der vorkapitalistische Produktionsweisen in eine Nebenlinie, dem Feudalismus, und einer Hauptlinie, der glänzenden Zivilisationen Asiens und Nordafrikas, hat er gleichwohl der europäischen Vorgeschichte des Übergangs zu Industrialisierung und Kapitalismus eine bedeutsame weitere Dimension hinzugefügt.

● Abkoppelung und autozentrierte Entwicklung

Über die gesamte Dauer seines wissenschaftlichen Wirkens verfolgte Amin die Ableitung der Unterentwicklung aus den internationalen Zusammenhängen, in denen auf die Metropolen gestütztes Kapital gegenüber der Peripherie ein nicht begrenzbares Interesse an Kapitalakkumulation und damit Steigerung von Ausbeutung durchsetzen kann, eventuell gemildert durch langfristige politische Überlegungen. Diese Ausbeutung hat als Nebeneffekt strukturelle Heterogenität, weil sie das Aufholen der Peripherie durch Mangel an finanziellen Ressourcen für produktive Investitionen behindert. Als Lösung ergeben sich damit die Abkoppelung und der Übergang zu autozentrierter Entwicklung.

Autozentrierte Entwicklung ist ein wenig präziser Begriff, weil es dazu je nach Konfiguration der Strukturdefekte unterentwickelter Wirtschaften unterschiedlicher Maßnahmen bedarf. Gemeinsam ist aber die Abschirmung des lokalen Preissystems gegenüber dem Weltmarktpreissystem, was nur sinnvoll ist, wenn dezentrale Investoren über Preissignale zu privaten Investitionen animiert werden sollen. Es geht also um eine Abschirmung nationaler Märkte zur Überwindung der bisherigen ungleichen Spezialisierung. Das impliziert ganz im List‘schen Sinne kurzfristig höhere Preise für sonst vom Weltmarkt bezogene Produkte, wenn damit langfristige Strukturveränderungen bewirkt werden.

Der Umsteuerungsprozess hängt also nicht von einer maximalen Konzentration von Profiten ab. Bei dieser Umsteuerung kommt dem Massenkonsum eine große Bedeutung zu. Zu erklären ist, wie Massenkonsum im zentralen Kapitalismus Profitabilität sichern konnte, wenn der sozialdemokratische Kompromiss erst nach 1945 von Amin beobachtet wird. Die Vergrößerung der Spielräume im Zentrum durch Ausbeutung der Peripherie kann zumindest für Japan und Deutschland, wie Amin einräumt, nicht gelten. Höherer Massenkonsum muss deshalb mit Profit kompatibel sein und muss, angesichts der auch im Falle einer solchen Umsteuerung stark ungleichen Gesellschaftsstrukturen politisch von irgendwelchen Kräften durchgesetzt werden. Hier liegt die Attraktivität der Theorie für das besitzlose gebildete Kleinbürgertum, die Intellektuellen in der Peripherie.

Weil Arbeit keine aktive Rolle bei der Durchsetzung von Kapitalismus zugebilligt wird, kann nicht gesehen werden, dass die Homogenisierung der Produktivität nach Produktionszweigen, die trotz höchst unterschiedlichen Produktivitätswachstums sich durchsetzt, eben Folge von Knappheit von Arbeitskräften ist. Sind Arbeitskräfte knapp, werden sie ganz im Sinne von Marx nicht nach der Produktivität, sondern nach der Intensität der Arbeit, also nach der physischen und psychischen Arbeitsbelastung bezahlt. Bei hoher Beschäftigung müssen Branchen mit unterschiedlichem Produktivitätsanstieg gleiche Löhne für vergleichbar belastende Arbeit bezahlen und können dies ganz im Sinne von Marx als Arbeitswert auf die Preise abwälzen. Die Homogenität der Faktorproduktivitäten ist Ausdruck der Knappheit von Arbeitskräften und der damit von Arbeit errungenen Widerstandsmöglichkeiten.

Für diese Umstrukturierung bedarf es der Artikulation zwischen Ökonomie und politischem System. Amin hat früh gesehen, dass die Bürokratien des Südens nicht sozialistisch orientiert sind, sondern eher Ressourcen vergeuden und Herrschaft korrupt organisieren. Von ihnen kann also der Impuls auf Veränderungen nicht kommen.

● An den Grenzen der Marx’schen Theorie

Amin kommt mit seiner Theorie über strukturelle Homogenität und Massenkonsum an die Grenzen der Marx‘schen Theorie, will diese aber nicht überschreiten. Erst sehr spät erkennt er, dass wegen des sinkenden Kapitalkoeffizienten Kapitalismus gar nicht der Maximierung des Profits bedarf. Er beschränkt dies auf die letzten Jahrzehnte, obwohl historisch der Anteil der Kapitalakkumulation am Volkseinkommen sehr bald nicht gestiegen ist und das Verhältnis zwischen akkumuliertem Kapital und Produktionsausstoß gleich blieb. Der Wert des eingesetzten Kapitals stieg nur noch entsprechend der steigenden Reallöhne (teurere Arbeiter produzieren in der gleichen Arbeitszeit, Arbeitswert, preislich teurere Maschinen).

Diese wesentlich keynesianischen Einsichten stellen exzellente Öffnungen der Theorie bei Amin dar. Sie werden aber nicht für eine Theorie der Akkumulation im Weltmaßstab genutzt.

Amin hat die keynesianischen Positionen seiner ursprünglichen Theorieformulierungen nicht wirklich ausgebaut. Daraus ergaben sich zwei Probleme: eine Tendenz zur impliziten Hinwendung zum “cultural turn“ in der Sozialwissenschaft und die Unfähigkeit zur Bewertung der Erfolge eines Teils des Südens bei der aufholenden Industrialisierung über den Export verarbeiteter Produkte.

Die welthistorische Konfiguration im Werk der letzten zwei Jahrzehnte konzentriert sich auf eine moralisierende Kritik des Imperialismus, insbesondere der Vereinigten Staaten, einer beschränkten Hoffnung auf Ressourcen kulturellen Widerstands in Frankreich, wie sie allenthalben in unserem Nachbarland gehegt wird, und einer sehr anekdotischen Beschreibung der alten Zivilisationen, hier insbesondere Ägyptens und Chinas.

Aufstieg trotz ungleichen Tauschs

Die außereuropäische Welt wurde trotz ihrer kulturellen Brillanz in ihrer Entwicklung behindert, weil sie ausgebeutet wurde, auch über ungleichen Tausch. Die Ursachen ihrer Krise und ihres Niedergangs sind damit extern und nicht den inneren Strukturen der tributären Produktionsweisen geschuldet. Sie stehen viel makelloser in ihrer kulturellen Leistung dar, als dies eine kritische Sozialforschung hinnehmen müsste. Das alte Ägypten wird als Beispiel dafür genommen, um ihr rationale Herrschaftsstrukturen nahezu à la Weber zuzuschreiben, indem aus dem persönlichen Verhalten der Bürokraten im alten Ägypten geschlossen wird, dass es hier keine paternalistischen Strukturen gegeben habe.

Alle Theorien der Konfigurierung sozialen Verhaltens in durch Renten bestimmten Gesellschaften zeigen aber, dass – abhängig von internen Machtstrukturen – diese entweder paternalistisch oder weniger paternalistisch sind. Ebenso wird für die chinesische Welt die Offenheit nach unten behauptet, obwohl die chinesische Forschung im Wesentlichen die Zirkulation von Spitzenpositionen innerhalb der privilegierten Klasse, die im Westen Gentry genannt wird, herausgearbeitet hat. Erklärbar ist diese Wahrnehmung nichtkapitalistischer Strukturen durch die im Spätwerk bestimmende Vision einer Zukunftsgesellschaft, die nicht vom Wertgesetz, also vom Austausch gleicher Arbeitswerte, und damit letztlich von der fundamentalen Gleichheit der Produzenten ausgeht. Gleichzeitig verspricht diese Wahrnehmung der nichteuropäischen Kulturen die Möglichkeit eines eigenen Wegs zur Moderne, die wesentliche Errungenschaften der europäischen bürgerlichen Revolutionen durchaus einschließt.

Amins Analyse des Kapitalismus erwies sich bei der Beurteilung der Veränderungen von 1989 als wenig durchschlagend: den Aufstieg der neuen Industrieländer in enger Spezialisierung gegenüber dem dominanten kapitalistischen Westen, ohne Aufgabe langfristiger Ziele einer umfassenden, nicht mehr abhängigen Entwicklung hat er nicht für möglich gehalten. Für Amin war der Übergang zur exportorientierten Industrialisierung letztlich einer Verschwörung von Eliten geschuldet, nicht zwangsläufige Folge der tiefen Krise, die die Staatsklassen wegen ihres Selbstprivilegierungsinteresses ausgelöst haben. Die exportorientierte Industrialisierung habe die Reservearmee der Arbeit vergrößert, angesichts der Arbeitskräfteknappheit in den Ostprovinzen Chinas heute eine schwer zu verteidigende These, die Amin in Bezug auf Korea und Taiwan schon von Anfang an relativiert hat. Die Vermutung hat sich nicht bestätigt, dass diese Ökonomien nicht zu umfassender Entwicklung fähig sein würden. Der Vormarsch Chinas in der Weltwirtschaft lässt sich mit den Amin‘schen Theorien nicht erklären, insbesondere weil China massiv durch Unterbewertung seiner Währung ungleichen Tausch hinnimmt, sogar als Instrument der Entwicklung nutzt.

● Eine hoch respektable Utopie

Die Grenzen der Erklärungskraft des Amin‘schen Ansatzes sind nicht primär dem Autor zuzurechnen. Amin bleibt der hervorragendste Vertreter der Renaissance des wissenschaftlichen Marxismus nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Er ist der Mentor und Motor der idealistischen Promotoren des Entkolonisierungsprozesses im Süden geblieben, die mit der Entkolonisierung die Übernahme der rationalistischen Werte des Westens verbunden haben.

Amin dokumentiert aber wie kein anderer dieser Autoren gerade wegen der Widersprüche, in die er gerät, die Grenzen der Marx‘schen Theorie. Obwohl er die Rolle des Massenkonsums, später auch die Begrenztheit des Kapitalbedarfs für kapitalistisches Wachstum und letztlich auch die Bedeutung des Marktes bei der Umstrukturierung einer unterentwickelten Wirtschaft gesehen hat, hat er sich nicht entschließen können, das Szenario einer durch den Kapitalismus zwangsläufig sich selbst zerstörenden Welt aufzugeben. Entscheidend ist aber nicht der Bruch mit dem Kapitalismus, sondern die Nutzung seiner Instrumente für Ziele der breiten Masse der Bevölkerung.

Amin hat von allen Vertretern der marxistischen Erneuerung nach dem Zweiten Weltkrieg die größte Aufmerksamkeit gegenüber solchen Realitäten gezeigt. Er blieb aber der Marx‘schen Theorie treu, wahrscheinlich auch deshalb, weil sich über den Erfolg der Amin‘schen Theorie ein Änderungen blockierendes Feedback mit seinem Publikum ergeben hat.

Vielleicht war ihm auch die Welt zuwider, die sich ergeben muss, wenn im Zentrum der sozialen Dynamik die Auseinandersetzung um die Aufteilung der Einkommen steht, eine banausenhafte, kulturlose Welt im Vergleich zum Glanz der vergangenen alten Produktionsweisen. Insofern ist die Vision von einer vom Wertgesetz freien Gesellschaft eine hoch respektable Utopie, aber über den Kern einer eher bürgerlichen Mittelschicht hinaus schwer vermittelbar. Amin spiegelt hier wider, dass die marxistische Renaissance von 1955 in ihrer Struktur neuhegelianisch, also letztlich unpraktisch war.

Prof. Dr. Hartmut Elsenhans war Hochschullehrer für Internationale Beziehungen an der Universität Leipzig. Er gilt als Begründer der Staatsklassen-Theorie und Theoretiker des globalen Keynesianismus.

Posted: 3.9.2018

Empfohlene Zitierweise:
Hartmut Elsenhans: Samir Amins neuer Marxismus. Nachruf auf einen großen Theoretiker, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 3. September 2018 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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