Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Schlag gegen den "sanften Reformismus"

Artikel-Nr.: DE20161009-Art.22-2016

Schlag gegen den "sanften Reformismus"

Der institutionelle Putsch in Brasilien

Vorab im Web - Sehr rasch nach der Amtsenthebung der Staatspräsidentin Dilma Rousseff am 31. August wurde deutlich, dass es der brasilianischen Rechten nicht um eine Beendigung der Korruption ging, sondern um die Beendigung der Politik des „sanften Reformismus“, wie der Politologe und frühere Sprecher Lulas, André Singer, die Politik der begrenzten Akzentverschiebung in der Wirtschaftspolitik und Umverteilung der vom Partido dos Trabalhadores (PT) geführten Regierungen kennzeichnete. Von Joachim Becker.

Gegen Dilma Rousseff selbst wurde nie der Vorwurf der Korruption erhoben. Vielmehr warfen ihr ihre Gegner Trickserei bei den Budgetzahlen vor. Rechtlich waren die Vorwürfe mehr als dünn. Dessen waren sich auch die Abgeordneten bewusst, die für ihre Amtsenthebung stimmten. Eine ausreichende Stimmenzahl für die eigentlich mit der Amtsenthebung verbundene achtjährige Sperre, ein öffentliches Amt zu bekleiden, kam nicht zustande. Kurz nach der Absetzung Rousseffs legalisierte der brasilianische Kongress die Praktiken, wegen derer sie Rousseff aus dem Amt entfernt hatten.

● Stimmungsmache über Korruptionsvorwürfe

Öffentliche Stimmung gegen den PT wurde mit Korruptionsanschuldigungen gemacht, in deren Zentrum der teilstaatliche Ölkonzern Petrobras steht. Die Justiz ermittelte mit besonderer Publizität gegen Funktionäre des PT. Aber die Ermittlungen betrafen und betreffen auch zahlreiche Politiker anderer Parteien. Dem Hauptbetreiber der Absetzung Rousseffs im Kongress, dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Eduardo Cunha vom früheren Koalitionspartner Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB), der mit schweren Korruptionsvorwürfen belastet ist, wurde inzwischen das Mandat entzogen. Ihm droht wohl tatsächlich eine Verurteilung. Ansonsten ist die Regierung von Rousseffs früherem Vize-Präsidenten Michel Temer (PMDB) bestrebt, die Korruptionsverfahren einschlafen zu lassen. Illegale Parteienfinanzierung soll, sofern sie nicht zu persönlicher Bereicherung geführt hat, als Kavaliersdelikt behandelt werden.

In den letzten Wochen ist zunehmend deutlich geworden, dass eine Beendigung der Korruptionsermittlungen, zumindest gegen die eigenen Leute, zu den Antriebsmotoren des „institutionellen Staatsstreiches“ gegen Rousseff gehörte. Dies bedeutet allerdings nicht das Ende aller Ermittlungen. Der frühere Staatspräsident Inácio Lula da Silva (PT), der für die Rechte bei kommenden Präsidentschaftswahlen eine große Gefahr darstellt, sieht sich hingegen weiter staatsanwaltlichen Ermittlungen ausgesetzt. Die brasilianische Justiz hat sich stark in den Dienst der politischen Rechten gestellt, allerdings war auch die Rechte nicht völlig vor Ermittlungen geschützt.

● Strukturelle und konjunkturelle Schwächen des PT

Die brasilianische Rechte, vor allem der Partido da Socialdemocracia Brasileira (PSDB), hatte sich 2014 nicht mit ihrer vierten Niederlage in Präsidentschaftswahlen in Folge abgefunden. Aus den gleichzeitigen Kongresswahlen war die politische Rechte deutlich gestärkt hervorgegangen. Zwar ging der PMDB erneut eine Koalition mit dem PT ein, ein Teil des PMDB ging jedoch faktisch in die Opposition. Damit waren der PT und ihre kleinen linken Verbündeten im Parlament in einer sehr schwachen Position. Eine Reform des institutionell korrupten parlamentarischen Systems ist der PT nie ernstlich angegangen, was sich in der gegenwärtigen Krise gerächt hat.

Institutionell konnte sich die Rechte zudem stark auf die Justiz und die großen Massenmedien, wie beispielsweise die Globo-Gruppe, stützen. Auch hier hat sich der PT wenig initiativ gezeigt. Allerdings ist in Rechnung zu stellen, dass die politischen Handlungsspielräume des PT durch seine durchgängig minoritäre Präsenz im Parlament empfindlich eingeschränkt waren.

Durch die sich verschlechternde Wirtschaftslage mit einem BIP-Rückgang von 3,8% im Jahr 2015 und einer sich auch 2016 fortsetzenden Rezession verlor der PT auch an Verteilungsspielräumen und sozialem Rückhalt. Fallende Rohstoffpreise brachen die Exportdynamik, die stark gestiegene Verschuldung von Privathaushalten und niedrige Investitionen bremsten die Binnenkonjunktur.

Die politische Mobilisierungsfähigkeit des PT ist in den langen Regierungsjahren deutlich zurückgegangen. Teils verschärften die Einkommenssteigerungen während der PT-Jahre auch bestehende Probleme. Höhere Einkommen führten zu noch stärkerer Automobilisierung und zur Überlastung des Verkehrssystems. So waren dann 2013 auch Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr Anlass für eine Protestwelle. Diese wurde zunehmend von der oberen Mittelschicht und der politischen Rechten vereinnahmt und in einen Protest gegen die Regierung transformiert. Dies war ein erstes starkes Warnzeichen an den PT.

● Offensive von Kapital und oberer Mittelschicht

Zentraler Anlass für den zunehmend konfliktiven Kurs des Kapitals gegen die Regierung Rousseff war deren zeitweiliger Versuch, über Zinssenkungen die Wirtschaft zu stabilisieren, also eine klassisch keynesianische Maßnahme. In Brasilien sind allerdings extrem hohe Realzinsen seit Jahrzehnten grundlegender Bestandteil des Wirtschaftsmodells und eine lukrative Einnahmequelle speziell für größere Kapitalgruppen. Mit der zeitweiligen Zinssenkung war für sie die „rote Linie“ überschritten. Ein späteres Zurückweichen Rousseffs reparierte das Verhältnis nicht mehr.

Die obere Mittelschicht hat sich mit voller Wucht gegen die Politik der milden Umverteilung gestellt. Für sie sind selbst kleine Minderungen der sozialen Distanz zu niedrigeren Klassen inakzeptabel. Sie wollen soziale Räume wie Einkaufszentren nicht mit Ärmeren teilen. Höhere Mindestlöhne für ihre Hausangestellten empfinden sie als Zumutung. Quoten für Schwarze an den Universitäten waren ihnen genauso ein Graus, wie Aufklärung über Rassismus und Sexismus. Es ist kein Zufall, dass sich das Absetzungsverfahren ausgerechnet gegen die erste Präsidentin Brasiliens richtete.

Die obere Mittelschicht stellte in den letzten Monaten den Kern der sozialen Proteste gegen Rousseff. In Kapital und oberer Mittelschicht ist der soziale Kern der politischen Rechten zu sehen. Hierbei ist eine Radikalisierung nach rechts nicht zu übersehen. In der politischen Kampagne gegen Dilma Rousseff wurden auch Slogans der extremen Rechten sichtbar. So kam es teils zu offenen Verherrlichungen des Militärputsches von 1964. Die Bindungskraft des PSDB ist begrenzt, der PMDB ist ein amorphes Gebilde, das sich vor allem auf seine klientelistischen Netzwerke stützt. Die Legitimität und Akzeptanz der Regierung Temer sind schwach.

● Gegenreform und starke US-Orientierung unter Temer

Die Regierung Temer ist angetreten, um den „sanften Reformismus“ rückgängig zu machen. Einschnitte in der Sozialpolitik sind vorgesehen. Das Pensionsalter soll hochgesetzt werden. Und bereits im Frühjahr stellte Temer dem Privatsektor eine „größere Beteiligung bei Bau und Betreiben der Infrastruktur“ in Aussicht.

Der Bruch mit der Außenpolitik der PT-geführten Regierungen wurde sofort eingeleitet. Die Regierung Temer begibt sich außenpolitisch auf US-Kurs. Damit wendet sie sich von der PT-Politik ab, die auf eine stärkere Autonomie gegenüber den USA und eine Stärkung der Süd-Süd-Beziehungen, sowohl mit den anderen BRICS-Ländern als auch mit den südamerikanischen Nachbarn und den afrikanischen Ländern gesetzt hatte. Die brasilianische Regierung setzt auf eine verstärkte Freihandelsorientierung, speziell auf eine Annäherung an das US-geführte Projekt der Transpazifischen Partnerschaft, in die sich u.a. Chile, Peru und Mexiko eingegliedert haben. Diese Orientierung teilt sie mit der neu gewählten argentinischen Rechtsregierung. Eine Achse Brasilia-Buenos Aires, die um die paraguayische Regierung ergänzt wird, ist im Mercosur erkennbar. Diese drei Länder wandten sich gegen die anstehende venezolanische Präsidentschaft des Mercosur und sind auf einen Ausschluss Venezuelas orientiert. Dieser Achse schloss sich die uruguayische Linksregierung zunächst nicht an. Es kam sogar zu scharfen offenen Kontroversen zwischen den Regierungen Brasiliens und Uruguays. Mitte September stimmte die uruguayische Regierung einer Entfernung Venezuela von der zeitlich rotierenden Mercosur-Präsidentschaft dann doch zu, da sie andernfalls, wie der stellvertretende Außenminister José Luis Cancela erklärte, eine „völlige Lähmung“ des Mercosur befürchtete.

● Ausblick

Mit der starken Orientierung auf die USA sucht die Regierung ihre relativ schwache innere Position außenpolitisch zu stärken. Die ersten Wochen nach der Amtsenthebung Dilma Rousseffs waren durch stärkere soziale Proteste gekennzeichnet als die Regierung Temer erwartet hatte. Sie reagierte mit scharfer Polizeirepression. Zwar zeigten die Kommunalwahlen am 2. Oktober eine deutliche Schwächung des PT. Ihr Hauptkennzeichen war allerdings, gerade in den Metropolen, ein sehr hoher Anteil von Stimmenthaltungen und ungültigen Stimmen. Nach ihrem „institutionellen Putsch“ regiert die brasilianische Rechte nicht aus einer Position der Stärke. Die Form ihrer Regierungsübernahme signalisiert eine Regression der Demokratie. An Projekte des „sanften Reformismus“ stellt der Fall Brasilien grundlegende Fragen. Und die Süd-Süd-Allianzen wie auch die Mitte-Links-Kräfte in Südamerika sind durch den brasilianischen Machtwechsel geschwächt.

Dr. Joachim Becker ist a.o. Professor an der Wirtschaftsuniversität in Wien und Mitherausgeber von W&E.

Empfohlene Zitierweise:
Joachim Becker, Schlag gegen den "sanften Reformismus". Der institutionelle Putsch in Brasilien, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 9. Oktober 2016 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.