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Transformative Post-2015-Agenda?

Artikel-Nr.: DE20150715-Art.17-2015

Transformative Post-2015-Agenda?

Es mangelt an Ehrgeiz und innerer Logik

Vorab im Web - Während der Dritten UN-Konferenz in Addis Abeba (FfD III, 13.-16. Juli) und drei Monate vor dem UN-Gipfel zur Post-2015-Entwicklungsagenda in New York (25.-27. September) bietet sich ein ambivalentes Bild. Obwohl der UN-Generalsekretär und Regierungsvertreter euphemistisch von einer „transformativen Agenda“ sprechen, kann von Aufbruchstimmung keine Rede sein. Die Fronten sind verhärtet. Beobachtungen von Gabriele Köhler*).

Welch‘ ein Unterschied: 2015 sind es 20 Jahre her seit der Beijinger Weltfrauenkonferenz (s. W&E 03-04/2015) und dem Weltsozialgipfel von Kopenhagen. Diese Konferenzen waren Meilensteine einer progressiven internationalen Politik. Damals gab es in vielen politisch einflussreichen Länder Regierungen, die positiv auf den internationalen sozialpolitischen Diskurs ausstrahlten. Die UNO hatte ihrerseits Auftrieb durch das Ende des kalten Krieges und charismatische Beamte an der Spitze, und machte sich endlich wieder stark für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. Die Weltlage 2015 ist nicht so progressiv gestimmt. Der „Norden“ ist konservativ und in großen Teilen der Austerität verschrieben. Und der „Süden“ ist durch das Heranwachsen der Schwellenländer stark entsolidarisiert.

● Verhärtete Positionen bei FfD III

Mitte Juni verhandelten in der UNO in New York die 193 UN-Mitgliedsländer das Dokument, das auf der Dritten UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung verabschiedet werden soll. Es geht um die Finanzierung von entwicklungsrelevanten Ausgaben und um die Rolle des Staates und der öffentlichen Hand. Es geht um systemische Themen wie Handelspolitik, Entschuldungsfragen, Technologietransfer und eine bessere Koordination von makro-ökonomischer Politik und Regulierung der Finanzströme. Es geht um die Einrichtung einer internationalen Behörde zur Steuerkooperation („UN Tax Cooperation Body“), die Steuern harmonisieren und Steuerflucht in den Griff bekommen könnte. Es geht auch darum, ob die UN in Zukunft wieder die oberste normative Instanz werden könnte für die Modalitäten der Entwicklungsfinanzierung, oder ob dieser zentrale Politikbereich weiterhin bei Weltbank, Internationalem Währungsfonds und einer Vielzahl von selbsternannten Global-Governance-Gruppen – von Davos über die BRICS bis zu G7 und G20 – verbleibt.

Die Verhandlungspositionen zur Finanzierungskonferenz sind sichtlich verhärtet. Viele progressive Positionen wurden aus dem Text herausgestrichen, und die dritte und – vorgesehen letzte – FfD-Vorverhandlungsrunde musste in die Verlängerung gehen. Inhaltliche Differenzen betreffen vor allem die Modalitäten für Technologietransfer, das Herangehen an Steuerpolitik, und die Frage des Monitoring. Politische Differenzen ranken sich – wie auch beim Klimagipfel, der Ende des Jahres in Paris stattfindet (s. W&E 05-06/2015) – um ein noch viel vertrackteres Thema. Es geht darum, ob die Industrieländer ihre historische Verantwortung für Klimawandel und nachhaltige Entwicklung schultern – oder darauf bestehen, dass „der Süden“ ebenso stark zur Finanzierung beträgt (s. W&E 03-04/2014).

● Die SDGs: Licht und Schatten

Bei „FfD“ geht es im Kern um eine verbindliche Finanzierung von ökonomischen, sozialen und ökologischen Zielen. Die Agenda zur nachhaltigen Entwicklung umfasst nämlich alle Themen, die die UN die letzten 45 Jahre auf großen und kleinen Gipfeln angegangen ist. Wie inzwischen wohlbekannt, umreißen die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs: „sustainable development goals“) 17 Zielbereiche zu ökonomischen, sozialen, friedenspolitischen und ökologischen Anliegen. Damit gehen sie thematisch weit über die Millenniumsziele hinaus, die sich ja vornehmlich auf sozialpolitische Ziele - Hunger, Einkommensarmut, Bildung und Gesundheit - konzentriert hatten.

Es gibt normative Ziele, die in den MDGs nicht einmal angedacht waren – die Überwindung der Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern, die Förderung nachhaltiger Konsum- und Produktionsweisen, und eine Verpflichtung zu friedlicher Konfliktlösung, guter Regierungsführung und dem allgemeinen Zugang zur Rechtsprechung. In der Präambel werden die Menschenrechte und die Menschenrechtserklärung hervorgehoben. Mehrere SDGs und Unterziele sind breiter ausgefächert als sie es in den MDGs waren – z. B. die, die Frauen, Kinder, und indigene Völker betreffen.

Es gibt vier eigenständige Nachhaltigkeitsziele, die auf der Rio+20-Deklaration von 2012 aufbauen; zugleich sind Nachhaltigkeitsprinzipen in fast jedes der anderen Ziele eingeflossen. Auch das Armutsziel erscheint auf den ersten Blick ein Fortschritt gegenüber den MDGs. Es ist radikaler: Absolute Armut soll beseitigt – nicht lediglich halbiert – werden. Auch multi-dimensionale Armut soll angegangen werden, was zumindest implizit auf den Zusammenhang zwischen Einkommensarmut und schlechter Qualität und Ausgrenzung in Unterkunft, Bildung, Gesundheit, Zugang zu Energie oder Kommunikationsmittel hinweist.

Jedoch, bei näherem Hinsehen stellt man fest, dass absolute Armut immer noch als 1,25 Dollar pro Person pro Tag definiert wird und dass sich die internationale Staatengemeinschaft bis 2030 Zeit lassen möchte, dieses erbärmlich niedrig gesetzte Ziel zu erreichen. Angesichts des ungeheuren Reichtums – Kapital, Einkommen, Vermögen, Technologie – und des immer weiteren Auseinanderklaffens von „Reich“ und „Arm“ ist das nicht nachvollziehbar. Stolz erklärte der UN-Generalsekretär „We are the first generation that can end poverty“, aber er forderte nicht ein, dass die Weltgemeinschaft ernsthafte Anstrengungen unternimmt und Umverteilungsmaßnahmen einleitet, die zumindest die absolute Armut so bald wie möglich beseitigen, was durchaus möglich wäre. Dazu gäbe es genügend Analysen, im UN-Sekretariat selber, aus der fortschrittlichen Wissenschaft und aus der Zivilgesellschaft (z.B. Oxfams „Even it up – Besser gleich!“ in: W&E-Hintergrund Dezember 2014).

● Diametrale Widersprüche

Die ökonomischen und umweltpolitischen Zielvorgaben im SDG-Zielekatalog widersprechen sich z.T. diametral. Insbesondere bleibt der Entwurf dem tradierten Wachstumsmodell verhaftet. Er geht z.B. zentral davon aus, dass menschenwürdige Arbeit nur über Wachstum des Bruttosozialprodukts zu erreichen sei. Das ist jedoch nicht mit dem Nachhaltigkeitsziel vereinbar, das sowohl eines verminderten Ressourcenverbrauchs als auch einer Verschiebung von materieller Produktion auf Dienstleistungen bedürfte. Auch hier gäbe es genügend Analysen und Anstöße, auf die man bauen könnte.

Der Mangel an Ehrgeiz und die teilweise fehlende innere Logik der SDGs werfen die Frage auf, wie diese Nachhaltigkeitsagenda denn ausformuliert wurde. Auch da gibt es Licht und Schatten. Ganz im Gegensatz zu den MDGs, die von einer Expertengruppe aus den Beschlüssen verschiedener UN-Gipfelkonferenzen und einem Entwicklungskatalog des OECD-Entwicklungsausschusses herausdestilliert wurden, sind die SDGs das Ergebnis eines höchst partizipativen Prozesses. Aus den Rio-Verhandlungen wurde die Modalität übernommen, dass eine Abordnung von UN-Mitgliedsländern mit Vertretern der „Neun Hauptgruppen“ einen Entwurf aushandelt. Letztere repräsentieren jeweils Koalitionen von Nichtregierungsorganisationen der Frauen, Kinder und Jugend, Gewerkschaften, Landwirte, Indigene Völker, Städte und Kommunen, Wissenschaftler, und Privatwirtschaft. Das ist von einem basisdemokratischen Ansatz her sehr progressiv – vor allem wenn man bedenkt, dass in UN-Verhandlungen NGOs für gewöhnlich nur Beobachterstatus haben. Und dem Druck insbesondere der Frauen- und indigenen Organisationen sind die fortschrittlich gefassten Ziele zu Nachhaltigkeit, Ungleichheit und Frieden zu verdanken. Mehrere der Major Groups schlugen vor, den Begriff „Wachstum“ ganz aus dem Text zu streichen und durch „Entwicklung“ zu ersetzen. Die Children and Youth Major Group forderte, statt der Abschaffung der 1,25-Dollar-Einkommenarmut die Abschaffung aller Formen von Armut anzugehen.

● Irreführende Rede von der Zivilgesellschaft

Jedoch gibt es zwei immense Risiken bei einem solchen Prozess. Erstens ist die Zusammensetzung der „Zivilgesellschaft“ irreführend und extrem problematisch. Zu acht Gruppen, die echte Zivilgesellschaft und von ihrem Mandat her progressive Inhalte verfechten, gesellt sich als neunte Gruppe die Privatwirtschaft hinzu. Die UN hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr mit den transnationalen Unternehmen und ihrer kapitalistischen Globalisierungsagenda arrangiert. Die Verhandlungsmacht und die „soft power“ der Großunternehmen und der großen Privatstiftungen ist vor allem im Implementierungsvorschlag der SDGs und in der Finanzierungsagenda manifest – öffentliche Güter sollen immer mehr privatisiert werden.

Zweitens besteht die Gefahr einer politischen Vereinnahmung der echten NGOs. So haben z. B. die Frauenrechtsvertreterinnen ausdauernd ihre Positionen vorgetragen und in unzähligen Gesprächen Verbündete gefunden, um im SDG-Entwurf progressive frauenpolitische Ziele unterzubringen. Es ging darum, die care economy (Sorgeökonomie) - in der weltweit vornehmlich Frauen arbeiten - einzubringen und zu valorisieren; es ging darum, soziale Grundsicherung im Text zu verankern; es ging auch um genuine Gleichstellung und darum, den Begriff von Frauenrechten im Text zu verankern, und sexuelle und reproduktive Rechte durchzufechten. Ihre Zähigkeit hat sich teilweise ausgezahlt. Die care economy hat Eingang gefunden in die SDGs, und die Grundsicherung ist sogar im FfD-Entwurf aufgeführt. Die Sprache der Frauenrechte konnte jedoch nicht durchgesetzt werden, und bislang ist es bei dem kläglichen Einkommensarmutsziel geblieben. Bei solch komplexen Debatten und Verhandlungsprozessen setzt man unweigerlich Prioritäten und erliegt leicht einem Ablenkungs- und Auszehrungsprozess.

Das heißt zusammengefasst: Die SDGs sind auf der einen Seite konzeptionell und politisch ein erheblicher Fortschritt gegenüber den MDGs, weil es ihnen gelingt, endlich Umwelt, Sozialpolitik, Menschenrechte, Frieden, und die Makroökonomie als miteinander verwoben zu begreifen und anzugehen. Aber andrerseits sind sie weder ambitioniert, noch konsistent, und im Moment besteht die Gefahr, dass ihre Umsetzung von der Großindustrie gekidnappt wird, weil öffentliche Gelder immer knapper werden – Steuereinnahmen für Staatshaushalte, Zuwendungen an die UN und ihre Sonderorganisationen, Drittmittel für die fortschrittliche Zivilgesellschaft.

● Kein Norden und kein Süden mehr?

Verhandlungen und Verhandlungstaktiken im Grossen Saal 4 der Vereinten Nationen in New York sind eine Sache. Aber die tiefschürfendere Frage ist die nach den unterschiedlichen Interessen des „Nordens“ und des „Südens“. Dazu ist anzumerken, dass die neue Agenda keine Entwicklungsagenda sein möchte, sondern den Anspruch hat, für alle Länder zu gelten – „universell“ zu sein. Wie es die deutsche Delegation auf einem Panel in New York ausdrückte: “We are all developing countries now.“ Das ist korrekt. Kein Land hat soziale und ökonomische Gerechtigkeit erreicht, keines produziert und konsumiert nachhaltig, und auch 20 Jahre nach den bahnbrechenden Versprechen von Beijing hat kein einziges Land Geschlechtergerechtigkeit umgesetzt. Es ist gut, wenn diese Einsicht akzeptiert wird.

Doch lauert auch hier eine versteckte Gefahr. Die Vertretung der Entwicklungsländer, die Gruppe der 77 und China, hegt den Verdacht, dass dieser Universalitätsanspruch ein Trick sein könnte, die reichen Industrieländer aus ihrer entwicklungspolitischen Pflicht zu entlassen. Wenn alle Länder sich entwickeln müssen, wo bleibt dann die besondere Verantwortung der reichen Industrienationen, Entwicklungsausgaben im Süden und die Kosten der Klimawandelinvestitionen zu finanzieren? Ob das passiert, wird sich in Addis zeigen.

Durch das ökonomische und politische Erstarken der Schwellenländer hat sich das Nord-Süd-Kräfteverhältnis ohnehin verschoben. Es ist klar, dass die Interessenkonflikte nicht primär zwischen dem „globalen Norden“ und dem „globalen Süden“ verlaufen. Vielmehr verläuft die Konfliktlinie immer ungeschminkter zwischen den Eliten in Nord und Süd einerseits, die im Großen und Ganzen vom kapitalistischen Status quo profitieren, und andererseits den Angehörigen der prekären Mittelklassen und entrechteten untersten Einkommensgruppen in allen Ländern. Eben deswegen ist es so notwendig, dass die basisdemokratischen NGOs mit verhandeln beim Entwurf der Nachhaltigkeitsagenda, denn sie formulieren und vertreten die Anliegen der „99 Prozent“. Eine „transformative“ Umsetzung in den nächsten Jahren wird letztendlich von progressiven Bewegungen in allen Ländern und in jedem Land abhängen.

● SDGs und Deutschland

Angenommen, die Finanzierungsagenda, die SDGs und ein neues Klimaabkommen werden erfolgreich verabschiedet: Was würde das für die deutsche Politik bedeuten? Zunächst, oberflächlich besehen, würde die Umsetzung eine Abstimmung aller Ressorts des Kabinetts nötig machen. Das Ziel zu nachhaltiger Produktion und Konsum wäre normativ noch am leichtesten zu vermitteln, denn die Enquete-Kommission des Bundestags zu Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität bietet durchaus Anknüpfungspunkte und eine Rechtsgrundlage, SDG-Vorstellungen umzusetzen. Auch die Entscheidung für den Atomausstieg ist eine, die der Grundphilosophie der SDGs nahesteht.

Eine wichtige Zielvorstellung der SDGs ist es, menschenwürdige Arbeit und Vollbeschäftigung einzufordern. Die derzeitige deutsche Diskussion zum Kohleaustieg und zur Verlagerung von Arbeitsplätzen aus Atom- und Kohleindustrie in andere Bereiche – erneuerbare Energien, aber auch soziale Dienstleistungen - kann man sich als produktiven Ausgangspunkt im SDG-Kontext vorstellen. Aber Deutschland müsste auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben, um den durch die Agenda 2010 total entrechteten Arbeitsmarkt zu reformieren. In den sozialen Dienstleistungen müssten leistungsgerechte Gehälter eingeführt werden. Die registrierte Jugendarbeitslosigkeit von 8% in den neuen Bundesländern müsste angegangen werden.

Schwierig wird es auch sein, den Armutszielen gerecht zu werden. Dabei handelt es sich in Deutschland nicht um absolute, sondern um relative Armut, die vorliegt, wenn eine Person oder ein Haushalt über weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verfügt. Um die SDGs einzulösen, müsste man also entschlossen die Kinderarmut von 19% (UNICEF) und die allgemeine Armut von 15% (Paritätischer Wohlfahrtsverband) angehen. Und man müsste rasch, wie von UN und EU vorgeschlagen, das Flüchtlingskontingent nicht nur erhöhen, sondern die Rechte und die Lebensbedingungen von Asylbewerbern und Flüchtlingen und ihren Kindern qualitativ entscheidend verbessern.

Das würde aber bedeuten: Um die SDGs real und ehrlich umzusetzen, müsste die Austeritätspolitik und das fehlkonzipierte Ziel der Null-Verschuldung abgeschafft werden. Beherzte Steuerreformen stünden an. Die Lohnquote müsste sich endlich wieder erhöhen. Hier wird die Zivilgesellschaft viel Überzeugungsarbeit leisten und Druck ausüben müssen. Bis zur Transformation ist es auch in Deutschland noch ein weiter Weg.

Gabriele Köhler ist Entwicklungsökonomin, Senior Research Associate, UNRISD, Genf, und Vorstandsmitglied bei der Deutschen Gesellschaft Vereinte Nationen (DGVN) und Women in Europe for a Common Future (WECF).
http://www.gabrielekoehler.net
Posted: 22.6.2015

Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Köhler, Transformative Post-2015-Agenda? Es mangelt an Ehrgeiz und innerer Logik, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 22. Juni 2015 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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