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Wenn menschliche Entwicklung unten nicht ankommt

Artikel-Nr.: DE20140406-Art.13-2014

Wenn menschliche Entwicklung unten nicht ankommt

Nepal abseits medialer Schlagzeilen

Vorab im Web - Drei Monate nach den Wahlen wurde Ende Februar d.J. ein neues Kabinett eingeschworen. Die neue Regierung ist eine Koalition aus den beiden größten Parteien, der Kongresspartei, die mit Sushil Koirala den Premierminister stellt, und der UML. Die Mainstream-Maoisten – von denen sich eine fundamentalistische Fraktion abgespalten hat – unterstützen die Koalition, haben sich einer ursprünglich vorgesehenen Regierung der Einheit aber nicht angeschlossen. Wo steht das Land in diesem Moment, fragt Gabriele Köhler.

Erst vor ein paar Jahren hat Nepal einen zehnjährigen Bürgerkrieg hinter sich gelassen, der 15.000 Menschenleben forderte – bei einer Gesamtbevölkerung von rund 30 Millionen. Sechs Jahre danach macht Nepal keine internationalen Schlagzeilen mehr. Der steinige Prozess der Überwindung einer konflikt- und autokratiegetriebenen Politik stößt außerhalb des Landes auf kein Interesse mehr, was bedauerlich ist, da Nepal Aufmerksamkeit für seine politischen Erfolge verdient ebenso wie eine vertiefte Analyse seiner komplexen Ergebnisse auf dem Gebiet der menschlichen Entwicklung.

● Durchwachsene politische Entwicklung

Anfangs herrschte beträchtlicher Optimismus, ja Euphorie, mit hohen Erwartungen an eine friedliche, inklusive und prosperierende Entwicklung. Wie der Journalist Kanak Mani Dixit damals schrieb: „Überall ertönt der Ruf nach einem Naya Nepal, und es besteht kein Zweifel daran, dass das Land über die wirtschaftlichen Ressourcen und das menschliche Potential verfügt, um lichte Höhen zu erklimmen… Nepal kann vielleicht zum Modell für Südasien werden…“

Nach einiger Verspätung fanden im November 2013 Wahlen statt, die zu einer neuen Zusammensetzung des Parlaments führten, zusätzlich zur Verfassungsgebenden Versammlung, die die Ausarbeitung einer neuen, inklusiven Verfassung zu Ende bringen soll. Drei Parteien – die Nepal-Kongress-Partei (NC), die Vereinigten Marxisten-Leninisten (CPN/UML) und die Kommunistische Partei Nepals (CPN [Maoisten, die aber nicht mit China liiert sind]) teilen sich die Mehrheit der 601 Sitze. Die verbleibenden Sitze teilen sich unter 27 weiteren Parteien auf, die meist sehr klein sind. Es gibt keine Schwelle, wie die 5%-Hürde in anderen Ländern, weil die kleinen Parteien, die meisten eine spezielle Identität aufweisen, befürchten, dass sie dann nicht im Parlament vertreten wären.

Die politischen Trends sind gemischt, wobei es einige wichtige Erfolge gibt, aber auch die Herausforderung unerledigter Aufgaben. Die politische Haupterrungenschaft besteht darin, dass Nepal jetzt eine säkulare Republik ist und zumindest auf nationaler Ebene die unterdrückerische soziale Hindu-Ordnung abgeschafft ist sowie die Demokratie und die politische Debatte wieder hergestellt sind. Der abgesetzte Monarch lebt zurückgezogen und mit einer staatlichen Pension in der Hauptstadt.

Während über die entstehende Verfassung in vielen Punkten Einigkeit herrscht, bleiben viele umstrittene und potenziell explosive Fragen offen, so in Bezug auf das Regierungsformat – Monarchie oder Republik – und wenn Republik, dann unter Führung eines Präsidenten oder eines Premierministers. Eine kleine Partei, die Rastriya Prajatantra Party will die Hindu-Monarchie wieder einführen, während alle anderen durchgängig für die 2008 errichtete säkulare Republik sind. Die Maoisten werben für eine präsiduale Republik, während die meisten anderen ein System mit Premierminister wollen, da dies einen inklusiveren parlamentarischen Prozess erfordert.

Eine andere umstrittene Verfassungsfrage ist das Kriterium für die Ziehung der Distriktgrenzen. Die Maoisten haben sich für die Schaffung von identitätsbasierten Distrikten eingesetzt. Damit ginge ein hohes Risiko der Spaltung entlang ethnischer und sprachlicher Grenzen einher. Demgegenüber optierten die meisten anderen Parteien für geografische Distrikte auf der Grundlage der besonderen Topographie Nepals, wie sie schon in den letzten Dekaden existierten und ganz gut funktioniert haben. – Dass diese Fragen auf den Tisch kommen und diskutiert werden, signalisiert die Entstehung einer lebendigen und widerstandsfähigen Demokratie.

● Ermutigender Index menschlicher Entwicklung

Während die Politik viel Energie verschlingt, liegen die realen Probleme Nepals auf einem anderen Feld. Vor allem für die Nepalesen auf dem Lande stehen Entwicklungsfragen an erster Stelle. Wie ein Abgeordneter aus Süd-Nepal treffend sagte, sind die Interessen dieser Menschen praktischer Natur: fließendes Wasser, Toiletten, lückenlose Versorgung mit Elektrizität, Zugang zu funktionierenden Gesundheitseinrichtungen und vor allem Arbeitsplätze, eine besser regulierte Migration oder menschenwürdige Heimarbeit.

Obwohl die Debatte im Parlament und in den Medien wenig um diese Kernprobleme der menschlichen Entwicklung kreist, hatte Nepal – selbst vor dem Ende des brutalen Konflikts – zumindest auf der Ebene von Durchschnittswerten beträchtliche Erfolge aufzuweisen. Das BIP-Wachstum belief sich auf 4-5% pro Jahr. Die offiziellen Messungen wiesen eine Reduzierung der Zahl der Menschen unter der offiziellen Armutsgrenze von 33 auf 25% von 2000 und 2007 aus. Nepals Rang auf dem Human Development Index (HDI) wies die schnellste Verbesserung unter 187 Ländern auf; er stieg von 0,210 (1980) auf 0,428 (2010). Die Kinder- und Müttersterblichkeit ging zurück. Die Einschulungsrate liegt bei 95%.

Doch wie ein erfahrener Nepalese es ausdrückte, „sind diese Statistiken zugleich ermutigend und entmutigend. Die berichteten Erfolge stimmen nicht mit dem überein, was die Menschen fühlen und passen nicht zur Situation der einfachen Leute“. Das heißt: Sie reflektieren nicht die saisonale Lebensmittelunsicherheit. Sie spiegeln nicht das wider, was in den erbärmlichen Hütten im staubigen Kathmandu an der Tagesordnung ist, wo es kein fließendes Wasser gibt und die ohnehin nur 12 Stunden laufende Elektrizität täglich unterbrochen wird; wie es in den düsteren, ungeheizten öffentlichen Schulen ohne Toiletten und ohne dichte Fenster im Winter aussieht; oder die Anstrengungen, die notwendig sind, die Felder zu bestellen oder das Wasser aus steilen Bergregionen zu holen, in denen manche Dörfer zwei bis drei Tagesmärsche von der nächsten Klinik oder dem nächsten Markt entfernt liegen.

● Sozialer Ausschluss und Arbeitsplatzmangel

Hinter der ohnehin schwierigen sozio-ökonomischen Situation verbirgt sich ein vielschichtiger Prozess der sozialen Exklusion, der eine schreckliche Kluft zwischen den Privilegierten und den ausgeschlossenen Gemeinschaften zur Folge hat, den „religiösen Minderheiten, Regionen, Sprachen, Kasten und sogar der Körpergröße“ (Dixit). Für sie alle gilt der allgemeine positive statistische Trend nichts.

Der zweite Bereich, die den ermutigenden HDI in Frage stellt, ist das Beschäftigungsproblem. Es gibt neue Investitionen, vor allem im Tal von Kathmandu, vom Straßenbau bis zur Errichtung von Wohnsilos und Shopping-Malls. Ein neuer Trend ist, dass in Übersee ausgebildete Söhne und Töchter der Eliten nach Nepal zurückkehren. Auf der anderen Seite verlassen täglich mehr als 1000 Nepalesen das Land, um einfache Jobs unter fragwürdigen Umständen in Indien, Malaysia oder den Golfstaaten aufzunehmen – oft unter Arbeitsbedingen, die sich nur wenig von Zwangsarbeit unterscheiden.

Die dritte facettenreiche Problemebene betrifft die Umwelt. Nepal ist eines der ersten Länder mit einem gut funktionierenden System des gemeinschaftlichen Waldmanagements, wo Wiederaufforstung – oft unter der Führung selbstorganisierter Frauen – ein einzigartiger Erfolg war. Doch auf der anderen Seite wächst der ökologische Druck im Himalaya, wo Gletscher schmelzen und die umliegenden Dörfer bedrohen. Es gibt ernste Knappheit bei Grund- und Flusswasser, vor allem im Kathmandu-Tal.

● Was folgt?

Die neue Regierung hat versichert, dass die neue Verfassung binnen Jahresfrist fertig sei. Eine Ergänzung wäre die Organisation von Lokalwahlen. Das würde helfen, das Empowerment auf Dorf- und Distriktebene voranzubringen und eventuell die erstarrten Machtstrukturen des politischen Establishments erschüttern und neue politische Führungspersönlichkeiten hervor bringen. Vor allem aber muss die Regierung sich voll den wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Problemen des Landes zuwenden. Das könnte die Erfolge seit dem Ende des Bürgerkriegs verstärken und dazu beitragen, die ermutigenden Statistiken in eine beredte Realität zu verwandeln.

Gabriele Köhler (gabrielekoehler.net) ist Entwicklungsökonomin und Visiting Fellow am UN-Forschungsinsitut für soziale Entwicklung (UNRISD).

Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Köhler, Wenn menschliche Entwicklung unten nicht ankommt. Nepal abseits medialer Schlagzeilen, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 6. April 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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