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Wie funktioniert eigentlich Ökonomie in Afrika?

Artikel-Nr.: DE20080715-Art.-20-2008

Wie funktioniert eigentlich Ökonomie in Afrika?

Kapitalismus und afrikanische Produktionsweise

Nur im Web - In vielen Diskussionen über die Marginalisierung Afrikas in der Weltwirtschaft wird die Frage ausgeblendet, mit welcher Art ökonomischer Verhältnisse wir es dort eigentlich zu tun haben bzw. wie die moderne afrikanische Ökonomie funktioniert. Dies muss aber geklärt werden, sowohl um die tieferen Ursachen der entwicklungspolitischen Misserfolge verstehen als auch um alternative Entwicklungswege diskutieren zu können, schreibt Jörg Goldberg in seinem neuen Buch (s. Hinweis). Wir dokumentieren vorab Auszüge aus dem vierten Kapital.

Es sei „mit wissenschaftlicher Strenge die ökonomische Basis dieser Gesellschaften (zu) analysieren …, weil ‚die soziale Struktur (…) eng von den spezifischen ökonomischen Verhältnissen abhängt, die aus der Kontrolle über die Ressourcen entspringen’“, referiert Godelier die Ansicht von Anthropologen, die selbst Beiträge zum Verständnis der ökonomischen Funktionsweise afrikanischer Gesellschaften geleistet haben (1973: 45/46).

* Das Scheitern der Strukturanpassungspolitik

Was dabei herauskommt, wenn man Entwicklungspolitik betreibt, ohne die ökonomische und damit auch soziale Struktur der zu entwickelnden Gesellschaften in Rechnung zu stellen, haben die Ergebnisse der Strukturanpassungspolitik (SAP) in Afrika gezeigt. Es waren im Kern zwei Missverständnisse, ein allgemeines und ein spezielles, die zu den Misserfolgen der afrikanischen SAP geführt haben:

* Auf das allgemeine wurde bereits hingewiesen: Märkte benötigen einen staatlich gesetzten und garantierten institutionellen Rahmen. Je freier die Märkte, desto wichtiger ist das regulatorische Umfeld. Wie Polanyi am Beispiel des 19. Jahrhunderts gezeigt hat, „führte die Errichtung freier Märkte keineswegs zur Abschaffung von Kontrollen, Reglementierungen und Interventionen, sondern vielmehr zu deren enormer Ausweitung.“ (Polanyi 1944/1968: 194) Freie Märkte funktionieren nur im Rahmen effizienter staatlicher Verwaltungen, das hatten die Strukturanpasser übersehen. Nicht nur dass der Versuch der SAP, die Marktdynamik zu entfesseln, angesichts der schwachen Regulierungskapazität afrikanischer Verwaltungen zum Scheitern verurteilt war; in der ideologisch geprägten Auffassung, Markt und Staat seien Gegensätze, propagierte die SAP den ‚schlanken Staat’, was den ohnehin fragilen institutionellen Grundlagen der Märkte den Rest gab.

* Das spezielle Missverständnis wird durch die Parole „getting the prices right“ charakterisiert: Es wurde der „homo oeconomicus africanus“ unterstellt, d.h. es wurde angenommen, dass der Preismechanismus – verstanden als überhistorisches Prinzip – in Afrika auf die gleiche Weise wirkt wie in den USA oder in Europa. Die bäuerliche Produktionslogik aber besteht nicht in Profitmaximierung, sondern in der Erhaltung der familiären Produktionseinheit (Coquery-Vidrovitch 1992: 148). „Richtige“, d.h. freie Preise bedeuten unter den Bedingungen der vermachteten Weltwirtschaft für die kleinbäuerlichen Produzenten vergrößerte Unsicherheit und veranlassen diese, verstärkt Risikominimierungsstrategien zu fahren.

Im Ergebnis hat die SAP das Gegenteil von dem bewirkt, was entwicklungspolitisch beabsichtigt war: Sie hat die bestehenden fragilen Ansätze marktwirtschaftlicher und kapitalistischer Verhältnisse beschädigt, statt sie zu stärken. „Diese Programme, mit ihrem Schwerpunkt auf Auslandskapital und Privatisierungen (…) haben eher das heimische Kapital marginalisiert, statt nationale Produktionskapazitäten aufzubauen oder das heimische Unternehmertum zu stärken.“ (UNCTAD 2007: 82) […]

* Die Widerständigkeit des Subsistenzsektors

Wollen wir die heute in Afrika herrschende Produktionsweise charakterisieren, dann erscheinen zunächst nur negative Aussagen möglich. Einerseits kann trotz des Gewichts der Subsistenzwirtschaft nicht von einem wie auch immer modifizierten Weiterbestehen der vorkolonialen Produktionsweise gesprochen werden. Denn die Subsistenzwirtschaft ist mit Marktproduktion („cash crops“) bzw. mit Elementen von Lohnarbeit verbunden. Die dörflich-patriarchalischen Verhältnisse der Kontrolle der Ressourcen und der Aneignung des Mehrprodukts haben sich aufgelöst. Aber obwohl der afrikanische Bauer in den globalen kapitalistischen Ausbeutungszusammenhang eingeordnet ist, kann nicht davon gesprochen werden, „dass die bäuerlichen Gesellschaften und Mentalitäten … durch das kapitalistische System zerstört worden sind, nicht nur weil sie für dieses aus Kostengründen funktional sind sondern auch wegen ihrer gewaltigen Widerstandskraft …“ (Coquery-Vidrovitch 1992: 145/46) […]

Man könnte darauf aufmerksam machen, dass der moderne kapitalistische Sektor den Hauptbeitrag zum afrikanischen Bruttosozialprodukt erbringt. Das ändert aber nichts daran, dass die Funktionslogik des Subsistenzsektors noch immer eine entscheidende Bedeutung hat, nicht nur wegen seiner Rolle als Überlebensraum für die große Mehrheit der Bevölkerung, sondern weil seine Erhaltung im Mittelpunkt der ökonomischen Anreizsysteme steht. Jede Entwicklungsstrategie, die die Zerstörung dieses Überlebensraums zum Zwecke der Produktivkraftentwicklung anstrebt, ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen zum Scheitern verurteilt. Die kapitalistische Produktionslogik kann sich nicht gegen die Sicherheitslogik des Subsistenzsektors durchsetzen.
Deshalb ist es bis jetzt nicht gelungen, in Afrika kapitalistische Produktionsbeziehungen durchzusetzen, obwohl diese eine Bedeutung haben. […]

So stimmen die meisten Beobachter (soweit sie darauf Gedanken verschwenden) darin überein, dass „es in Afrika sehr wenig modernen Kapitalismus gibt und dass die meisten Faktoren, die dessen Entwicklung fördern, schwach oder nicht-existent sind“, dass es also relativ unwahrscheinlich sei, dass Afrika in absehbarer Zukunft kapitalistisch werden könnte (Callaghy1988: 78). Afrika ist zwar in den globalen Kapitalismus integriert, ist aber selbst sehr wenig kapitalistisch. Es gibt kaum ‚doppelt freie Lohnarbeit’, der überwiegende Teil der Bevölkerung bestreitet seinen Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch Subsistenzwirtschaft. Entwickelte kapitalistische Unternehmen gibt es nur in der extraktiven Industrie und im Dienstleistungsbereich, und diese sind wenig in die Gesamtökonomie integriert. Die wichtigsten Produktionsmittel – vor allem Grund und Boden – haben keinen Kapitalcharakter, nationale Märkte gibt es nur ansatzweise, wie die regionalen Preisunterschiede für Nahrungsmittel zeigen.

Die „Durchkapitalisierung“ der afrikanischen Wirtschaft ist weniger an der ‚Peripherisierung’ durch das internationale Kapital gescheitert, wie Elsenhans vermutet (2007: 18), sondern an der Stärke und Widerstandsfähigkeit der Subsistenzwirtschaft und der darauf beruhenden ‚Ökonomie des Überlebens’. Die Stabilität dieser Produktionsweise ist aber der Peripherisierung geschuldet. Denn die Ausbeutungsstrategien des europäisch/amerikanischen Kapitals haben verursacht und verursachen noch immer jene Existenzunsicherheit, gegen die die afrikanischen Produzenten sich im Rahmen ökonomischer Überlebens- und Risikominimierungsstrategien zur Wehr setzen. […]

* Voraussetzungen kapitalistischer Entwicklung in Afrika

Trotz negativer Erfahrungen mit neoliberalen Konzepten halten die afrikanischen Regierungen am kapitalistischen Entwicklungsweg fest. Es sind in Afrika (mit Ausnahme von Südafrika) keine relevanten Kräfte sichtbar, die dagegenhalten. So liegen Leys und Berman auch heute noch richtig wenn sie konstatieren, dass sich „der ganze Subkontinent … dem kapitalistischen Entwicklungsweg verschrieben hat, … dass die einzige Form von Entwicklung, die unmittelbar praktikabel erscheint die kapitalistische ist.“ (Berman/Leys 1994: 1/3). Da aber auf die Frage „Wie kapitalistisch ist Afrika?“ die Antwort nur lauten kann: „nicht sehr“ (Callaghy 1988: 77), spitzt sich die Frage darauf zu, was die Voraussetzungen für einen kapitalistischen Entwicklungsweg wären, der den afrikanischen Bedingungen angepasst ist (In der DDR und der Sowjetunion gab es übrigens in den 1980er Jahren eine interessante Debatte über den kapitalistischen Entwicklungsweg von Entwicklungsländern: Jegzentis/Wirth 1991):

* Unter welchen Bedingungen kann die afrikanische Bourgeoisie bzw. die Bourgeoisie in Afrika (was nicht dasselbe ist) ihren ‚Beruf’ als Träger von Akkumulation und Produktivkraftsteigerung ausüben?

* Ist der afrikanische Staat strukturell in der Lage, seine für die Entfaltung des Kapitalismus in Afrika grundlegenden Funktionen auszuüben bzw. was kann getan werden, damit er diese Rolle ausfüllen kann (Mkandawire 2001: 298/99)?

Inzwischen wird (wieder) eingeräumt, dass der Staat in Afrika entwicklungspolitisch eine zentrale Bedeutung besitzt, dass „government matters“. Wenn heute vom kapitalistischen Entwicklungsweg als einziger Perspektive gesprochen wird, so ist damit immer ein staatlich vermittelter Kapitalismus gemeint (UNCTAD 2007). Der von vielen als alternativlos bezeichnete kapitalistische Entwicklungsweg in Afrika dürfte – wenn er denn funktionieren sollte - mit dem Kapitalismus, „wie wir ihn kennen“ (frei nach Elmar Altvater), wenig zu tun haben. […]

Die Entscheidung für einen – wie auch immer gearteten – kapitalistischen Entwicklungsweg erfordert den Aufbau bzw. die Anpassung von Institutionen im umfassenden Sinn. Da – wie die Erfahrung der SAP zeigt – die institutionellen Voraussetzungen für eine ‚klassische’ kapitalistische Entwicklung entweder nicht bestehen oder den afrikanischen Bedingungen unangepasste europäische Importe sind, müssten sie – auf der Grundlage der bestehenden Produktionsverhältnisse – erst geschaffen werden.

Kapitalistischer Entwicklungsweg meint zunächst nur, dass die Agenten der Akkumulation private Unternehmen sind, die sich das Mehrprodukt (direkt und/oder durch staatliche Vermittlung) aneignen, es in Kapital verwandeln und damit sowohl die Produktion von Waren und Dienstleistungen als auch die Produktivkraft der Arbeit steigern. Damit ist noch nicht allzu viel über die konkrete Form und die Wirkungen eines kapitalistischen Akkumulationstyps für die Bevölkerung gesagt. Auch wenn fraglich ist, ob Massarrat recht hat, wenn er einen „gezähmten, mit strengen moralischen Maßstäben, wie Gerechtigkeit und Chancengleichheit, regulierten Kapitalismus, ohne expansionistische und imperialistische Triebe und mit einem menschlichen Antlitz“ für möglich hält (2006: 53), so ist ihm insofern zuzustimmen, als die Verwurzelung des Kapitals im jeweiligen kulturellen Milieu von großer Bedeutung ist. Ein afrikanischer Kapitalismus kann nicht der Abklatsch europäischer oder angelsächsischer Muster sein; auch andere ‚Modelle’ wie dasjenige Chinas oder Indiens sind in Afrika nicht kopierbar. Es wird sich notwendig um einen afrikanischen Kapitalismus handeln. […]

* Elemente eines Afrikanischen Kapitalismus

Mit John Iliffe (1983: 4 ff.) sollen zusammenfassend Elemente eines „Afrikanischen Kapitalismus“ hervorgehoben werden:

* Es handelt sich um Kapitalismus, d.h. um Warenproduktion unter der Regie von Einzelkapitalen, die Produktionsmittel und Lohnarbeit kombinieren mit dem Ziel der Erzielung von Profit.

* Dieser Kapitalismus ist „afrikanisch“, weil er sich in einem späten Stadium entwickelt, d.h. in einem vom globalen Kapitalismus geprägten internationalen Milieu, als letztem vom Kapitalismus erfassten Kontinent.

* Er ist „afrikanisch“ weil er sich aus einer vorkapitalistischen afrikanischen Produktionsweise entwickelt, die sich in Kernelementen, dem Eigentum an Grund und Boden und der Rolle von Lohnarbeit, von anderen vorkapitalistischen Produktionsweisen unterscheidet.

Die Frage nach dem Typ und den Trägern eines möglichen afrikanischen Kapitalismus konzentriert sich – neben der weiter unten behandelten Frage nach dem afrikanischen Staat – auf die Quellen und Bedingungen der Herausbildung einer stabilen, entwicklungsorientierten und politisch als Klasse handlungsfähigen afrikanischen Bourgeoisie. […]

Wodurch zeichnen sich diese „endogene Bourgeoisie“ oder dieser, in der Sprache der Entwicklungspolitik, „secteur privé autochtone“ (Bayart 1989: 123) aus? Da es sich um Kapitalismus bzw. Kapitalisten handelt, gelten zunächst die allgemeinen Bestimmungen: Die ökonomischen Aktivitäten des „endogenen“ Kapitalisten werden durch die Profitrate reguliert. Dass den „autochthonen“ Kapitalisten andere, möglicherweise altruistische Ziele motivieren könnten, ist wenig wahrscheinlich. Afrikanische Verhaltensweisen, die dem „Geist des Kapitalismus“ (Weber) entgegen zu stehen scheinen – die Beteiligung anderer am Reichtumszuwachs, die Verwendung für Zeremonien und Feste, Prestigekonsum usw. –, sprechen nicht unbedingt gegen die Existenz kapitalistischer Einstellungen: Es handelt sich dabei nicht um Altruismus oder Verschwendung als vielmehr um Investitionen in soziale Netzwerke, kann also als Form von Kapitalakkumulation gelten. Letzten Endes geht es um Bedingungen, die sichern, dass die Kapitalverwertung zur Entwicklung der Produktivkräfte, zur Steigerung von Produktion und Produktivität und zur Entwicklung der Binnenmärkte führt. […]

Entscheidend für die Herausbildung einer endogenen Bourgeoisie und ihre Entwicklungsorientierung sind die staatlich gesetzten Rahmenbedingungen, ist die Fähigkeit der öffentlichen Verwaltungen, dem Kapital Schranken zu setzen, die unproduktive und entwicklungsschädliche Wege der privaten Kapitalakkumulation versperren. Das ‚endogene’ Kapital ist nicht ‚moralischer’ als Auslandskapital, es ist nur enger in das Geflecht formeller und informeller nationaler Institutionen (Regeln) eingebunden. In diesem Zusammenhang ist auf die Bedeutung von Organisationen der arbeitenden Bevölkerung zu verweisen, im modernen entwicklungspolitischen Diskurs meist mit Zivilgesellschaft umschrieben. Der soziale Inhalt des Entwicklungsprozesses wird in einem funktionsfähigen System der öffentlichen Verwaltung in erheblichem Maße von deren Durchsetzungsfähigkeit beeinflusst, wie die europäischen Debatten über „fordistische“ und „postfordistische“ Akkumulationsregime deutlich gemacht haben (Sablowski 2008). […]

* Informelle Überlebensökonomien

Die historisch entstandenen Institutionen Afrikas haben heute eine widersprüchliche Funktion: Sie sichern das Überleben der Menschen unter denkbar widrigen Umständen, behindern damit aber gleichzeitig die Ausbreitung kapitalistischer Produktionsbeziehungen und erschweren die Durchsetzung afrikanischer Interessen im globalisierten Kapitalismus. Afrika fand sich nach der Unabhängigkeit in einer Welt von ‚Nationen’ wieder, in der Stärke und Durchsetzungsfähigkeit des Staates (nach innen wie nach außen) bestimmen, ob die unabwendbare Integration in die Weltwirtschaft im Interesse der jeweiligen Länder gestaltet werden kann. Damit hatten die afrikanischen Staaten von Anfang an schlechte Karten. Die „Zwangsgeburten“ der nachkolonialen Staaten (Tetzlaff/Jakobeit 2005: 117) hatten als einzige Legitimität nach innen den Befreiungskampf. Ansonsten waren ihre Verfassungen, ihre Grenzen, die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung, die regierenden Eliten, die Wirtschaftsräume, die historische Identität Ergebnisse der kolonialen Intervention. Sie waren Kunstprodukte nach innen wie nach außen und standen den historisch gewachsenen afrikanischen Institutionen als Fremdköper gegenüber.

Im Kern, so die hier vertretene These, beruhen die afrikanische Einmaligkeit und die Schwierigkeit Afrikas im Weltkapitalismus auf dem Zusammenprall von unvereinbaren Institutionen. In diesem Konflikt zeigten die afrikanischen Institutionen eine ungeheure Anpassungsfähigkeit gegenüber einer feindlichen Natur und Umwelt, wozu auch der Kolonialismus und der Einbruch des kapitalistischen Weltmarkts gehören. Angesichts der damit verbundenen Belastungen überrascht nicht der Entwicklungsrückstand Afrikas, sondern die Tatsache, dass diese 48 Länder nicht zerbrochen sind, dass sie überlebt haben. Die Einmaligkeit Afrikas sind auch seine Kraft und Kreativität im Überlebenskampf. Damit gerieten die afrikanischen Institutionen in eine Art Teufelskreis: Da sie bei der Lösung der Überlebensprobleme so effizient waren, konnten sie sich nicht bzw. nicht schnell genug modernisieren, d.h. an die Herausforderungen des Weltmarkts anpassen. […]

Dieses ‚informelle’ Überleben ist mit der Veränderung der natürlichen Umwelt, der Erschöpfung von Boden und Wasser, dem Eindringen der Weltwirtschaft, dem Zugang zu weltweiten Medien, dem raschen Bevölkerungswachstum, der Veränderung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Altersgruppen usw. prekär geworden.

Die Afrikaner wissen wie die Europäer die Vorteile der Geldwirtschaft, eines funktionierenden Gesundheits- und Bildungssystems, sauberen Wassers, stabiler Einrichtungen der materiellen Infrastruktur, moderner landwirtschaftlicher Produktionsmethoden, sozialer Sicherheit ohne Rückgriff auf repressive Kleingemeinschaften, individuelle Freiheit und Unabhängigkeit von den ‚Alten’, Selbstbestimmung der Frauen, usw. durchaus zu schätzen. Der Ausweg in informelle Strukturen wird nur deswegen gesucht, weil der moderne Staat bislang nicht in der Lage war, die erforderliche existenzielle Sicherheit zu produzieren.

Staatsversagen einerseits und Rückzug in traditionelle oder auch moderne endogene, staatsferne und kleinräumige Strukturen andererseits bilden einen Teufelskreis, der jene Situation produziert, die jedem mit Afrika Vertrauten auffällt: Die Dinge scheinen nicht zueinander zu passen (Grill 2005). Da Wirtschaft und Gesellschaft eben nicht mehr ‚traditionell’ sind, da die moderne Welt via Medien selbst im abgelegensten Dorf präsent ist, werden die verschiedenen Elemente von Tradition und Moderne pragmatisch integriert. Und: Es funktioniert irgendwie, „Africa works“.

Aber es funktioniert schlecht. Die ’hybriden’, Tradition und Moderne, Formelles und Informelles mischenden Institutionen sichern recht und schlecht das Überleben. Sie sind aber nicht geeignet, Afrikas Interessen in der Weltwirtschaft durchzusetzen und leistungsfähige Produktionsstrukturen aufzubauen. Das ist auf mittlere Sicht lebensgefährlich, wie eindringlicher als ökonomische Wachstumsraten und Sozialindikatoren die Ausbreitung der HIV/AIDS-Pandemie zeigt.

* Re-Legitimierung des modernen Staates unabdingbar

Nur die Legitimierung und die Integration des modernen Staates und seiner Institutionen in die Gesellschaft werden den Afrikanern die für wirtschaftlichen Fortschritt und das Überleben in der kapitalistischen Weltwirtschaft notwendigen Rahmenbedingungen bereitstellen können. Der nachkoloniale Staat, der auch im Ergebnis des Befreiungskampfes entstanden war und durch diesen eine gewisse Legitimität erlangt hatte, hat diese unter dem Druck des kapitalistischen Weltmarkts und seiner Einrichtungen wieder eingebüßt. Der Preisverfall afrikanischer Exportprodukte, der Ausbruch der Schuldenkrise und die Demontage des Staates durch die Strukturanpassungspolitik haben dessen ohnehin auf schwachen Beinen stehende Legitimität untergraben, indem ausgerechnet jene Elemente (wie Subventionen für die Modernisierung der Landwirtschaft und Sozialleistungen) demontiert wurden, die geeignet waren, der Masse der Bevölkerung eine gewisse Überlebenssicherheit zu gewähren. Die Folge waren der Rückzug in die Informalität und die Flucht vor dem Zugriff des Staats.

Der afrikanische Staat wird nur dann die notwendige Regulierungskompetenz nach innen und nach außen erlangen, wenn er von der Mehrheit der Bevölkerung als legitim und nützlich akzeptiert wird, d.h. wenn er Überlebenssicherheit garantiert. Angesichts der historischen Rolle des afrikanischen Staates und der Erfahrungen der nachkolonialen Periode ist nicht zu erwarten, dass ein paar demokratische Reformen wie die Einführung von Mehrparteiensystemen ausreichen, um dieses Vertrauen herzustellen.

Bei aller Kritik an der gegenwärtigen Entwicklungspolitik scheint jedoch, dass dort inzwischen einige Kernprobleme Afrikas erkannt und zumindest ansatzweise berücksichtigt werden: Unterstützung nicht bei der Demontage, sondern beim Aufbau von Institutionen, Stärkung von Ansätzen der demokratischen Teilhabe, Rückgriff auf afrikanisches institutionelles Know-how, Stabilisierung sozialer Einrichtungen des Gesundheits- und Bildungswesens durch langfristigere Finanzierungs- und Fördermaßnahmen. Dem stehen jedoch weiterhin rigide Privatisierungs- und Deregulierungskonzepte entgegen, was z.B. in den Verhandlungen über die weitere Öffnung der afrikanischen Märkte im Rahmen des Cotonou-Abkommens und der Doha-Runde der WTO zum Ausdruck kommt. Afrika muss – anders als andere Kontinente – die Institutionen erst entwickeln, die notwendig sind, um in einer globalisierten kapitalistischen Weltwirtschaft nicht nur zu überleben, sondern die eigenen legitimen Interessen durchzusetzen.

„Wozu die anderen Völker der Erde Jahrhunderte Zeit gehabt hatten, sollte in Afrika in Jahren und wenigen Jahrzehnten bewältigt werden: die Integration in eine sehr dynamische Weltordnung, die man nicht aktiv mitgestaltet hatte, aber von der man als abhängige Peripherie ein integraler Teil sein wollte und musste, um zu überleben, um Rückstände aufzuholen, um – zusammengefasst – die Modernisierung an Haupt und Gliedern einzuleiten und zu beschleunigen.“ (Tetzlaff/Jakobeit 2005: 120)

Gegenwärtig besteht die Gefahr, dass unter dem Eindruck steigender Rohstoffeinnahmen und höherer Wachstumsraten die institutionelle Besonderheit Afrikas wieder in Vergessenheit gerät. Denn was vielen Praktikern der Entwicklungspolitik mehr oder weniger bewusst ist, wird auf der Ebene der internationalen Beziehungen ignoriert. Hier wird nach wie vor die Fiktion aufrechterhalten, als verfügten die afrikanischen Staaten in den Verhandlungen mit Transnationalen Konzernen, internationalen Organisationen und anderen Staaten über die gleiche Verhandlungsmacht wie der Rest der Welt, als ginge es nur darum, dass die Regierungen eine „bessere“ Politik machen. Afrika muss seine Institutionen transformieren, um national und international handlungsfähig zu werden. Dazu braucht es Zeit, gezielte Unterstützung beim Aufbau von Organisationen und langfristige, verlässliche und berechenbare finanzielle Hilfe.

Der afrikanische Staat muss der Bevölkerung zeigen können, dass er in der Lage ist, das Überleben seiner Bürger im Rahmen moderner materieller und sozialer Infrastrukturen zu gewährleisten. Das wichtigste öffentliche Gut in Afrika ist Überlebenssicherheit. Solange die modernen Institutionen, solange der afrikanische Staat diese nicht herstellen können, werden sie in ihrer Steuerungskapazität nach innen wie nach außen beschränkt bleiben. Nur einem als legitim betrachteten, steuerungsfähigen Staaten wird es gelingen, die Chance der günstigeren internationalen Rahmenbedingungen zu nutzen, um einen endogenen und nachhaltigen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen.

Literatur:
* Callaghy, Thomas.M. (1988): The State and the Development of Capitalism in Africa: Theoretical, Historical and Comparative Reflections, in: Rothschild, Donald/Chazan, Naomi, The Precarious Balance: State and Society in Africa, Boulder and London
* Coquery-Vidrovitch, Catherine (1992): Afrique noire – permanences et ruptures, Paris
* Elsenhans, Hartmut (2007): Geschichte und Ökonomie der europäischen Welteroberung. Vom Zeitalter der Entdeckungen zum Ersten Weltkrieg, Leipzig
* Godelier, Maurice (1973): Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften, Hamburg
* Grill, Bartholomäus (2005): Ach, Afrika – Berichte aus dem Innern eines Kontinents, München
* Iliffe, John (1983): The Emergence of African Capitalism, Minneapolis
* Jegzentis, Peter/Wirth, Volker (1991): Zum Stand der entwicklungstheoretischen Diskussion in der DDR in den 80er Jahren – ein Literaturüberblick, in: Peripherie, Nr. 41, Münster, S. 71-88
* Massarrat, Mohssen (2006): Kapitalismus – Machtungleichgewicht – Nachhaltigkeit. Perspektiven Revolutionärer Reformen, Hamburg
* Mkandawire, Thandika (2001): Thinking about Developmental States in Africa, in: Cambridge Journal of Economics, Special Issue on African Economic Development in a Comparative Perspective, Vol. 25, Nr. 3, May, Oxford
* Polanyi, Karl, (1994/1978): The Great Transformation, Baden-Baden
* Sablowski, Thomas (2008): Das globale, finanzdominierte Akumulationsregime, in: Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 73, Frankfurt/M., S. 23-35
* Tetzlaff, Rainer/Jakobeit, Cord (2005): Das nachkoloniale Afrika. Politik-Wirtschaft-Geschichte, Lehrbuch, Wiesbaden
* UNCTAD (2007): Economic Development in Africa – Reclaiming Policy Space, New York-Genf

Hinweis:
* Der vorstehende Text ist eine Vorabveröffentlichung aus dem im September 2008 erscheinenden Buch: Jörg Goldberg, Afrika im globalen Kapitalismus. Ein Kontinent zwischen Überleben und Entwicklung, ca. 200 S., PapyRossa: Köln 2008. Bezug: Buchhandel

Veröffentlicht: 15.7.2008

Empfohlene Zitierweise: Jörg Goldberg, Wie funktioniert eigentlich Ökonomie in Afrika? Kapitalismus und afrikanische Produktionsweise, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), 15.7.2008, Luxemburg, (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)