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Finanzkrise: Lettland am Rande des Staatsbankrotts

Artikel-Nr.: DE20090622-Art.25-2009

Finanzkrise: Lettland am Rande des Staatsbankrotts

Globale Schatten über dem Baltikum

Anfang Juni 2009 vermochte die lettische Regierung staatliche Schuldverschreibungen nicht mehr unterzubringen. In- und ausländische Finanzanleger erwarteten eine baldige Währungsabwertung und ließen die Auktion der Staatspapiere ins Leere laufen. Damit standen die Zeichen in Riga auf baldige staatliche Zahlungsunfähigkeit. Eine Nachrichtenanalyse von Joachim Becker.

BIP-Rückgang, Risikoaufschläge und Bankaktien


Um den Internationalen Währungsfonds (IWF), der weitere restriktive Maßnahme forderte und andernfalls mit der Suspendierung von Kreditauszahlungen drohte, zufriedenzustellen und die „Glaubwürdigkeit“ bei den Finanzanlegern wiederherzustellen, leitete die lettische Regierung eine weitere Runde der Kürzung bei den Staatsausgaben ein. Diese beinhalten unter anderem eine weitere starke Kürzung der Gehälter im öffentlichen Dienst, diesmal um 20%, sowie eine Reduktion der Pensionen um 10%. Auch Sozialleistungen sollen weiter gekürzt werden. Nach dieser weiteren Kürzungsorgie im Staatshaushalt verkündete der lettische Premier Valdis Dombrovskis: „Wir waren am Rande des Bankrotts. Aber dank einem Abkommen im Hinblick auf das Sparen ist es uns gelungen, diesem zu entgehen.“

* Neoliberales Musterland: Wie lange noch?

Die Frage ist allerdings, für wie lange. Das neoliberale Musterland Lettland ist die am schnellsten schrumpfende Ökonomie in der EU. Im 1. Vierteljahr 2009 lag das BIP um 18,6% niedriger als im gleichen Vorjahresquartal. Die Arbeitslosenquote erreichte im April 17,4%. Die Gehälter befinden sich nicht nur im öffentlichen Dienst im freien Fall. Der Mindestlohn wurde um etwa ein Viertel gekürzt, im Privatsektor wurden teils Nominallohnsenkungen um 50% vereinbart.

Bei einem derartigen Absturz der Ökonomie fallen auch die Steuereinnahmen drastisch. Von daher ist es kein Wunder, dass die Ende 2008 mit dem IWF vereinbarten Budgetziele nicht erreicht wurden. Die jetzigen Budgetkürzungen werden die Rezession weiter vorantreiben und damit zu weiteren Steuerausfällen führen. Tatsächlich erwartet die Regierung auch nach den jüngsten dramatischen Ausgabenkürzungen immer noch ein Budgetdefizit von 10% bis 11,6% des BIP, was mehr als Doppelte dessen ist, was mit dem IWF vereinbart wurde.

Hauptziel der Maßnahmen scheint neben der Gewinnung fragwürdiger Glaubwürdigkeit die Ingangsetzung einer Deflationsspirale zu sein. Über drastische Einkommenssenkungen sollen die Importe reduziert, über Senkungen von Löhnen und Preisniveau die Konkurrenzfähigkeit wiederhergestellt werden, ohne die nationale Währung, den Lat, abzuwerten. Dabei ist der Wechselkurs des Lat, der stark überbewertet ist, eine, wenn nicht die zentrale Ursache der extremen Leistungsbilanzdefizite der letzten Jahre und der damit einhergehenden Explosion der Auslandsschulden. Extreme Außenhandelsliberalisierung hat in Verbindung mit der Überbewertung der Währung zu einem Importsog geführt und die industrielle Entwicklung verkrüppelt. Der vor allem durch schwedische Banken finanzierte Pseudo-Boom im Finanz- und Immobilienbereich ging an den produktiven Sektoren vorbei. Selbst der IWF-Koordinator für die IWF-Aktivitäten im Baltikum, Joseph Rosenberg, gesteht jetzt ein, dass die mit der neoliberalen Politik verbundene wirtschaftliche Verwundbarkeit in der Krise „einen perfekten Sturm schuf“.

* Risikoreiche, aber unvermeidbare Abwertung

Eine Abwertung des Lat ist aber wegen der hohen Privatverschuldung in Euro, die mehr als 80% der Hypothekar- und Firmenkredite betrifft, ein Tabu. Die SchuldnerInnen haben ihre Einkommen meist in Lat, eine Abwertung würde sie und die Banken, weit überwiegend in schwedischem Eigentum, in große Probleme bringen. In anderen Ländern, wie Estland, Litauen, Bulgarien oder Kroatien mit ganz ähnlichen Modellen und Problemen, wären Folgeabwertungen wohl unvermeidlich.

Verschärfte Bankenkrisen und Abwertung ihrer Aktiva in der Region würden speziell schwedische und österreichische Banken, die im Baltikum bzw. Südosteuropa sehr exponiert sind, empfindlich treffen. Daher stärkt der zuständige EU-Kommissar Joaquín Almunia der lettischen Regierung den Rücken: „Wenn es zu einer Abwertung käme, würde diese sehr schwerwiegende Probleme schaffen und dies wollen wir um jeden Preis vermeiden.“

* Zerstörung der Substanz

Der Preis scheint im Kollaps der Ökonomie und rasanter Verarmung zu bestehen. Die extreme Rezession bringt die Schuldner auch ohne Abwertung in große Probleme. Eine Deflation hätte für die Schuldner ähnliche Wirkungen wie eine Abwertung – die Schuldenlast stiege real gesehen. Und es ist fraglich, ob eine Abwertung überhaupt vermeidbar ist. Die Leistungsbilanz hat sich zwar sehr deutlich gebessert, die Handelsbilanz ist trotz Rückgang des BIP um fast ein Fünftel immer noch deutlich negativ.

Die scharfe Rezession zerstört die Reste noch vorhandener ökonomischer Substanz. Dabei hat jetzt erstmals seit der lettischen Unabhängigkeit eine Diskussion darüber begonnen, dass die lettische Ökonomie eine produktive Basis bräuchte. Auch IWF-Experten argumentieren, dass die bisherigen, jetzt zusammenbrechenden Leitsektoren – Immobilien und Banken – längerfristig nicht in der Lage sein werden, die Mittel für den hohen Schuldendienst auf die enorme Auslandsschuld aufzubringen. Es ist auch nicht erkennbar, wie Lettland einen Beitritt zur Euro-Zone zum jetzigen Wechselkurs ökonomisch bewältigen sollte.

Zahlreiche Experten halten eine Abwertung für kaum vermeidbar und würden einer kontrollierten und eher baldigen Abwertung den Vorzug vor einer späteren, dann aber umso heftigeren Abwertung geben. Sie müsste von flankierenden und stützenden Maßnahmen begleitet sein.

Argentinien hat in der schweren Krise 2001/2002 gezeigt, was eine zu lange aufgeschobene Abwertung für schwere Folgen hat. Die Rezession ist in Lettland bereits jetzt heftiger als sie damals in Argentinien war. In Lettland bewahrheitet sich einmal mehr das lateinamerikanische Diktum: Je größer das Lob des Mainstreams für die Wirtschaftspolitik, umso schlimmer die Krise danach.

Joachim Becker ist a.o. Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Veröffentlicht: 16.6.2009

Empfohlene Zitierweise: Joachim Becker, Finanzkrise: Lettland am Rande des Staatsbankrotts, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, Luxemburg, 16.6.2009 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).