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Lateinamerika: Diesmal ist es anders

Artikel-Nr.: DE20111202-Art.65-2011

Lateinamerika: Diesmal ist es anders

Die Wirtschaftsperspektiven des Subkontinents

Vorab im Web - Nach einer schweren Rezession um die Jahrhundertwende, die fast alle Länder des Subkontinents erfasste und in einigen Ländern, wie Argentinien und Uruguay, zu katastrophalen Abstürzen führte, erlebte Lateinamerika den stärksten und längsten Wirtschaftsboom seit 30 Jahren. Erst mit dem Beginn der weltweiten Banken- und Finanzkrise 2008 kam es zu einer leichten wirtschaftlichen Abkühlung, die aber auch schon wieder überwunden scheint. Wird die zweite Dekade ähnlich günstig wie die erste verlaufen, fragt Dieter Boris.

Mit Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern bzw. Ländergruppen lag das durchschnittliche Wachstum in der ersten Dekade (bis zum Kriseneintritt) bei 5-6%; das Pro-Kopf-Einkommen verbesserte sich deutlich, und die allgemeine Armutsquote sank von ca. 44 (2000) auf 30% (2011). Damit waren über 50 Millionen Menschen aus der Armutszone herausgetreten. In einigen Ländern wurde eine deutliche Vergrößerung der (unteren) Mittelschicht registriert.

* Der Boom und seine Ursachen

Diese Entwicklung verdankte sich nicht nur dem kontinuierlich starken Wirtschaftswachstum, sondern auch dem geringeren Bevölkerungszuwachs und einer abnehmenden „demographischen Abhängigkeit“, d.h. einer günstigeren Relation von arbeitsfähiger und nicht arbeitsfähiger Bevölkerung. Die Steigerung des Beschäftigungsvolumens, eine aktivere Politik staatlichen Sozialtransfers sowie der deutliche Anstieg von Gastarbeiterüberweisungen („remesas") waren weitere Determinanten der Zunahme der Pro-Kopf- Einkommen.

Gleichzeitig kam es in einigen Ländern Lateinamerikas zur spürbaren Anhebung der Minimallöhne sowie zur partiellen Zurückdrängung prekär-informeller Arbeitsverhältnisse. Der kontinuierliche Anstieg der Reallöhne seit der zweiten Hälfte der ersten Dekade des Jahrhunderts trug gleichfalls zur Binnenmarktexpansion und zur relativ lange anhaltenden günstigen Konjunktur bei. Dabei bildeten sich in einigen Ländern sogar die krassen Ungleichheitsverhältnisse in der Einkommensverteilung zurück.

Die stärkste und längste Boomphase seit etwa 30 Jahren beruhte vor allem auf für Lateinamerika vorteilhaften Weltmarktbedingungen, insbesondere auf der dynamischen Nachfrage nach Rohstoffen und Agrargütern und einem entsprechenden Preisanstieg dieser die Exportstrukturen der meisten Länder noch prägenden Produkte. Hinzu kam eine ebenso günstige externe Finanzierung (über Kredite, Staatsanleihen und Direktinvestitionen); die Zinsen sanken, ebenso wie die Risikoaufschläge für Staatsanleihen, kontinuierlich bis zur Krise. Die hohen Devisenerlöse und die dadurch ermöglichten Schuldentilgungen führten zu einem deutlich niedrigeren durchschnittlichen Schuldenstand als noch zu Beginn der Dekade.

Neben diesen externen Determinanten spielten auch interne Faktoren, vor allem die jeweiligen wirtschaftspolitischen Orientierungen der Regierungen, eine maßgebliche Rolle für diese positive Entwicklung. Diese „heterodoxe“ Wirtschafts- und Sozialpolitik bestand zum einen in der Orientierung auf einen niedrigen, tendenziell unterbewerteten Wechselkurs, welcher einerseits exportstimulierend, andererseits protektionistisch für die nationale Produktion wirkte, in der relativen Fixierung der Preise für „öffentliche Güter“ und der Einführung neuer Sozialtransfers, die vor allem aus der erhöhten Besteuerung von Exporterlösen finanziert wurden. Zum anderen müssen die niedrigen Zinsen, vor allen für Konsumentenkredite und für Investitionskredite kleiner und mittlerer Unternehmen, genannt werden. Die schon erwähnte Reduktion der Auslandschulden und damit die Erlangung eines größeren Spielraums für autonome Entscheidungen sowie die Verfolgung einer relativ „konservativen“ Fiskalpolitik führten dazu, dass sich zugleich die Abhängigkeit vieler Regierungen von externen Faktoren und Pressionen verringerte.

* Glimpflich durch die Wirtschaftskrise

Angesichts dieser Umstände kann es nicht überraschen, dass Lateinamerika von der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 weit weniger betroffen war als die USA und Europa, d.h. der Wirtschaftseinbruch war geringer und der Aufschwung erfolgte schneller und wesentlich deutlicher. Im Unterschied zur EU und den USA mit durchschnittlichen Wachstumsraten um 1% in den Jahren 2010/2011 wurden in Lateinamerika wieder Zuwächse von 4-5% registriert. Dies hatte a) mit der geringeren Neigung bzw. Möglichkeit zu spekulativen Derivategeschäften zu tun, b) mit der besseren Bankenkontrolle (die großen Bank- und Finanzkrisen waren schon vorher, in den 90er Jahren, abgelaufen), c) mit einer vorsichtigen Fiskalpolitik (mit mehr oder minder großen Haushaltsüberschüssen) und d) mit Leistungsbilanzüberschüssen (mit zum Teil beträchtlichen Devisenpolstern und Entschuldungsmöglichkeiten).

Aus all diesen Gründen konnten antizyklische staatliche Konjunkturprogramme sofort ins Werk gesetzt werden und ihre Wirkungen entfalten. Auch die leichten Umverteilungseffekte der Sozialpolitik – vor allem in Ländern mit „Mitte-links-Regierungen“ – trugen zur Stimulierung des Binnenmarktes und zur Glättung der Konjunktur bei. Die rasch wieder anziehenden Rohstoffpreise seit Ende 2009 sowie die fast ungebrochenen Nachfrage asiatischer Schwellenländer, aber auch die weitere Expansion der jeweiligen Binnenmärkte waren die Träger und Stützen des raschen Wiederaufschwungs.

* Wandel der Import-Export-Strukturen

Natürlich stellt sich nun mit dem Jahreswechsel 2011/12 die Frage, wie sich die mittelfristige ökonomisch-soziale Entwicklung Lateinamerikas gestalten könnte. Ohne Zweifel ist die kurz- wie mittelfristige Entwicklung auch in Lateinamerika von weltwirtschaftlichen Unsicherheitsmomenten bestimmt; vor allem die Unwägbarkeit der weiteren Tendenzen in den USA und Europa schränken die Präzision von Voraussagen ein. Aber man muss sich vergegenwärtigen, dass deren ökonomisches Gewicht sich für die meisten Länder Lateinamerikas kaum verändert hat oder sogar deutlich rückläufig ist.

Grob gesprochen sind die Handelsbeziehungen zur EU im letzten Jahrzehnt bei ca. 12-14% aller Exporte und Importe Lateinamerikas konstant geblieben. Verschiebungen um etwa 20% innerhalb eines Jahrzehnts haben vor allem zwischen den USA und Lateinamerika stattgefunden: Gingen noch im Jahr 2000 60% aller Lateinamerika-Exporte nach den USA, waren es 2010 nur noch knapp 40%; wurden noch 2000 50% aller Lateinamerika-Importe aus den USA bezogen, so waren es 2010 gerade noch 29% (ECLAC 2011).

Wenn man bedenkt, dass dies Durchschnittswerte sind, die zentralamerikanischen Länder und Mexiko aber immer noch hohe Anteile ihres Außenhandels (60-90%) mit den USA abwickeln (müssen), so wird deutlich, dass die USA als Exportziel bzw. als Importquelle für viele Länder Südamerikas an die zweite oder dritte Stelle gegenüber Asien oder Europa zurückgefallen sind.

Die Veränderung der Handelsströme von und nach Lateinamerika ist vor allem durch das wachsende Gewicht Asiens und vor allem Chinas geprägt. Über ein Fünftel der Exporte und mehr als ein Drittel der Importe Lateinamerikas werden gegenwärtig mit Asien abgewickelt. Nimmt man die gewachsenen Anteile des innerlateinamerikanischen Handelsverkehrs hinzu, so kann man mittlerweile sagen, dass der ehemals (noch vor 30 Jahren) minimale Süd-Süd-Handel für Lateinamerika quantitativ bedeutender geworden ist als der Handel mit den USA und Europa!

Umgekehrt scheint sich die Bedeutung Lateinamerikas als Exportziel und Importquelle der USA im selben Zeitraum (1991-2010) beständig erhöht zu haben. Der Handel der USA mit dieser Region wuchs in den letzten Jahren – außer mit China – schneller als mit jeder anderen Region/Ländergruppe. Im Jahr 2010 wurde Lateinamerika der größte Empfänger von US-Exporten (mit einem Anteil von 23%). 1991 lag dieser Anteil bei bloß 15%. Gleichfalls nahm Lateinamerika als Importquelle für die USA kontinuierlich von 12,8% auf 19% zu, womit Lateinamerika mit China als Importquelle gleichzog. Allerdings konzentriert sich der Außenhandel der USA mit Lateinamerika zu 70-80% auf wenige Länder, vor allem auf Mexiko und die zentralamerikanischen Länder.

* Abnehmende Asymmetrie

Mit der Bedeutungssteigerung Lateinamerikas für den US-Außenhandel einerseits und der Verminderung der Relevanz der USA für die lateinamerikanischen Außenwirtschaftsbeziehungen andererseits hat sich die seit langer Zeit herausgebildete Asymmetrie nicht unwesentlich verringert. Dieser Prozess spiegelt sich wider bzw. wird vorangetrieben von entsprechenden Handelsbündnissen und regionalen Integrationsgebilden (MERCOSUR, ALBA) und der Absage an das – von den USA betriebene – Projekt der Freihandelszone der Amerikas (FTAA/ALCA) durch die Mehrheit der lateinamerikanischen Regierungen im Jahr 2005. (Die USA reagierten darauf, indem sie mit einzelnen neoliberal orientierten Regierungen – z.B. Chile, Kolumbien, Panama – bilaterale Freihandelsverträge abschlossen.)

Auf anderen ökonomischen Feldern wie den ausländischen Direktinvestitionen sind die Verschiebungen nicht so krass, aber ebenfalls sichtbar. Während noch vor zwei Jahrzehnten die USA die Hauptquelle ausländischer Direktinvestitionen in Lateinamerika waren, hat sich dies in den letzten 15 Jahren deutlich zugunsten Europas verändert. Hielten die USA noch Anfang des letzten Jahrzehnts ca. 41% aller ausländischen Direktinvestitionen und die Europäer nur ca. 33%, dürfte sich diese Proportion heute gerade umgekehrt haben. Aus der EU waren Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts 43% aller (kumulierten) ausländischen Direktinvestitionen gekommen (ECLAC 2011).

Bezüglich der Finanzbeziehungen scheint bemerkenswert zu sein, dass mittlerweile einige Länder Lateinamerikas mit bedeutenden Devisenreserven (Brasilien, Argentinien, Chile etc.) zu Gläubigern der USA aufgestiegen sind, da diese Devisenreserven zum Teil in US-Staatsanleihen angelegt wurden (ähnlich wie im Falle Chinas, wenngleich in weit geringerem Umfang).

Zweifellos bleiben die weltwirtschaftliche Entwicklung im Allgemeinen und die der Rohstoffpreise im Besonderen zentrale Determinanten für die meisten Ökonomien Lateinamerikas. Dennoch scheint die ausschließliche Hervorhebung von Tendenzen der „Reprimarisierung“, eines neuen „Extraktivismus“ und einer neuen erhöhten Abhängigkeit vom Weltmarkt in manchen Punkten überzeichnet oder sogar deplaziert zu sein (s. W&E-Hintergrund September 2011).

* Jenseits traditioneller Abhängigkeitsmuster

Grundlegend verschieden zu früheren Perioden und Krisensituationen (zumindest bei einer großen Zahl lateinamerikanischer Länder) sind die aktuelle Verschuldungssituation, der Stand der Devisenreserven und die Abhängigkeit von internationalen Finanzinstitutionen. Die bisherige Fiskalpolitik in vielen Ländern weist ebenfalls in die Richtung, sich nicht durch die äußere Kreditaufnahmen oder durch Begebung von Staatsanleihen übermäßig abhängig zu machen, um etwa fehlende Steuereinahmen im Staatshaushalt zu ersetzen.

Eine relativ autonome Währungspolitik sowie eine auf Binnenmarktexpansion abstellende Geld- und Kreditpolitik, die sich der Inflationsgefahren bewusst ist, verringern gleichfalls die Gefahren und Muster traditioneller externer Abhängigkeiten. Auch der vor kurzem ins Leben gerufene intra-regionale Stabilisierungsmechanismus FLAR („Fondo Latinoamericano de Reservas“), ein gemeinsamer Fonds von Devisenreserven, soll zur regionalen Stabilitätssicherung und zum Ausgleich intra-regionaler Ungleichgewichte eingesetzt werden.

Beim Starren auf Rohstoffpreise und -exporte ist vielfach verloren gegangen, dass manche Länder des Subkontinents im letzten Jahrzehnt auch in der industriellen Entwicklung erhebliche Fortschritte gemacht haben. So ist wenig bekannt, dass zwischen 2003 und 2008 das industrielle Wachstum in Argentinien mit 11,2% jährlich über dem des BIP (8%) lag und der industrielle Sektor erstmals seit fast 40 Jahren in nennenswertem Umfang zusätzlich Beschäftigte absorbierte (jährlich fast 6%). Gleichzeitig explodierten die Industrieexporte förmlich mit einer jährlichen Steigerungsrate von 19%, was mittlerweile dazu führte, dass 26% der industriellen Produktion Argentiniens exportiert werden. Zudem hat sich innerhalb der Industriezweigstruktur eine Bewegung hin zu Branchen mit höherem technologischem Niveau und mit höherer Arbeitskraftintensität vollzogen (Herrera/Tavosnanska 2011).

Fügt man das Mosaik der lateinamerikanischen Ökonomie zusammen, wird man nicht einfach von einer (potenziellen) bloßen Wiederholung der bisherigen Krisenmuster sprechen können. Dies soll keineswegs heißen, dass mittelfristig die günstige Entwicklung der ersten Dekade einfach fortzuschreiben ist. Behauptet werden kann aber, dass bestimmte Engepässe und „Abhängigkeitsfallen“ der Vergangenheit heute vielerorts als vermeidbar angesehen werden. Daher ist im Prinzip ein ähnlicher – wahrscheinlich gegenüber der ersten Dekade etwas abgeschwächter – Wachstumsprozess zu erwarten. Es sei denn, wichtige Schwellenländer in Asien und anderswo geraten gleichzeitig mit den USA und Europa in eine schwere Rezession. Von einer solchen weltwirtschaftlich verallgemeinerten, tiefen und längeren Krise würde natürlich auch Lateinamerika negativ betroffen werden.

Hinweise:

* Herrera, Germán/Andrés Tavosnanska (2011): La industria argentina a comienzos del Siglo XXI, in: Revista CEPAL, No. 104, Agosto, pp 103-122
* Izquierdo, Alejandro/Ernesto Tavi (2011): One Region, two speeds? Challenges of the New Global Economic Order for Latin America and the Caribbean, Inter-American Development Bank: Washington DC, March
* IMF (2011): Regional Economic Outlook Western Hemisphere: Shifting winds, new policy challenges, Washington DC, October
* UN-ECLAC (2011): Latin America and the Caribbean in the World Economy, Santiago de Chile
* World Bank (2011): Latin America and the Caribbean’s long-term growth. Made in China?, Washington DC, September

Veröffentlicht: 2.12.2011

Empfohlene Zitierweise: Dieter Boris, Lateinamerika: Diesmal ist es anders. Wirtschaftsperspektiven des Subkontinents, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 2. Dezember 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)