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Wendepunkt Genua: Revisited ten years after

Artikel-Nr.: DE20110527-Art.31-2011

Wendepunkt Genua: Revisited ten years after

An den Grenzen der Globalisierung

Der weitere Glaubwürdigkeitsverlust der G8 auf ihrem diesjährigen Gipfel in Deauville ist der vorläufige Endpunkt in einem Prozess, der spätestens mit dem Gipfel vor zehn Jahren in Genua begonnen hat. In einem stark beachteten Artikel diagnostizierte Rainer Falk damals das Ende der triumphalistischen Phase der Globalisierung. Wir veröffentlichen diesen Beitrag, der bislang nur in der Printausgabe (07-08-2001) vorliegt, an dieser Stelle erneut.

Noch nie haben so viele Menschen gegen einen G8-Gipfel demonstriert wie in Genua. Und noch nie eskalierte die Gewalt am Rande einer derartigen Veranstaltung so stark. Noch nie war der Aufwand so groß, die Sicherheitskulisse so martialisch, doch das Ergebnis so mager wie bei diesem G8-Treffen vom 20.-22. Juli 2001. Sowohl für das herrschende Politikmanagement als auch für die neue Bewegung für globale Gerechtigkeit wird nach Genua nichts mehr so sein wie zuvor. Nach der triumphalistischen Phase der Globalisierung ist jetzt auch der triumphalistische Antiglobalismus an seine Grenzen gelangt…

Voreilig mutmaßten einige bereits wieder über einen "Sieg der Globalisierungsgegner", als gegen Ende des diesjährigen G8-Gipfels bekannt wurde, daß das nächste Treffen 2002 fernab in einem Bergdorf in den kanadischen Rocky Mountains stattfinden soll. Die Führer der mächtigsten Industrienationen und ihr russischer Juniorpartner gelobten Bescheidenheit: Mit kleinen Delegationen wolle man künftig anreisen, das Format der Treffen solle zurückgestutzt werden, den "Geist von Rambouillet" wolle man wiederbeleben, die Praxis der effizienten Kamingespräche im kleinen Kreis.

* Bestätigung der Kritiker

Doch verkennt sowohl das Bild der in die Flucht geschlagenen G8 als auch deren demonstrative Bußfertigkeit die Ursachen und Motive, die zu den wachsenden Protesten am Rande von Gipfelveranstaltungen geführt haben: Nicht das "Format" derartiger Treffen, sondern deren geringer Beitrag zur Problemlösung (bzw. deren Anteil an der Problemverschärfung) und die fragwürdige Legitimität derartiger Gremien bilden den Hintergrund, vor dem sich seit den 90er Jahren eine neue soziale Bewegung für globale Gerechtigkeit formiert.

Unter allen existierenden multilateralen Organisationsformen stellt die Gruppe der 7 bzw. 8 dasjenige Gremium dar, das globale Repräsentativität am meisten vermissen läßt, obwohl seine Entscheidungen oft verhängnisvolle Auswirkungen für die Welt haben. Selbst der IWF mit seiner extrem asymmetrischen Machtverteilung ist repräsentativer als die G8. Auch wenn die G8-Regierungen demokratisch gewählt sind, handelt es sich um eine exklusive Klubstruktur, von der alle anderen ausgeschlossen sind. In einem solchen Klub kann zwar, wie wir in Genua erlebt haben, auch einmal eine Handvoll Staatschefs aus der Dritten Welt oder der UN-Generalsekretär höchstpersönlich zu Gast sein, über die Mitgliedschaft und die Entscheidungen bestimmt jedoch der Klub selbst.

Die politischen Entscheidungen des offiziellen Gipfels von Genua eignen sich als 100%iger Beleg dafür, daß die Gipfelkritiker Recht haben. Beschlossen wurden: ein G7-Statement zu weltwirtschaftlichen Fragen, ein "Aktionsplan" für Afrika, ein finanzieller Beitrag zum neuen UN-Gesundheitsfonds, ein "Aktionsplan" zur Überwindung der digitalen Nord-Süd-Kluft und ein Abschlußkommuniqué mit betont entwicklungspolitischer Schwerpunktsetzung. Entgegen genommen haben die Staats- und Regierungschefs Berichte ihrer Minister über die "Chancen des digitalen Zeitalters", über "erneuerbare Energieträger" und über die "Stärkung der internationalen Finanzarchitektur" (alle Dokumente im Internet unter: www.genoa-g8.it). EntwicklungspolitikerInnen, etwa Heidi Wiecoreck-Zeul, mögen nach diesem Berg von Papier greifen wie Ertrinkende nach einem Strohhalm.

* Dokumentation des Versagens

Doch dies kann nicht darüber hinweg täuschen, daß in Genua nichts beschlossen wurde, was nicht ohnehin bereits herrschende Praxis war:

* Mit ihrer Zusage von 1,3 Mrd. US-Dollar zum neuen UN-Gesundheitsfonds, mit dem den Krankheiten AIDS, Malaria und Tuberkulose zu Leibe gerückt werden soll, blieben die G8 weit unter der Summe, die die Vereinten Nationen für notwendig halten, nämlich 10 Mrd. Dollar. Relativiert wird die Zusage noch dadurch, daß das Geld keineswegs neu aufgebracht, sondern aus bestehenden Finanztöpfen genommen werden wird.

* Der Afrika-Plan versteht sich nur als unverbindliches Rahmenwerk; er soll erst bis zum nächsten Gipfel in Kanada konkrete Gestalt annehmen.

* So vollmundig die entwicklungspolitischen Versprechen, sei es zur Hilfe bei der Überwindung der digitalen Kluft, sei es zur Unterstützung des "Africa Renaissance Plan" der afrikanischen Präsidenten, in Genua ausfielen - nirgends gingen sie mit finanziellen Zusagen einher, die geeignet wären, den Abwärtstrend bei der öffentlichen Entwicklungshilfe zu stoppen oder gar umzukehren.

* Auch in puncto Entschuldung haben die G8 lediglich die laufende HIPC-Initiative für die ärmsten Länder bestätigt, von der heute schon klar ist, daß sie nicht weit genug geht, um eine erneute Überschuldung der Betroffenen in ein paar Jahren zu verhindern.

* Obwohl sich neue Finanzkrisen am Horizont abzeichneten (Argentinien, Türkei), haben die G8 in Genua die Idee endgültig begraben, daß die Welt eine "Neue Internationale Finanzarchitektur" braucht, wenn die gefährliche Instabilität auf den Finanzmärkten zurück gedrängt werden soll.

* Auch umweltpolitisch markiert Genua ein eindeutiges Versagen der G8. Zwar wird im Kommuniqué die Notwendigkeit betont, die Exportkreditagenturen (ECAs) in den G8-Ländern mit "hohen Umweltstandards" zu versehen. Doch wiegt dies wie ein Trostpflästerchen angesichts der Unfähigkeit, die Widersprüche in der Klimapolitik zu überbrücken, und der Vertagung der Klimaprobleme auf eine globale Klimakonferenz in das Jahr 2003.

* Schließlich: Mit Blick auf die angestrebte neue handelspolitische WTO-Runde haben die G8 den Entwicklungsländern erneut "verbesserten Marktzugang" zugesagt - ein altes Versprechen, das sie bei vorhandenem politischen Willen schon längst hätten einlösen können. Es ist jedoch unklar, ob sich der Süden auf diese Weise für eine neue WTO-Runde ködern läßt, bei der ganz andere Fragen im Mittelpunkt stehen werden, sofern es die Industrieländer schaffen, bis dahin ihre eigenen handelspolitischen Gegensätze aus dem Weg zu räumen.

Insgesamt gesehen war das Gipfeltreffen von Genua also ein Fehlschlag, einen Wendepunkt im Sinne einer politischen Kehrtwende der G8 repräsentierte es nicht. So hohl die in Genua nochmals gesteigerte entwicklungspolitische Rhetorik und die Ankündigungen, die "Globalisierung zum Nutzen der Armen und der Bürger gestalten" (Genua-Kommuniqué) zu wollen, klingen - in ihnen spiegelt sich jedoch auch das implizite Eingeständnis wider, daß der Triumphalismus, mit dem das Projekt der neoliberalen Globalisierung einst in Szene gesetzt worden war, ein für allemal der Vergangenheit angehört. Schon in Lyon 1996 hatte es geheißen: "Globalisierung zum Nutzen aller" (s. W&E 07-08/96). Jetzt zeigt sich, wie wenig eine bloße Ankündigungspolitik in der Praxis bewirkt hat.

* Bewegung für globale Gerechtigkeit

Auch auf Seiten der neuen Widerstandsbewegungen gegen den Globalismus der Mächtigen steigerte sich das Crescendo nach dem Scheitern des Multilateralen Investitionsabkommens (MAI) und der WTO-Ministertagung in Seattle gelegentlich zu einer Art Triumphalismus, als kennzeichne die Bewegung eine schier unaufhaltsame Aufwärtsdynamik. In Genua hat die Zahl derer, die gegen die globalen Ungerechtigkeiten auf die Straße gingen, vor dem Hintergrund einer explosiven Szenerie und dank des Elans der italienischen Aktiven nochmals zugenommen.

"300.000 demonstrierten friedlich - 1.000 zerstörten alles", titelte die alt-ehrwürdige, von Antonio Gramsci gegründete "Unità" am Sonntag nach der größten Demonstration in der Gipfel-Geschichte. Die Zahlen mögen zu hoch gegriffen, die Aussage unter dem Schock der Ereignisse zu zugespitzt sein, und dennoch könnte Genua für die neue Bewegung für globale Gerechtigkeit zu einem Wendepunkt werden, ganz und gar nicht im Sinne eines Rückzugs, wohl aber im Sinne eines Katalysators, der überfälligen Debatten und Klärungsprozessen neuen Schwung gibt.

In Genua erlebten wir zum Teil hautnah jene Logik der gewaltsamen Eskalation, vor der viele nach den tragischen Ereignissen am Rande der EU-Ratstagung in Göteborg gewarnt hatten. Den "Gipfel" stellten zweifellos die tödlichen Schüsse der italienischen Polizei auf den 23-jährigen Carlo Giuliani dar. Vom wahllosen Tränengas- und Schlagstock-Einsatz bis zum nächtlichen Überfall des Gebäudes, in dem das Genua Social Forum (GSF), das die Proteste vor Ort koordinierte, untergebracht war, zogen die Carabinieri so ziemlich alle Register, wie man sie sonst nur aus Bürgerkriegssituationen kennt. Schon vor dem offenen Ausbruch der Gewalt durchzog die Altstadt Genuas, mit ihren meterhohen Absperrungen und ihrem in den Sicherheitsvorkehrungen erstickten sozialen Leben, eine Atmosphäre wie nach einem Militärputsch.

* Notwendige Klärungsprozesse

Eine besonders verhängnisvolle Rolle innerhalb des Eskalationsszenariums spielte offensichtlich das (mindestens) faktische Zusammenspiel zwischen der Polizei und dem sog. Schwarzen Block. Diese Gruppierung ist, wie auch aus der Geschichte des politischen Anarchismus bekannt, inzwischen nicht nur von der Polizei vielfach infiltriert, sondern erweist sich insgesamt als "nützliches Instrument der Polizeistrategien" (so Riccardo Petrella auf dem GSF) bei der Diskreditierung der gesamten Protestbewegung.

Die Bewegung für globale Gerechtigkeit kann den damit einher gehenden Gefahren und ihrer Selbstzerstörung letztlich nur dann wirksam entgegenwirken, wenn sie eine klare Trennlinie gegenüber derartigen Provokateuren zieht. Dies schließt - über die politische Isolierung hinaus - auch das Nachdenken über Maßnahmen ein, die den friedlichen Ablauf von Demonstrationen sicherstellen können. Einen ersten (sicherlich noch unzureichenden) Vorschlag in dieser Richtung hat in Genua die Londoner New Economics Foundation, die schon zahlreiche Gegengipfel ("The Other Economic Summit") mit organisiert hat, gemacht: Sie plädiert für einen "Code of Protest" mit einer Selbstverpflichtung auf gewaltfreie Aktionsformen (s. im Internet unter: www.neweconomics.org).

Wichtiger noch ist jedoch die Fortführung der inhaltlichen Debatte. Wie u.a. Walden Bello von Focus on the Global South in Genua hervorgehoben hat, besteht die große Herausforderung für die Opposition gegen die konzernorientierte Globalisierung darin, eine programmatische Alternative zu entwickeln, die den Globalisierungsprozess mit den Werten von Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit und ökologischer Nachhaltigkeit in Einklang bringt. Die nächste Station der Bewegung für globale Gerechtigkeit heißt deshalb Porto Allgere, wo im Januar 2002 das 2. Weltsozialforum stattfindet.

Veröffentlicht: 27.5.2011

Empfohlene Zitierweise: Rainer Falk, Wendepunkt Genua: Revisited ten years after, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 27. Mai 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)