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Wie Niebel die deutsche Hilfe umkrempelt

Artikel-Nr.: DE20111112-Art.59-2011

Wie Niebel die deutsche Hilfe umkrempelt

Die neue Wirklichkeit der Entwicklungspolitik

Nur im Web - Im November 2011 feiert das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) den 50. Jahrestag seiner Gründung. Das Jubiläum fällt in eine Zeit des fundamentalen Wandels der Rahmenbedingungen deutscher Entwicklungspolitik. Der neue Minister, Dirk Niebel (FDP), spricht von einem „radikalen Kurswechsel“. Der jüngste Bericht zur „Wirklichkeit der Entwicklungshilfe“ analysiert die Gefahren dieses Wechsels. Eine W&E-Zusammenfassung.

Angesichts der Veränderungen in den globalen ökonomischen und politischen Kräfteverhältnissen, die sich im Bedeutungszuwachs Chinas besonders deutlich
zeigen, erscheint die Zweiteilung der Welt in Industrie- nd Entwicklungsländer bzw. in einen reichen Norden und armen Süden mehr und mehr anachronistisch. China investiert mittlerweile Milliardenbeträge in das krisengeplagte Griechenland, Brasilien hält 2011 mehr US-amerikanische Staatsanleihen als Deutschland und die Schweiz zusammen. Mit den globalen wirtschaftlichen und politischen Umbrüchen stehen aber auch die Konzepte und Strategien der herkömmlichen Entwicklungspolitik auf dem Prüfstand.

* Vor Busan: Rückfall in die Projektitis?

Die Bundesregierung hat sich vorbehaltlos dazu verpflichtet, die Wirksamkeit der deutschen EZ zu steigern und zu diesem Zweck die Pariser Erklärung und den Aktionsplan von Accra umzusetzen. Die gegenwärtige Politik des BMZ mit der angestrebten Verlagerung von der multilateralen zur bilateralen EZ, der Reduzierung der Budgethilfe und einer verstärkten Projektkooperation mit deutschen Unternehmen kann aber zu einer zusätzlichen Ausweitung der Zahl bilateraler Projekte führen und birgt die Gefahr des Rückfalls in die „Projektitis“. Dies stünde im Widerspruch zum Geist der Pariser Erklärung.

Die Bundesregierung setzt sich besonders aktiv für eine bessere Arbeitsteilung der Geber in den Empfängerländern ein. Jedes EU-Mitglied soll sich in seiner EZ in einem Land auf maximal drei Sektoren konzentrieren. Zugleich soll die Zahl der Kooperationsländer reduziert werden. In der Praxis fand diese Reduzierung allerdings bislang kaum statt. Zwar hat das BMZ die Zahl seiner offiziellen Partnerländer auf 57 verringert und plant perspektivisch eine weitere Reduzierung auf 50 Länder, faktisch wurden aber noch 2008 in mindestens 140 Ländern Projekte mit deutschen EZ-Mitteln durchgeführt.

Allerdings besteht die Gefahr, dass der Rückzug aus einzelnen Partnerländern und die damit verbundene Reduzierung der EZ-Mittel dort die Verwirklichung der MDGs, etwa im Gesundheitsbereich, gefährdet, wenn die Einnahmeausfälle nicht durch heimische Mittel oder die Erhöhung der ODA anderer Geber kompensiert werden.

* Überdurchschnittliche Lieferbindung der deutschen EZ

Der Anteil der bilateralen ODA Deutschlands, die an die Lieferung bestimmter Güter und Dienstleistungen gebunden ist, lag 2009 bei 27%, und damit wesentlich über dem Durchschnitt aller westlichen Geber. Von den bilateralen TZ-Mitteln Deutschlands („Technische Hilfe“) waren sogar 51% liefergebunden - mehr als in jedem anderen OECD-Geberland. Durch die verstärkte Kooperation des BMZ mit der Privatwirtschaft kann sich dieses Problem verschärfen. Denn in den Fällen, in denen EZ-Mittel gezielt nur an deutsche oder europäische Unternehmen vergeben werden, beispielsweise im Rahmen von PPP-Vorhaben, besteht faktisch Lieferbindung.

* Verstärkte Ergebnisorientierung?

Das BMZ hat angekündigt, mit dem Konzept der ergebnisbasierten Entwicklungsfinanzierung „radikal neue Wege“ zu gehen. Zunächst soll es eine Erprobungsphase mit einigen Pilotprojekten geben. Dies ist durchaus sinnvoll, denn falsch verstandene Ergebnisorientierung birgt eine Vielzahl von Problemen. So wird die demokratische Eigenverantwortung der Partner geschwächt, wenn die Ergebnisse nicht unter Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Parlamenten definiert werden; die Vereinbarung konkreter Resultate bedeutet für die betroffenen Länder zusätzliche „Ex-post-Konditionalitäten“; die Erfolgskontrolle kann mit erheblichem Berichts- und Verwaltungsaufwand verbunden sein; der Trend zu möglichst einfachen und leicht überprüfbaren Projekten steigt, während längerfristige strukturelle Maßnahmen, etwa zur Demokratieförderung, möglicherweise vernachlässigt werden.

Insgesamt besteht die Gefahr, dass die Verantwortung für die Wirkungen und damit das „Ausfallrisiko“ vollständig auf die Regierungen der Partnerländer abgewälzt werden. Bei der Ausrichtung der Entwicklungspolitik auf die ergebnisorientierte Finanzierung müssen diese Risiken und Nebenwirkungen berücksichtigt werden.

* Hilflos gegenüber globalen Herausforderungen

Die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel stiegen 2011 auf ein Allzeithoch. Neben klimabedingten Ernteausfällen und der verstärkten Nutzung von Ackerflächen zur Produktion von Agrotreibstoffen sind zunehmend auch Spekulationsgeschäfte an den Rohstoffbörsen für die Preisanstiege verantwortlich. Die G20 hat unter der diesjährigen Präsidentschaft Frankreichs das Thema hoch auf ihre Agenda gesetzt. Im Juni 2011 verabschiedeten die Agrarminister der G20 einen „Aktionsplan zur Preisvolatilität bei Nahrungsmitteln und zur Landwirtschaft“. Dieser Aktionsplan wird aber dem Ausmaß der globalen Ernährungskrise nicht gerecht.

Die unbewältigten Risiken im Zusammenhang mit den instabilen Finanzmärkten, der globalen Ernährungsunsicherheit und der drohenden Erderwärmung haben die Grenzen eines Entwicklungs- und Wohlstandsmodells deutlich gemacht, das primär auf Wirtschaftswachstum und die Problemlösungskräfte der Märkte setzt und dabei Verteilungs-, Umwelt- und Menschenrechtsaspekte unterbelichtet. Dies hat im Vorbereitungsprozess zur „Rio+20“-Konferenz der UN für nachhaltige Entwicklung zur verstärkten Auseinandersetzung über alternative Wohlstandsmodelle und Entwicklungsstrategien geführt.

Das BMZ hat auf diese Herausforderungen reagiert, indem es in den vergangenen zwölf Monaten zu wichtigen Themen wie den Menschenrechten,
der Bildung und der Entwicklung ländlicher Räume neue Strategien und Positionspapiere formuliert hat. Sie sollten im entwicklungspolitischen
Gesamtkonzept des BMZ gebündelt werden. Dies ist allerdings nicht gelungen. Das neue Konzept bleibt vage und bietet nur unzureichende Antworten auf die globalen Herausforderungen.

* ODA-Kürzungen geplant

Die öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) der 23 westlichen Geberländer hat 2010 den historischen Höchststand von 128,7 Mrd. US-Dollar erreicht. Dennoch lag die ODA-Quote, d.h. der Anteil der ODA am Bruttonationaleinkommen (BNE) dieser Länder, mit 0,32% lediglich 0,01 Prozentpunkte über dem Wert des Vorjahres. Die deutsche ODA ist 2010 um fast eine Milliarde Euro von 8,67 auf 9,61 Mrd. Euro gestiegen. Nach dem Absturz im Vorjahr hat die deutsche ODA damit etwa das Niveau des Jahres 2008 wieder erreicht. In der Rangliste der Geber ist Deutschland, gemessen an der absoluten Höhe seiner ODA-Leistungen dennoch hinter die USA, Großbritannien und Frankreich auf Platz 4 zurückgefallen.

Im 50. Jahr des Bestehens des BMZ ist die ODA im Verhältnis zur Wirtschaftskraft Deutschlands mit 0,38% geringer als im Gründungsjahr 1961 (0,45 Prozent). Statt den BMZ-Etat zu erhöhen, plant die Bundesregierung derzeit die Kürzung des Etats bis 2015 um 368,6 Mio. Euro gegenüber dem Jahr 2011.

* Kohärenz-Strategie Fehlanzeige

Das BMZ stellt zu Recht fest, dass alle Wirksamkeitsdebatten wirkungslos bleiben, wenn keine Kohärenz mit anderen Politikfeldern gelingt. Denn es gibt kaum ein Politikfeld, das keine direkten oder indirekten Auswirkungen auf Entwicklung hat. Ob eine Regierung mit ihrer Politik den Menschen in den Ländern des Südens nützt oder eher schadet, hängt entscheidend davon ab, welche Handels- und Investitionspolitik sie betreibt, was sie gegen Kapitalflucht in Steueroasen unternimmt, ob sie gegen die Spekulation an den Rohstoffbörsen vorgeht, und was sie für den globalen Klimaschutz tut.

Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, eine Strategie zur Verwirklichung des Prinzips der Politikkohärenz im Interesse nachhaltiger Entwicklung zu verabschieden, die für alle Ressorts verbindlich ist. Hierbei sollte das menschenrechtsbasierte Leitbild nachhaltiger Entwicklung die Grundlage bilden.

Hinweis:
* Jens Martens, Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe 2011: Eine kritische Bestandsaufnahme der deutschen Entwicklungspolitik, 60 S., terre des hommes/Welthungerhilfe: Bonn-Osnabrück 2011. Bezug: über www.tdh.de

Veröffentlicht: 12.11.2011

Empfohlene Zitierweise: W&E-Zusammenfassung, Wie Niebel die deutsche Hilfe umkrempelt, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 12. November 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)