Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Die Krisen des Mikrokredits

Artikel-Nr.: DE20160208-Art.04-2016

Die Krisen des Mikrokredits

Klein = gut?

Vorab im Web - Seit den 1990er Jahren sind Institutionen, die die Armut bekämpfen wollen, von der Idee der Mikrofinanzierung begeistert – also von der Idee kleiner kurzfristiger Kredite vor allem für Frauen, angeblich für die Gründung von Kleinstunternehmen. Muhammed Yunus, Gründer der wegweisenden Grameen Bank in Bangladesh, erhielt 2006 sogar den Friedensnobelpreis für die Entwicklung und Verbreitung eines Konzeptes, welches – in seinen Worten – „Armut ins Museum verweisen“ würde. Von Amy Kazmin.

Doch seit Mikrofinanzierung zu einem globalen Geschäftsmodell geworden ist, hat sie auch ihren moralischen Glanz verloren. Trotz aller Behauptungen, „das Richtige zu tun durch Gutes tun“, wurde im letzten Jahrzehnt die Wirklichkeit mehrfach schmerzlich sichtbar, als Kleinkreditbanken in Ländern wie Marokko und Nikaragua feststellten, dass ihre Kunden die Kredite nicht zurückzahlen konnten oder wollten. Den größten Schock erlebte vor fünf Jahren der indische Bundesstaat Andhra Pradesh: Nach einer Serie von Selbstmorden hochverschuldeter Kreditnehmer verboten kommunale Behörden jedwede Bedienung privater Mikrokredite. Etwa 1,2 Mrd. Dollar Schulden wurden schließlich abgeschrieben mit bankrotten Institutionen und entsetzten Investoren als Folge.

● Ursprungsidee auf den Kopf gestellt

Diese Turbulenzen haben eine Fülle wissenschaftlicher Kritiken ausgelöst, die den Mythos der Mikrofinanzierung in Frage stellen und das tatsächliche Verhalten der Kreditgeber einer Prüfung unterziehen. Die Publikation The Crises of Microcredit (s. Hinweis) stellt einen wichtigen Beitrag zu dieser an Bedeutung gewinnenden Debatte dar. Es handelt sich um eine Sammlung prägnanter und sehr gut lesbarer Abhandlungen, die darlegen, wie und warum dieses Modell in unterschiedlichen sozialen, politischen und kulturellen Kontexten Schiffbruch erlitten hat.

Auf der Grundlage von Feldforschung mit Befragungen von Kreditberatern und Kreditnehmern untersuchen die Artikel sowohl aktuelle als auch potentielle Krisen der Mikrofinanzierung in der Dominikanischen Republik, in Senegal und dem indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Die Herausgeber – die französischen Wirtschaftswissenschaftler Isabelle Guérin und Jean-Michel Servet sowie der belgische Fachmann für Managementfragen Marc Labie – vertreten die These, dass die Mikrofinanzierung im Vergleich zur Urspungsidee auf den Kopf gestellt wurde.

Was eigentlich als ein „Sozialhilfeprojekt zur Mobilisierung finanzieller Instrumente“ gedacht war, ist heute ein Geschäftsbereich von „Finanzinstituten mit einer (in manchen Fällen nur behaupteten) auf Sozialhilfe zielenden Mission“. Dieser „profitorientierte Ansatz“, so die Autoren, „hat zu einer wilden Suche nach Kunden geführt, zur Konzentration der Mittel auf kleine Gebiete, um Kosten zu sparen, und zu einem beträchtlichen Druck auf die Kreditberater, denen Rentabilitätsziele vorgegeben wurden, was sich wiederum nachteilig für die Kunden auswirkte“.

● Profitstreben statt sozialer Ziele

Diese Veränderung der ursprünglichen Zielsetzung – mehr Profitstreben statt sozialer Ziele – ist die Hauptursache aller Mikrokredit-Rückzahlungskrisen. Allerdings werden diese Krisen in unterschiedlichen Graden auch ausgelöst durch „miteinander verschränkte und sich wechselseitig verstärkende“ Faktoren wie regulatorische Mängel und politische Einmischung, Überflutung bestimmter Gebiete mit Krediten sowie kollektiver Widerstand gegen Rückzahlung.

Mikrokredit-Pioniere wie Yunus haben versucht, zwischen “guten” sozial orientierten, nicht auf Gewinn abzielenden Kleinstkreditgebern und „schlechten“ kommerziellen Kreditgebern zu unterscheiden. Die Autoren der Studie wenden sich jedoch gegen eine solche vereinfachende Unterscheidung und stellen fest, dass viele kommerzielle Kleinstkreditgeber als gemeinnützige nichtstaatliche Organisation begonnen haben.

Ein spannender Beitrag über Andhra Pradesh aus der Feder des Anthropologen David Picherit zeichnet den Wandel einer entwicklungsorientierten NGO zu einem gewinnorientierten Unternehmen nach, das stillschweigend auf Gewalt setzte, um sicherzustellen, dass die Kunden eine einhundertprozentige Rückzahlungsquote einhielten, welche nötig war, um Investoren zu beeindrucken. „Es gab keine ausdrücklichen Anweisungen, unsere Muskeln spielen zu lassen, aber jeder wusste, wie man das Geld zurück bekam“, sagte ein ehemaliger Bankangestellter dem Autor. Auch anderswo in diesem Bundesstaat, so Picherit, „kam es zu regelmäsigen Formen der physischen, sexuellen und verbalen Gewaltanwendung, um mit Kreditangelegenheiten fertig zu werden.“

● Verfehlter Gründungsmythos

In einem wichtigen Beitrag von Guérin und Servet wird auch der hoch geschätzte Gründungsmythos der Mikrofinanzierung – die städtischen Slums und ländlichen Gebiete in den Entwicklungsländern stecken voller unternehmerischer Chancen, die nur auf erschwingliches Kapital warten – auf den Prüfstand gestellt. „Die Glaubwürdigkeit von Mikrokrediten beruht zum Teil auf der Annahme, dass Kleinstunternehmen hohe Gewinne abwerfen. Die Beweislage erweist sich jedoch als dürftig“, beobachten die Autoren. Hingegen zeigt sich, dass viele Mikrobetriebe wegen geringer Nachfrage vor Ort, harter Konkurrenz oder unzureichender technischer Qualifizierung der Unternehmer scheitern.

Tatsächlich werden Mikrokredite oft für konsumptive Zwecke verbraucht, um Notlagen oder Liquiditätsprobleme zu meistern, die Kosten sozialer oder religiöser Feiern zu begleichen oder anspruchsvolle Verbrauchsgüter zu kaufen. Solche Kredite, die in vielen Fällen neben anderen informellen Anleihen aufgenommen werden, führen zu untragbaren Schuldenbelastungen bei zahlreichen Kreditnehmern, die dann mit der Rückzahlung zu kämpfen haben.

● Ein anderer Ansatz

Diese Publikation sollte von allen gelesen werden, die sich für das Thema interessieren. Trotz des düsteren Bildes, das sie zeichnen, lehnen die Autoren die Idee der Mikrofinanzierung – oder, genauer gesagt, von breiter verstandenen Finanzdienstleistungen – als Instrument der Armutsbekämpfung nicht kategorisch ab. In ihren Schlussfolgerungen fordern sie jedoch einen neuen Ansatz für solche Dienstleistungen, der von den Menschen ausgeht und weniger von Marktmechanismen abhängig ist.

„In Armut lebende Menschen brauchen – wie jeder sonst auch – einen Zugang zu funktionierenden, sicheren, respektvollen und verlässlichen Systemen, um ihre Finanzbedürfnisse zu decken“, schreiben die Autoren. „Die größte Herausforderung besteht darin, die Bedingungen herauszufinden, die es möglich machen, dass Finanzdienstleistungen den armen und wirtschaftlich schwachen Gemeinschaften nützen und nicht nur den Finanzinstituten und ihren Verbündeten.“

© Financial Times

Amy Kazmin ist Südasien-Korrespondentin der Financial Times.

Hinweis:
* Isabelle Guérin/Marc Labie/Jean-Michel Servet (eds.), The Crises of Microcredit, 288 pp, Zed Books: London 2015. Bezug: Buchhandel.

Posted: 11.2.2016

Empfohlene Zitierweise:
Amy Kazmin, Die Krisen des Mikrokredits. Klein = Gut?, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 11. Februar 2016 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.