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Argentinien vor einem neuen Default?

Artikel-Nr.: DE20220120-Art.01.01-2022

Argentinien vor einem neuen Default?

Schuldenkrise 2022: Entscheidendes Jahr am Rio de la Plata

Im Frühjahr dieses Jahres wird Argentinien entweder erneut (nach 2002) in eine umfassende Staatspleite („default“) geraten – oder es wird mit mindestens zwei seiner Gläubiger(-Gruppen) zu einer Umschuldungsvereinbarung kommen müssen. Nachdem die 2019 an die Macht gekommene peronistische Regierung unter Alberto Fernandez sich noch im gleichen Jahr mit den Anleihezeichnern des Landes auf eine umfassende Schuldenrestrukturierung geeinigt hat, sind der IWF und der Pariser Club die kritischsten Gläubiger des Landes, schreibt Jürgen Kaiser.

Den Mitgliedern des Pariser Clubs – das sind im Wesentlichen die traditionellen westlichen Gläubigerländer mit Forderungen aus öffentlich verbürgten Handelsgeschäften und aus der Entwicklungszusammenarbeit – schuldet Argentinien rund 3 Mrd. US-Dollar. Diese waren schon im Frühjahr 2019 fällig. Entgegen seinem sonstigen Umgang mit kritisch verschuldeten Ländern hat der Club unter den beteiligten Gläubigern aber seinerzeit keinen Konsens darüber hergestellt, dass Argentinien als Land im Zahlungsausfall zu bezeichnen sei.

IWF und Pariser Club als Hauptgläubiger

Nicht zuletzt Deutschland hatte sich dann 2020 erneut dafür eingesetzt, dass das faktische Moratorium für Argentinien stillschweigend um ein weiteres Jahr verlängert wird. Das müsste im Mai 2022 erneut geschehen – oder Argentinien müsste zahlen. Das wird ihm nach dem dramatischen Einbruch der Wirtschaft in den Corona-Jahren 2020 und 2021 schwerfallen.

Wichtiger noch als eine weitere Vereinbarung mit dem Pariser Club sind für Argentinien seine Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem IWF: Im März stehen die ersten großen Raten von rund 2,6 Mrd. US-Dollar auf das laufende Kreditabkommen an. Im gesamten Jahr 2022 muss der Fonds knapp 19 Mrd. US-Dollar zurückbezahlt haben. Neben den regulären Tilgungen gehören dazu auch die Aufschläge, die ein Land zahlen muss, wenn es mehr als 185% seiner regulären Quote an IWF-Mitteln in Anspruch nimmt oder innerhalb der Quote zu spät zurückzahlt.

Eine wichtige Frage für Argentinien auch im Hinblick auf künftige ausländische Kreditaufnahmen sowie sein Verhältnis zum IWF ist deshalb, wie es zu einer solch exorbitanten Verschuldung bei der Washingtoner Institution kommen konnte. Genau dazu hat der IWF das im 2018 bewilligte und 2019 abgebrochene Programm in einem erstaunlich selbstkritischen Bericht nun ausgewertet.

Das Programm von 2018

Im Juni 2018 einigte sich die damalige argentinische Regierung unter Präsident Macri mit dem IWF auf ein Stand-By-Abkommen, welches nach seiner Ausweitung im Oktober desselben Jahres das größte Kreditprogramm in der IWF-Geschichte wurde: 41 Mrd. Sonderziehungsrechte (SZR), das entspricht 57 Mrd. US-Dollar, sollte es umfassen. Das entspricht 1277% der argentinischen Quote im IWF. Die 2019 gewählte neue peronistische Regierung unter Präsident Fernandez kündigte das Abkommen im Juli 2020, nachdem von der Gesamtsumme 32 Mrd. SZR (45 Mrd. US-Dollar) ausgezahlt waren, die heute den größten Einzelposten unter den Gesamtschulden Argentiniens ausmachen.

Warum war das Programm nicht erfolgreich?

Zentral war, dass beide Seiten 2018 davon ausgingen, Argentinien habe kein Solvenz-, sondern lediglich ein Liquiditätsproblem. Entsprechend waren die Mittel des IWF ursprünglich nur als „Notfallreserven“ („precautionary“) gedacht, auf die die Regierung bei normalem Programmverlauf gar nicht zugreifen müsse. Sie sollten lediglich externen Investoren signalisieren, dass Argentinien auf jeden Fall zahlungsfähig bleiben würde. Der Notfall trat indes sehr schnell ein, da die Hartwährungsreserven in Abwesenheit von Kapitalverkehrsbeschränkungen vor allem die Flucht aus der unter Inflationsdruck stehenden nationalen Währung Peso finanzierten, ohne in der erhofften Weise Kapitalzuflüsse aus dem Ausland anziehen zu können. So wurde der Charakter des Programms in „fully disbursing“ verändert.

Fehler des IWF

Aus seiner Sicht ist der Fonds angesichts der schwierigen Geschichte zwischen der Institution und Argentinien zu zurückhaltend mit der Formulierung von Konditionen gewesen. Man hat aus Rücksicht auf Präsident Macris Interesse zu viele eigentlich notwendige (Austeritäts-)Maßnahmen nicht in das Programm integriert. Die Hoffnung dabei war, dass nach einem Wahlsieg Macris diese beiden Einschränkungen wegfallen und die notwendigen Maßnahmen ab 2020 ergriffen werden könnten.

Zwar wurden im Programm selbst und in den vier Überprüfungen bestehende Risiken deutlich benannt. Es gab aber trotzdem keine Planungen für den Fall, dass Argentiniens Performance sich nachhaltig verschlechtern sollte. Vielmehr wurde auf eine fast gespenstische Art angenommen, dass die jeweils identifizierten Risiken schon nicht eintreten würden.

Der IWF räumt ein, dass er, als die Nichterreichung von Zielen immer sichtbarer wurde, entweder das Programmvolumen hätte ausweiten oder sein weiteres Engagement an eine Umschuldung hätte binden müssen. Zu keiner Zeit war das Programm trotz seiner enormen Größe so umfangreich, dass Argentinien nicht zusätzlich auf Mittel des Kapitalmarkts angewiesen gewesen wäre.

Der kategorische Ausschluss von Umschuldungen führte dazu, dass immer absurdere Ziele im Blick auf die fiskalische Konsolidierung gesetzt werden mussten – bis hin zu einem Gesamtvolumen von 26,1% für die ursprüngliche Schuldenquote von 40% des BIP. Das heißt: der Staat hätte mehr als jeden vierten Peso nicht mehr ausgeben dürfen. Solche Konsolidierungen wurden selbstverständlich nie erreicht. Dass in Washington an sie geglaubt wurde, führte aber dazu, dass die notwendige Umschuldung aufgeschoben und dadurch für alle Beteiligten teurer und schmerzhafter wurde, als wenn sie zeitig in Angriff genommen worden wäre – ein Problem, auf das auch früher (2014 und 2020) vom IWF hingewiesen worden war.

Das Programm wurde auch nicht gestoppt, als der IWF die vor Wahlen üblichen Zusicherungen aller aussichtsreichen Kandidaten, das Programm fortführen zu wollen, nicht erhielt. Vielmehr kündigte der spätere Wahlsieger Alberto Fernandes bereits vor der Wahl an, einzelne Aspekte neu verhandeln zu wollen. Trotzdem wurde das Programm fortgeführt. Besonders pikant dabei: Das Office of Risk Management des IWF, welches in derartig außergewöhnlichen Fällen eigentlich zwingend konsultiert werden muss, wurde in den Überprüfungsprozess überhaupt nicht einbezogen. Auch das Internal Evaluation Office (IEO) des IWF hatte schon bezüglich der 2000er Krise moniert, dass eine Solvenzkrise wie eine Liquiditätskrise behandelt worden war; trotzdem wurde der Fehler 2018 wiederholt.

Worüber der Bericht nicht spricht

Die genannten (und weitere) Fehleinschätzungen des selbstverständlich nicht betriebsblinden IWF-Stabes konnten nur deshalb getroffen werden, weil die Vorgabe des Programms darin bestand, die der Trump-Administration nahestehende Regierung Macri um jeden Preis im Amt zu halten. So wurden bestehende Zahlungsverpflichtungen übersehen, unrealistische Wachstumsaussichten akzeptiert und bereits früher vom IEO und anderen monierte Fehler wiederholt.

Soll der vorliegende Bericht nicht in gleicher Weise bedauernd in der Auswertung künftiger fehlgeschlagener Programme zitiert werden, sind substanzielle Reformen unerlässlich:

* Die Programmentscheidungen müssen entpolitisiert werden. Dass die Europäer mit ihrem Stimmanteil von mehr als 30% im Falle Griechenlands 2010/12 die Beteiligung des IWF durch eine Änderung der Kreditvergaberichtlinien durchsetzten, welche danach gleich wieder unauffällig einkassiert wurde, ist ebenso skandalös wie die hier zutage getretene Instrumentalisierung einer multilateralen Finanzinstitution für die geopolitischen und ideologischen Interessen des Sperrminoritätsinhabers USA.
* Eine Schlüsselrolle muss dabei die künftige Zusammensetzung und Entscheidungsmacht des Vorstandes (Board) des IWF spielen. Dass und mit welchen Begründungen es absurde Entscheidungen, die auf Betreiben der USA oder Europas zustande kamen, durchgewinkt hat, wird im vorliegenden Bericht nicht diskutiert. Genau das wäre nun dringend geboten.

Wer jetzt seine Hausaufgaben macht – und wer nicht

Am 11. Februar 2021 beschloss das argentinische Parlament das „Schuldentragfähigkeitsgesetz“ (Ley de Fortalecimiento de la Deuda Pública), welches Kreditaufnahmen durch die Regierung künftig an parlamentarische Zustimmung im Einzelfall bindet. Es ist für eine Regierung sehr ungewöhnlich, dass sie sich selbst bislang nicht bestehende Fesseln in Sachen Kreditaufnahme anlegt. Es signalisiert insofern einen Bruch mit der weitverbreiteten Kultur der politisch motivierten Hinterzimmerdeals zwischen einer Regierung und Institutionen wie dem IWF, der chinesischen Regierung oder auch privaten Kreditgebern, indem es einen breiteren gesellschaftlichen Konsens zur Voraussetzung einer weiter gehenden Verschuldung des Staates macht.

Analog dazu wäre eine angemessene Reaktion auf den Bericht auf Seiten des IWF, die eigenen Forderungen aus dem gescheiterten Programm, wie von Finanzminister Guzman gefordert, umzustrukturieren. Kreditnehmer nicht länger für die selbst erkannten haarsträubenden Fehler der Institution bezahlen zu lassen, wäre ein wichtiger erster Schritt in Richtung auf einen verantwortungsbewussteren IWF.

Jürgen Kaiser war langjähriger Koordinator und ist seit 2021 Berater von erlassjahr.de (www.erlassjahr.de).