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Enwezors Vermächtnis: Grief and Grievance

Artikel-Nr.: DE20201228-Art.18-12-2020

Enwezors Vermächtnis: Grief and Grievance

Kunst und Trauer in Amerika

Vom 17. Februar bis 6. Juni 2021 wird das New Museum in New York “Grief and Grievance: Art and Mourning in America” präsentieren, eine Ausstellung, die ursprünglich von Okwui Enwezor (1963-2019; s. W&E 02-04/2019) konzipiert und nach seinem Tod kuratorisch von seinen Beratern Naomi Beckwith, Massimiliano Gioni, Glenn Ligon und Mark Nash unterstützt wurde. “Grief and Grievance” wird eine generationsübergreifende Ausstellung mit 37 Künstlern sein. Eine Vorschau von Rainer Falk.

Die 37 Künstler arbeiten mit einer Vielfalt von Medien und befassen sich mit den Konzepten von Trauer, Erinnerung und Verlust, wie sie sich als direkte Reaktion auf den nationalen Notstand rassistischer Gewalt zeigen, den die Schwarzen Gemeinschaften in ganz (Nord-)Amerika erfahren. Darüber hinaus wird die Ausstellung die miteinander verbundenen Phänomene Schwarzen Leids („grief“) und einem politisch orchestrierten weißen Groll („grievance“) behandeln, wie sie das zeitgenössische soziale und politische Leben Amerikas strukturieren und definieren. „Grief and Grievance“ wird Videoarbeiten, Malerei, Skulptur, Installation, Photographie, Klang und Performances aus der letzten Dekade umfassen, dazu mehrere historische Arbeiten und eine Reihe neuer Auftragswerke, die in Auseinandersetzung mit dem Ausstellungskonzept entstanden sind.

  • An der Schnittstelle zwischen Schwarzer Trauer und weißem Rassismus

Im Jahr 2018 lud das New Museum Okwui Enwezor ein, „Grief and Grievance“ zu organisieren. Um diese Zeit bereitete Enwezor auch eine Reihe öffentlicher Diskussionen für die Alain LeRoy Locke-Vorlesungen an der Harvard University vor, die sich auf die Schnittstelle zwischen Schwarzer Trauer und weißem Nationalismus konzentrierten, wie sie sich in der Arbeit zeitgenössischer Schwarzer amerikanischer Künstler artikulieren. Die in dieser Serie vertretenen Argumente, die er leider nicht mehr vortragen konnte, lieferten die Ideen, die Enwezor als Basis für „Grief and Grievance“ nutzen wollte.

Zwischen Herbst 2018 und März 2019 arbeitete Enwezor unermüdlich an „Grief and Grievance“, entwarf sein Konzept für die Ausstellung, stellte Listen von Künstlern und Kunstwerken zusammen, wählte die Autoren für den Katalog aus und sprach mit vielen der eingeladenen Künstler. Im Januar 2019 bat Enwezor den Künstler Glenn Ligon, als Berater der Ausstellung zu fungieren. Angesichts des fortgeschrittenen Planungsstand und der Bedeutung der Ausstellung etablierte das New Museum nach dem Tod Enwezors am 15. März 2019 – unter Verwendung seines Nachlasses - ein Beratungsteam aus Freunden und Mitarbeitern Enwezors. Darunter waren Glenn Ligon, Mark Nash, Professor an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz und Ko-Kurator vieler Projekte Enwezors, darunter The Short Century (s. W&E 03-04/2001) und die Documenta 11 (s. W&E 07-08/2002); desweiteren Naomi Beckwith, die Manilow Senior Kuratorin des Museums für zeitgenössische Kunst in Chicago, die Enwezor für seine Biennale 2015 in Venedig (s. W&E 07-08/2015) als eine der Jurorinnen ausgewählt hatte.

  • Posthume Ehrung für Enwezors Arbeit und Nachlass

Mit Unterstützung von Massimiliano Gioni, Edlis Neeson Künsterische Direktor am New Museum, arbeiteten diese kuratorischen Berater zusammen, um Enwezors Vision für „Grief and Grievance“ zu realisieren und zu interpretieren. Die kuratorischen Berater und das New Museum betrachten diese Ausstellung zugleich als Ehrung von Enwezors Arbeit und Nachlass.

Seit er an dem Projekt arbeitete, hatte Enwezor den Wunsch geäußert, die Ausstellung in zeitlicher Nähe zur amerikanischen Präsidentschaftswahl zu eröffnen, als kraftvolle Reaktion auf die Krise der amerikanischen Demokratie und als klare Anklage der rassistischen Politik Donald Trumps. Obwohl durch die Covis-19-Pandemie die Eröffnung der Ausstellung verschoben werden musste, sprechen die gezeigten Werke in Bezug auf Amerikas Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine klare Sprache.

Enwezor betrachtete „Grief and Grievance“ als eines seiner persönlichsten Projekte, und auch als eines seiner politischsten. Im Zusammenhang von „Grief and Grievance“ kann Trauer als eine besondere Form der Politik gesehen werden, die eine singuläre Melancholie zugunsten facettenreicher Formen der Kritik, des Widerstands und der Sorge zurückweist. Wie Enwezor in seinem ursprünglichen Narrativ für die Ausstellung schrieb, „wurde mit der Normalisierung des weißen Nationalismus durch die Medien in den letzten beiden Jahren klar, dass es eine neue Dringlichkeit gibt, die Rolle, die die Künstler durch ihre Kunstwerke bei der Aufdeckung der erbarmungslosen Konturen des amerikanischen Staatswesens, gespielt haben, einzuschätzen. In Enwezors Sicht tragen die Werke der Ausstellung zur Illustration der Idee bei, dass Trauern eine Praxis ist, die die soziale, ökonomische und emotionale Realität des Schwarzen Lebens durchdringt, wie sie überall im Land von mehreren Generationen von Individuen, Familien und Gemeinschaften erfahren wurde.

Über alle drei Ausstellungsetagen des New Museum sowie die Galerie in der Lobby und öffentliche Räume repräsentieren die Werke der Ausstellung interdisziplinäre Ansätze, darunter Methoden des Dokumentarfilms und der Photographie, des experimentellen Films, der Performance und des sozialen Engagements, Seite an Seite mit traditionellen künstlerischen Medien, wie Malerei, Zeichnung und Skulptur. Die Ausstellung umfasst Künstler, deren Werke die amerikanische Geschichte von der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre bis zu Fällen von Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten der 1990er Jahre und heute beleuchten. Diese Werke reflektieren tiefschürfend über das, was die Katalogautorin Saidiya Hartman als „das Nachleben der Sklaverei“ charakterisiert, so wie viele teilnehmende Künstler*innen über die Schnittstellen zwischen historischer Erinnerung und der sozialen und politischen Realität der Gegenwart reflektieren.

  • Verknüpfung von Trauer und politischem Handeln

Obwohl die sich überschneidenden Themen der Ausstellung durchgehend vorkommen, wird jede Ausstellungsetage einem der drei historischen Ecksteine gewidmet sein, die die Erfahrung der Trauer mit Momenten politischen Handelns und Engagements in der amerikanischen Geschichte verbindet: Jack Whittens Birmingham (1964), Daniel LaRue Johnsons Freedom Now, Number 1 (1963-64) und Jean-Michel Basquiats Procession (1986). Performance und Musik als Räume der gemeinschaftlichen Trauer, wie sie u.a. von Rashid Johnson, Okwui Okpokwasili und Tyshawn Sorey gesehen werden, waren ebenso zentral für die Ausstellungskonzeption.

Ein anderes Schlüsselthema der Ausstellung ist die Nutzung der Abstraktion als Strategie der Konfrontation oder Mediation von Momenten der historischen Gewalt oder der sozialen Unruhe, etwa in den Beiträgen von Mark Bradford, Ellen Gallagher, Jennie C. Jones und Julie Mehretu. Im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung und zunehmender Diskussionen über Bilder rassistischer Gewalt treten Tod und Trauer im digitalen Zeitalter in den Arbeiten junger Künstler in vielfältigen Formen auf.

Viele heute arbeitende Künstler haben auf einer Tradition der Konfrontation mit den Medien, die für sie zum System der institutionellen Gewalt gehören, und entsprechenden Protestbewegungen aufgebaut. Indem die Arbeit zeitgenössischer Künstler in den Kontext des Vermächtnisses politischer und ästhetischer Strategien gestellt wird, die die Geschichte von Kunst und Repräsentation in Amerika jahrzehntelang definiert haben, wird die Ausstellung als Beweis dafür stehen, dass viele der Sorgen, die die gegenwärtigen Debatten um Rasse, Diskriminierung und Gewalt in Amerika antreiben, viel zu lange nicht beachtet wurden. Wie Enwezor sagte, verkörpert Schwarzes Leid nun viele Jahre lang einen nationalen Notstand, und die Künstler haben diesen in ihrer Arbeit thematisiert.

Hinweis:

* Conceived by Okwui Enwesor/Curatorial Advisors: Naomi Beckwith, Massimiliano Gioni, Glenn Ligon, Mark Nash: Grief and Grievance. Art and Mourning in America, 263 pp, Phaidon in cooperation with New Museum: London-New York 2020. Der Katalog liegt seit Herbst 2020 vor. Bezug: Buchhandel. Eine Photo-Galerie aus dem Katalog findet sich auf unserem Instagram-Account unter https://www.instagram.com/p/CKb3Ml3ld_M/

Gepostet: 24.1.2021

Empfohlene Zitierweise:

Rainer Falk, Enwezors Vermächtnis: Grief and Grievance. Art and Mourning in America, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 24. Januar 2021 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).