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HDR 2020: Menschliche Entwicklung und das Anthropozän

Artikel-Nr.: DE20201226-Art.16-12-2020

HDR 2020: Menschliche Entwicklung und das Anthropozän

Menschen und Planet auf Kollisionskurs

Die Covid-19-Pandemie ist die jüngste Krise, der sich die Welt gegenüber sieht, doch es wird nicht die letzte sein, wenn die Menschen ihren Griff auf die Natur nicht lockern. Das ergibt sich aus dem neuen Human Development Report (HDR 2020) mit dem Titel „The Next Frontier: Human Development and the Anthropocene“, der auch einen neuen experimentellen Index enthält, der den CO2-Ausstoß der Länder und ihren materiellen Fußabdruck berücksichtigt. Eine W&E-Zusammenfassung.

Der Report stellt die Politiker der Welt vor eine drastische Wahl: entschiedene Schritte zur Reduzierung des immensen Drucks zu unternehmen, der auf die Umwelt und die Natur ausgeübt wird, oder der Fortschritt der Menschheit wird zum Stillstand kommen. Nach dem Administrator des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), Achim Steiner, haben die Menschen heute mehr Macht über den Planeten als jemals zuvor. Es sei Zeit, diese Macht zu nutzen, um Fortschritt neu zu definieren. Wie der Bericht zeigt, hat bislang kein Land der Welt eine sehr hohe menschliche Entwicklung erreicht, ohne immensen Stress auf den Planeten auszuüben. „Doch wir könnten die erste Generation sein, die dies korrigiert. Das ist die nächste Grenze für die menschliche Entwicklung.“  

● Angepasster Human Development Index

Der neue HDR, der jetzt im 30. Jahr erscheint, argumentiert, dass die Menschen und der Planet derzeit in eine völlig neue geologische Epoche treten, das Anthropozän oder das Zeitalter der Menschen, und es deshalb Zeit für alle Länder sei, ihren Weg zum Fortschritt neu zu gestalten, indem sie voll den gefährlichen Druck auf den Planet in Betracht ziehen und die großen Macht- und Chancenungleichgewichte abbauen, die dem Wandel entgegenstehen.

Zur Illustration führt der Bericht versuchsweise einen neuen Blick auf seinen jährlichen Human Development Index (HDI) ein. Zur Anpassung werden in den HDI, der bislang die Gesundheit, Bildung und den Lebensstandard einer Nation misst, werden zwei weitere Elemente eingeführt: die CO2-Emissionen eines Landes und sein materieller Fußabdruck. So zeigt der Index, wie sich die globale Entwicklungslandschaft ändern würde, wenn sowohl das Wohlergehen der Menschen als auch des Planeten in die Definition des Fortschritts der Menschheit einflössen.

Mit dem resultierenden Planetary-Pressures Adjusted HDI – oder PHDI – entsteht ein neues globales Bild, das eine weniger rosige, aber klarere Bewertung des menschlichen Fortschritts ermöglicht. Zum Beispiel fallen mehr als 50 Länder aus der Gruppe mit einer sehr hohen menschlichen Entwicklung heraus, wenn ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und ihr materieller Fußabdruck mit bewertet werden. Die Effekte sind am größten bei den reichsten Ländern. Die Anpassung verdrängt Norwegen von dem Spitzenplatz, den es anderweitig einnehmen würde; die Konsequenzen seiner messbaren Ölproduktion für den Planeten bedeuten, dass es um 15 Plätze zurückfällt. Dies ist ein nicht ganz so tiefer Fall wie der des kohleproduzierenden Australien (72 Plätze) oder der Rückfall von Singapur um 92 Plätze.

● Drastische Verschiebungen im HDI-Ranking - Luxemburg im Absturz: Auch Kanada und die USA schneiden schlecht ab. In der Tat fallen die Exporteure fossiler Brennstoffe, wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und Kasachstan, alle substantiell zurück. Luxemburg indessen ist der größte Verlierer, da seine pendlergestützte Ökonomie in Relation zu seiner Bevölkerung sehr viele Ressourcen verschlingt: Das Großherzogtum stürzt um 131 Plätze ab. Trotz der Index-Anpassungen steigen Länder wie Costa Rica, Moldawien und Panama um mindestens 30 Plätze auf, was zeigt, dass eine Lockerung des Drucks auf den Planeten möglich ist.

„Der Human Development Report ist ein wichtiges Produkt der Vereinten Nationen. In einer Zeit, in der gehandelt werden muss, hilft uns die neue Generation des HDRs, indem sie ein größeres Gewicht auf die entscheidenden Fragen unserer Zeit, wie Klimawandel und Ungleichheiten legt, unsere Anstrengungen in eine Zukunft zu lenken, wie wir sie wollen“, sagte der Premierminister von Schweden, Stefan Löfven, bei der Vorstellung des Reports.

Die nächste Etappe der menschlichen Entwicklung wird es notwendig machen, mit der Natur und nicht gegen sie zu arbeiten, während soziale Normen, Werte, Regierungspraxis und finanzielle Anreize transformiert werden, argumentiert der Bericht. Beispielsweise sagen neue Schätzungen voraus, dass die ärmsten Länder der Welt bis 2100 wegen des Klimawandels bis zu 100 Tage mehr mit Extremwetter im Jahr erleben könnten – eine Zahl, die durch die volle Umsetzung des Pariser Klimaabkommens halbiert werden könnte.

Dennoch werden fossile Brennstoffe immer noch subventioniert: Nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds, die im Report zitiert werden, werden die vollständigen gesellschaftlichen Kosten der öffentlichen Subventionierung fossiler Brennstoffe auf über 5 Billionen Dollar, oder 6,5 des globalen BIP, geschätzt. Wiederaufforstung und bessere Waldpflege könnten allein für rund ein Viertel der Aktionen aufkommen, die wir vor 2030 unternehmen müssten, um die globale Erwärmung unter 2° C im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu halten.

● Mit der Natur und nicht gegen sie: „Während die Menschheit unglaubliche Dinge erreicht hat, ist es klar, dass wir unseren Planeten zum Nulltarif ausgeraubt haben”, sagt Jayathma Wickramanayake, der Beauftragte des UN-Generalsekretärs für die Jugend. „Überall auf der Welt haben die jungen Leute ihre Stimme erhoben und anerkannt, dass diese Aktionen unsere Zukunft aufs Spiel setzen. Wie der HDR 2020 klar macht, müssen wir unser Verhältnis zum Planeten transformieren – um Energie- und Materialkonsum nachhaltig zu machen und sicherzustellen, dass jeder junge Mensch ausgebildet und in die Lage versetzt wird, die Wunder zu genießen, die eine gesunde Welt bieten kann.“

Wie die Menschen den planetarischen Druck erfahren, ist davon abhängig, wie Gesellschaften funktionieren, so Pedro Conceição, der Direktor des HDR-Büros und leitender Autor des Reports. Heute setzen zerbrochene Gesellschaften Menschen und den Planeten auf Kollisionskurs. Ungleichheiten innerhalb und zwischen Ländern mit ihren tiefen Wurzeln im Kolonialismus und Rassismus bedeuten, dass Menschen, die mehr besitzen, mehr Vorteile der Natur einheimsen und die Kosten exportieren, zeigt der Report. Das schränkt die Chancen von Leuten ein, die weniger haben, und verringert ihre Fähigkeit, aus ihrer Lage zu entkommen. Beispielsweise absorbiert das Land in der Amazonas-Region, das von indigenen Völkern genutzt wird, pro Kopf genauso viel CO2 die das reichste eine Prozent auf der Welt ausstößt.

Gleichwohl sehen sich indigene Völker fortgesetzt mit Elend, Verfolgung und Diskriminierung konfrontiert und haben dem Bericht zufolge nur geringe Mitsprache bei Entscheidungen. Diskriminierung, die auf Ethnizität beruht, lässt die Gemeinschaften häufig stark betroffen zurück und setzt sie hohen Risiken wie Giftmüll oder exzessiver Verschmutzung aus – ein Trend, der sich in städtischen Regionen auf allen Kontinenten zeigt, argumentieren die Autoren des Berichts. Deshalb ist eine Lockerung des planetarischen Drucks auf eine Weise erforderlich, die alle Menschen befähigt, von diesem neuen Zeitalter zu profitieren, das den Abbau der groben Macht- und Chancenungleichgewichte notwendig macht, die der Transformation im Weg stehen.

Öffentliches Handeln, so argumentiert der Report, kann gegen diese Ungleichheiten vorgehen, sei es mit zunehmender progressiver Besteuerung oder dem Schutz der Küstenbevölkerung durch vorsorgende Investitionen und Versicherung – Maßnahmen, die das Leben von 840 Millionen Menschen retten könnten, die entlang der niedrig gelegenen Küstenstriche leben. Doch solche Aktionen müssen durch konzertiere Anstrengungen vorangetrieben werden, damit sie die Menschen nicht weiter gegen den Planeten ausspielen.

„In der nächsten Etappe der menschlichen Entwicklung geht nicht um die Wahl zwischen Menschen oder Bäumen, sondern darum anzuerkennen, dass menschlicher Fortschritt heute durch ungleiches, CO2-intensives Wachstum vorangetrieben wird“, sagt Pedro Conceição. „Durch den Kampf gegen Ungleichheit, Nutzung von Innovationen und Arbeiten mit der Natur könnte die menschliche Entwicklung eine transformatorischen Schritt nach vorne machen und die Gesellschaften und den Planeten gemeinsam unterstützen.“  

Hinweis:
* Human Development Report 2020: The Next Frontier. Human development and the Anthropocene, 412 pp, New York: UNDP 2020. Bezug: über hdr.undp.org/en/2020-report