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Das Welthandelssystem in der Transformationskrise

Artikel-Nr.: DE20080804-Art.-22-2008

Das Welthandelssystem in der Transformationskrise

Letzte Ausfahrt Genf?

Vorab im Web - Das erneute Scheitern der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) zeigt, dass sich die Industriestaaten mit dem größeren wirtschaftlichen Gewicht der Schwellenländer und dem gewachsenen Selbstbewusstsein aller Entwicklungsländer noch immer schwer tun. Die Interessen der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und die Forderung nach einem Speziellen Schutzmechanismus für Agrarprodukte erweisen sich als Knackpunkte. Eine Auswertung der jüngsten Verhandlungen in Genf von Tobias Reichert.

Nach jahrelangem Stocken und Rückschlägen in den Verhandlungen der 2001 begonnenen Doha-Runde hat der Hobby-Marathonläufer und WTO-Generaldirektor Pascal Lamy versucht, durch einen risikoreichen Endspurt noch in diesem Jahr eine Einigung zu erzwingen. Obwohl es seit der letzten Ministerkonferenz 2005 in Hongkong in keiner der großen Streitfragen – Subventionsabbau für landwirtschaftliche Produkte und Marktzugang für Agrar- und Industriegüter – echte Annäherung gegeben hatte, sollte ein informelles Treffen von etwa 40 Ministern vom 21.-26. Juli in Genf die notwendigen Kompromisse erzielen. Die so zu beschließenden „Modalitäten“ würden dann die Grundlage für eine Einigung in der Runde insgesamt bilden und damit vor allem auch den Dienstleistungshandel betreffen.

* Der neue Green Room ...

Mit dem Versuch, die zentralen Entscheidungen nicht auf einer formalen Ministerkonferenz, sondern nur im kleinen Kreis auszuhandeln, wurde das seit langem übliche Verfahren der informellen „Green Rooms“ quasi institutionalisiert. Schon zu Zeiten des GATT, aus dem die WTO hervorgegangen ist, handelten auf Einladung des Generaldirektors die einflussreichsten – oder an einer speziellen Frage besonders interessierten – Mitgliedsstaaten Kompromisse aus, denen der Rest der Mitglieder dann in der Regel zustimmte.

Stand diese Praxis im Vorfeld und der Anfangsphase der Doha-Runde noch heftig in der Kritik, so ist sie mittlerweile weitgehend akzeptiert. Dies liegt zum Teil daran, dass es Lamy gelungen ist, die Transparenz der Green Rooms durch häufigere Berichte an die ausgeschlossenen Staaten zu erhöhen. Auch beim jüngsten Treffen in Genf informierte er sämtliche Delegationen täglich über den Stand der Diskussionen im Green Room. Wichtiger ist aber, dass sich praktisch alle WTO-Mitglieder und gerade auch die Entwicklungsländer in themenbezogenen oder regionalen Koalitionen organisiert haben, deren jeweilige Koordinatoren im Green Room vertreten sind. Damit kann jedes Land davon ausgehen, dass dort zumindest jene seiner Interessen vertreten werden, die es mit anderen Mitgliedern teilt, und durch den Austausch innerhalb der Gruppen besteht ein weiterer Informationskanal. Damit schien der Zielkonflikt zwischen Beteiligung und Offenheit einerseits und Effizienz bei der Beschlussfassung andererseits teilweise gelöst oder zumindest gemildert.

* ... zum Instrument der Transparenz geadelt

Seinen ersten Härtetest als Entscheidungsgremium hat dieser neue Green Room allerdings nicht bestanden. Schon am dritten Verhandlungstag erklärte Lamy, die Diskussionen seien fest gefahren, weshalb die Sitzungen des Green Rooms vorerst ausgesetzt und in kleineren, themenzentrierten Gruppen mögliche Kompromisse ausgelotet werden sollten. Zunächst traf dieser Vorschlag bei vielen Mitgliedern auf Zustimmung – bis sich herausstellte, dass die mit weitem Abstand wichtigste Kleingruppe nicht themenzentriert war. Vielmehr sollte die bei anderen informellen Treffen mit wenig Erfolg zum Einsatz gekommene G6 aus USA, Japan, Indien, der EU, Brasilien und Australien, erweitert um China, sektorübergreifende Kompromisse aushandeln, die dann eine Einigung zunächst im Green Room und dann der Gesamtmitgliedschaft vorbereiten sollten.

Zahlreiche Länder kritisierten diesen auf die neue „G7“ zugeschnittenen Prozess der „konzentrischen Kreise“ in der Entscheidungsfindung. Den Auftakt machte Gastgeberland Schweiz, das Tags zuvor Lamys Kleingruppenansatz ausdrücklich gelobt hatte, nun aber feststellen musste, dass es an der wichtigsten Kleingruppe gar nicht beteiligt war. Auch viele Minister aus Entwicklungsländern zeigten sich sehr kritisch, vor allem da in einer als Entwicklungsrunde titulierten Veranstaltung die wichtigsten Vorabsprachen ohne Beteiligung eines afrikanischen oder am wenigsten entwickelten Landes getroffen werden sollten.

Lamy äußerte große Sympathie für die Kritik und gleichzeitig die Absicht, die umstrittene Praxis beizubehalten. Um die Transparenz zu verbessern, werde er regelmäßig im Green Room über die Diskussionen in der G7 berichten. Damit wurde der lange als intransparent kritisierte Green Room zum Instrument verbesserter Transparenz geadelt.

* Greifbarer Durchbruch ...

Nach dem Protest vieler Minister, die es nicht gewohnt sind, tagelang in ihren Hotelzimmern darauf zu warten, bis sie gerufen werden, stand die G7 unter großem Erfolgsdruck. Es war klar, dass das Ministertreffen insgesamt gefährdet wäre, wenn sie nicht bis zum fünften (und nach dem ursprünglichen Plan vorletzten) Verhandlungstag einen Kompromissvorschlag vorlegen würde. Das trug sicherlich dazu bei, dass die G7 sich am Freitag (25.7.) bereit erklärte, ein Kompromisspaket von Lamy als „Basis für weitere Verhandlungen“ zu akzeptieren.

Lamy hatte darin nicht viel mehr getan, als sich auf die bereits erarbeiteten umfassenden Entwürfe zu beziehen und aus den dort vorgegebenen Optionen für Zoll- und Subventionsabbau einen (meist in der Mitte liegenden) Wert zu wählen. Das war möglich geworden, weil die USA zuvor ein neues Angebot für eine Obergrenze ihrer handelsverzerrenden Agrarsubventionen gemacht hatten, das sich innerhalb dieser Bandbreiten bewegte. Bei der Präsentation dieses Kompromissvorschlags betonte der indische Handelsminister Kamal Nath allerdings, dass einige Elemente noch der Nachbesserung bedürften. Vor allem der Spezielle Schutzmechanismus (SSM) gegen einen starken Anstieg des Imports von Agrarprodukten müsse nachgebessert werden. Argentinien und Südafrika, die nicht in der G7 vertreten sind, wandten sich gegen das Ausmaß der Marktöffnung für Industriegüter, mit dem die Zölle auf einen Höchstsatz zwischen 20 und 25% begrenzt worden wären. Viele Entwicklungsländer monierten insgesamt ein Ungleichgewicht zugunsten der Industrieländer: Diese müssten für ihre Agrarsubventionen nur eine Obergrenze oberhalb der derzeit getätigten Ausgaben akzeptieren. Dagegen müssten die meisten größeren Entwicklungsländer ihre Zölle für Industriegüter real senken.

Trotz dieser Kritik war die große Mehrheit der Entwicklungsländer anscheinend bereit, die Grundzüge von Lamys Kompromiss zu akzeptieren – allerdings mit einem unterschiedlichen Verständnis seines Status: USA und EU betrachteten ihn als unveränderliches Gesamtpaket, dem alle zustimmen, wenn sie bei den übrigen Themen ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielen. Vertreter der EU bezeichneten das Paket als „Kartenhaus“, das sofort zusammenbreche, wenn man eines der Elemente verändert. Die Entwicklungsländer forderten dagegen noch Anpassungen in einzelnen Punkten, zumal ausführlichere Diskussionen über das Paket nur in der G7 geführt worden waren.

* ...scheitert an der harten Haltung der USA

Dass es dann letztlich doch nicht zur Einigung kam, obwohl die Stimmung nach separaten Gesprächen über Dienstleistungen am Samstag recht positiv war, lag am Konflikt um den SSM für die Landwirtschaft in Entwicklungsländern. Er soll es ermöglichen, die Zölle zeitweise über das in der WTO festgelegte Niveau anzuheben, wenn sich ein Land mit stark steigenden Importen bzw. fallenden Importpreisen konfrontiert sieht. In Lamys Entwurf war dies an so hohe Schwellenwerte für den Importanstieg geknüpft, dass der Mechanismus praktisch nie zur Anwendung gekommen wäre.

Indiens schon vorab geäußerte Forderung nach einer Nachbesserung wurde von China und über hundert weiteren Entwicklungsländern in einer gemeinsamen Erklärung gestützt. Die USA beharrte dagegen darauf, dass das Gesamtpaket unverändert bestehen bleiben müsse, da ihm ja sieben von 153 WTO-Mitgliedern zugestimmt hätten. Lamy versuchte die Situation am Dienstag noch mit einem neuen Kompromissvorschlag zu retten, in dem unabhängig von Schwellenwerten die Anhebung von Zöllen immer dann zulässig sein sollte, wenn durch einen Importanstieg Lebensunterhalt und Ernährungssicherheit von Kleinbauern und die ländliche Entwicklung gefährdet wären. Indien erklärte dies für akzeptabel, die USA beharrten auf der ursprünglichen Version. Lamy erklärte darauf hin, dass eine Einigung nicht erzielt werden könne, und beendete das Ministertreffen drei Tage nach dem ursprünglich vorgesehenen Termin und ohne Ergebnis.

* Ein neues Gleichgewicht ...

„Die Industrienationen sind unfähig, mit dem wachsenden Einfluss der Schwellenländer umzugehen.“ So kommentiert die indonesische Handelsministerin Mari Pangestu das Scheitern. Als Koordinatorin der G33-Gruppe, die die Forderung nach dem SSM in die Verhandlungen eingebracht hatte, war sie tief in die Debatte involviert. In der Tat versuchen EU und USA die Verhandlungen in der WTO noch so zu führen wie in der Vorläuferorganisation GATT, die sie weitgehend dominierten. Dort konnten sie die Grundrichtung der Entscheidungen vorgeben und mussten sie dann nur noch marginal anpassen bzw. ergänzen, um anderen Mitgliedern in einigen Punkten entgegenzukommen.

Zum letzten Mal war dieses Vorgehen am Beginn der Runde in Doha geglückt, wo die im Kern unveränderte Agenda der Industrieländer durch den Aspekt des Zugangs zu Medikamenten ergänzt und mit der Überschrift „Entwicklungsrunde“ versehen worden war. Schon dort stand eine Einigung allerdings auf Messers Schneide und wäre ohne die spezielle geopolitische Situation unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September wohl kaum möglich gewesen.

Im weiteren Verlauf der Doha- Runde waren Entwicklungs- und Schwellenländer durch enge Kooperation in der Lage, ihre Interessen besser durchzusetzen. Nach der Ministerkonferenz von Cancun 2003 konnten sie erreichen, dass neue Themen wie Investitionen und öffentliches Beschaffungswesen wieder von der Doha-Agenda genommen wurden. Zudem musste die EU in Hongkong 2005 versprechen, bis 2013 alle Exportsubventionen abzuschaffen, und der jetzt gescheiterte Kompromiss hätte es ihnen immerhin ermöglicht, bis zu 5% ihrer Agrarprodukte vollständig von der Liberalisierung auszunehmen. Ob die USA dagegen noch ein gehaltvolles Angebot zum Abbau der gerade für die Afrikaner besonders schädlichen Subventionen für Baumwolle auf den Tisch gelegt hätten, kann bezweifelt werden.

Erzielt wurden diese kleinen Schritte Richtung einer stärkeren Entwicklungsorientierung nur durch das tatsächliche (Cancun) oder drohende (Hongkong) Scheitern von Ministertreffen. Dass die Mehrzahl der Entwicklungsländer bereit war, für diese begrenzten Schritte einen relativ hohen Preis bei der Marktöffnung für Industriegüter zu zahlen, zeigt ihre Wertschätzung für ein multilaterales Forums für handelspolitische Fragen. So haben sie mehr Möglichkeiten, Allianzen zu bilden und ihr politisches Gewicht zu bündeln, als dies in bilateralen Verhandlungen möglich wäre. Sie wollen sich aber zumindest einen minimalen Politikspielraum erhalten, um ihre ärmsten Bevölkerungsgruppen schützen zu können.

Dass die USA dem im Rahmen eines für sie eigentlich vorteilhaften Gesamtpakets nicht zustimmen konnten, zeigt den überproportionalen Einfluss der Agrarexport- und Baumwolllobby auch im demokratisch dominierten Kongress. Die Bush-Administration vermutet wohl, dass sie nur eine Chance auf Zustimmung für neue Agrarsubventionsobergrenzen haben würde, wenn die Agrarlobby durch „sicheren“ Marktzugang zu den dynamischen Märkten der Schwellenländer besänftigt würde. Es wird sogar spekuliert, dass die US-Handelsbeauftragte den Bruch am Thema SSM mit Absicht herbeigeführt hat, um die Behandlung des Bauwollthemas zu vermeiden. Sonst wäre deutlich geworden, dass die USA kein echtes Angebot machen können.

... braucht wohl noch einige Zeit

Die Appelle von Lamy und Brasiliens Präsident Lula da Silva, auf den erzielten Kompromissen aufzubauen und innerhalb der nächsten Monate die Verhandlungen zum Ende zu bringen, richten sich also indirekt vor allem an die USA. Es ist aber nicht absehbar, dass die in der Lage sein werden, ihre Position vor den bevorstehenden Wahlen zu revidieren. Das endgültige Schicksal der Doha-Runde wird sich also sicher nicht vor 2009 entscheiden.

Setzt sich der Trend fort, dass sich die Industriestaaten nach jedem Scheitern ein kleines Stück auf die Entwicklungs- und Schwellenländer zu bewegen, könnte dann ein neuer Kompromiss mit einem wirksamen SSM und einer weniger radikaler Zollsenkung bei Industriegütern stehen. Dem Anspruch einer Entwicklungsrunde würde das noch lange nicht gerecht, aber der Trend einer besseren Artikulation der Interessen der Entwicklungsländer in einem von Realpolitik und den neuen wirtschaftlichen und politischen Gewichten geprägten Prozess würde sich fortsetzen. Ob und wann EU und USA bereit sein werden, zumindest dies zu akzeptieren, bleibt weiter unklar.

Tobias Reichert ist Referent für Welthandel und Ernährung bei Germanwatch und koordiniert die Arbeitsgruppe Handel im Forum Umwelt & Entwicklung. Der Artikel gibt seine persönliche Einschätzung wider.

Veröffentlicht: 4.8.2008

Empfohlene Zitierweise:
Tobias Reichert, Das Welthandelssystem in der Transformationskrise: Letzte Ausfahrt Genf? in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, Luxemburg, Nr. 07-08/Juli-August 2008 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).