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Die Verwundbarkeit Osteuropas in der Finanzkrise

Artikel-Nr.: DE20081024-Art.39-2008

Die Verwundbarkeit Osteuropas in der Finanzkrise

Immer neue Kandidaten für den Crash

Die finanziellen Turbulenzen in Ungarn und in der Ukraine haben seit Mitte Oktober 2008 auch Osteuropa als potenzielle Krisenregion ins Blickfeld gerückt. Die strukturelle Abhängigkeit von Kapitalimporten ist unübersehbar, die allgemeine Außenabhängigkeit hoch. Doch auch wenn Finanzanleger die Region oft als Einheit sehen, gibt es deutliche Unterschiede, was die Verwundbarkeit gegenüber einer Finanzkrise betrifft. Ein Überblick von Joachim Becker.


Ungarn galt bereits seit einigen Jahren wegen seines zeitweise fast 10% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragenden Budgetdefizits und eines trotz wirtschaftlicher Stagnation 2008 auf 4,8% des BIP geschätzten Leistungsbilanzdefizits als Kandidat für eine Finanzkrise. Am 15. Oktober fiel der Kurs des Forint innerhalb eines Tages um 7%. Der Handel mit Staatsanleihen musste vorübergehend ausgesetzt werden, und auch die Aktiennotierungen fielen in den Keller.

* Die aktuellen Fälle Ungarn und Ukraine

Das ungarische Bankensystem ist hochgradig von Devisenzuflüssen abhängig, da Kredite an Haushalte und Unternehmen zu mehr als 60% aus Devisen (meist Euro) bestehen, aber nur 20% der Bankeinlagen in Fremdwährung sind. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erklärte rasch seine Bereitschaft zur Gewährung eines Kredits. Die EU zeigte Anfangs weniger Profil, doch dann eröffnete die Europäische Zentralbank (EZB) eine Kreditlinie von 5 Mrd. € für Ungarn, um die Versorgung des ungarischen Bankensystems mit Euro sicherzustellen. Indikator der weiter sehr instabilen Lage war die Heraufsetzung des ungarischen Leitzinses um drei Prozentpunkte, was ein großer Sprung ist, am 22. Oktober. Durch eine extreme Hochzinspolitik sollen offenbar Kapitalabflüsse verhindert werden.

Noch weit dramatischer stellte sich die Lage in der Ukraine dar. Dort wird das Leistungsbilanzdefizit für 2008 auf 9,1% des BIP geschätzt, was das Doppelte der kritischen Größe ist. Die sich infolge der Finanzkrise stark verschlechternde internationale Konjunktur hat die ukrainische Stahlindustrie, die ein Schlüsselsektor des Exports ist, bereits erreicht. Auch hier hat die Währung binnen kurzer Zeit stark nachgegeben. In der Ukraine sind aber auch die Erinnerungen an die Finanzkrisen der 1990er Jahre noch frisch. Hier zogen die KundInnen binnen weniger Tage 3 Mrd. US-Dollar von den Konten ab. Daraufhin verhängten Banken Auszahlungslimits bei Bankomaten, und die Zentralbank untersagte die vorzeitige Auszahlung von Einlagen sowie die Vergabe von Fremdwährungskrediten an KundInnen, die keine Deviseneinkünfte haben.

Damit ist die Finanzkrise in der Ukraine bereits in Form einer Währungs- und Bankenkrise weit vorangeschritten. Sie geht einher mit der Lähmung der Regierungstätigkeit, da zwischen Präsident und Premierministerin, deren Konkurrenz zum offenen Konflikt eskaliert ist, ein politisches Patt besteht. Dies erschwert selbst die parlamentarische Verabschiedung kurzfristiger Stabilisierungsmaßnahmen, wie die Erhöhung der Staatsgarantie für Bankeinlagen auf 150.000 Hryvna (ca. 20.000 €) oder die Schaffung eines Stabilisierungsfonds für die Banken. Während die diskutierten harten Maßnahmen im Sozialbereich den Wünschen des IWF, mit dem über einen 14-Mrd.-Dollar-Kredit verhandelt wird, entsprechen dürften, gilt das sicher nicht für die ebenfalls vorgeschlagene Erhöhung einiger Zölle zur Eindämmung des enormen Handelsbilanzdefizits.

* Die Finanzanleger machen keinen Unterschied

Speziell die Zuspitzung im EU-Land Ungarn führte zu einem kritischeren Blick auf die Gesamtregion. Nicht nur der Forint, auch andere Währungen und Börsen in Osteuropa gaben nach. Die Finanzanleger machten zwischen Budapest, Prag und Warschau keinen Unterschied, merkte die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborzca mit Bedauern an. Tatsächlich gibt es zwischen den osteuropäischen Ländern innerhalb und außerhalb der EU aber beträchtliche Unterschiede in der Krisenanfälligkeit, obgleich die Gesamtregion von einer hohen Außenabhängigkeit und einer strukturellen Abhängigkeit von Kapitalimporten gekennzeichnet ist.

Unter den EU-Mitgliedsländern sind jene Länder am verwundbarsten, die eine periphere Stellung in der europäischen Arbeitsteilung einnehmen und/oder eine sehr rigide Wechselkurspolitik betreiben. Das gilt für die baltischen Länder, Bulgarien und Rumänien. Estland, Litauen und Bulgarien haben schon viele Jahre ein Currency Board – ähnlich wie Argentinien in den 90er Jahren, bei dem die inländische Geldmenge an die Devisenreserven gebunden ist. Lettland hat eine sehr rigide Wechselkurspolitik verfolgt, und in Rumänien ist der Lei in den letzten Jahren aufgrund hoher Zinsen und Kapitalzuflüsse real deutlich aufgewertet worden.

* Überbewertete Währungen, hohe Defizite und Auslandsschulden

In all diesen Ländern resultierte die Wechselkurspolitik in einer überbewerteten Währung, die Importe verbilligt und die industrielle Entwicklung behindert. Entsprechend hoch sind die Handels- und Leistungsbilanzdefizite. Für 2008 werden für Bulgarien ein Leistungsbilanzdefizit von 22,5% des BIP, für Rumänien von 14,4%, für Litauen von 12,1% und – trotz eines schweren Wirtschaftseinbruchs – für Lettland von 14,5% und Estland von 9,2% des BIP erwartet. Entsprechend schnell sind die Auslandsschulden dieser Länder gestiegen. Der Wirtschaftsboom der letzten Jahre beruhte stark auf kreditfinanziertem Konsum und einem Immobilienboom mit explodierenden Wohnungspreisen. In Estland beispielsweise stiegen die Immobilienpreise zeitweise (nominal) um ca. 70% im Jahr.

Die baltischen Länder sind in der Kreditwürdigkeit bereits herabgestuft worden, und die Kapitalzuflüsse dorthin trocknen schon seit Monaten aus. Daraufhin ist die wirtschaftliche Entwicklung in Estland und Lettland bereits deutlich eingebrochen. Die dort stark engagierten schwedischen Banken sind in der Klemme. Sollte es wegen ausbleibender Kapitalzuflüsse (oder gar Kapitalabflüssen) in Verbindung mit einbrechenden Exporten zu einer starken Abwertung kommen, würde die Währungskrise in all diesen Ländern wohl zu einer Bankenkrise führen. Denn ein Großteil der Konsumentenkredite ist in Devisen vergeben worden, die KreditnehmerInnen verdienen aber einheimische Währung. Damit würde eine Abwertung der Währung gleichzeitig eine kräftige Aufwertung der Devisenschulden bedeuten. Viele private SchuldnerInnen wären dann kaum in der Lage, ihre Kredite zu bedienen. Die Bankensektoren sind weit überwiegend in ausländischem Eigentum, so dass von einer Bankenkrise westeuropäische – in den baltischen Ländern skandinavische, sonst speziell österreichische – Banken betroffen wären.

* Vor neuen Währungs- und Bankenkrisen

All diese Länder sind extrem abhängig von Kapitalimporten und wären auch ohne die aktuelle Finanzkrise der Zentrumsländer Kandidaten für eine Währungs- und Bankenkrise, wie sie Argentinien und Uruguay 2001/2002 erlitten haben. Allerdings sind die Leistungsbilanzdefizite und die Auslandsschuld hier schneller gewachsen als in Lateinamerika in den 1990er Jahren, da die FinanzanlegerInnen offenbar auf einen Schutzschirm der EU bauen. Tatsächlich haben die baltischen Länder (nicht aber Bulgarien und Rumänien) als Mitglieder des ERM II-Mechanismus, der die Vorstufe zur Euro-Übernahme ist, Anspruch auf eine Stützung durch die Europäische Zentralbank. Dies würde aber bestenfalls eine Abmilderung der Krise bedeuten. Eine Abwertung dürfte unvermeidlich sein. Das gegenwärtige Wachstumsmodell, das auf extremen Waren- und Kapitalexporten beruht, ist nicht durchzuhalten.

Ähnlich wie in dieser Gruppe von osteuropäischen EU-Ländern stellt sich die Lage in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens dar, wo sich das Leistungsbilanzdefizit in Kroatien 2008 auf 10,0% und in Serbien auf 17,4% belaufen dürfte. Sowohl Kroatien als auch Serbien oder Montenegro leiden noch unter den Spätfolgen der ökonomischen Desintegration Jugoslawiens und des Krieges. Hier wären die sozialen Folgen einer Finanzkrise ganz besonders gravierend.

* Polen, Tschechien und Slowakei

Abgesehen vom Euro-Land Slowenien, ist die Krisenanfälligkeit in Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakei weniger stark als in den baltischen Ländern, Rumänien, Bulgarien und Ungarn. In diesen drei Ländern ist das Leistungsbilanzdefizit geringer und dürfte sich 2008 zwischen 2,9% (Tschechische Republik) und 4,6% (Polen) bewegen. Damit ist die Abhängigkeit vom Kapitalimport nicht ganz so extrem. Allerdings wird in diesen Ländern die stockende Kreditvergabe im Interbankenverkehr auch immer fühlbarer. Private SchuldnerInnen sind überwiegend in nationaler Währung verschuldet, so dass eine Währungsabwertung weniger weitreichende Konsequenzen für den Bankensektor hätte. Am stärksten in dieser Gruppe ist bislang der polnische Zloty unter Druck, während die Slowakische Krone in Erwartung des Beitritts zur Euro-Zone am 1.1.2009 bislang stabil ist. Auch diese drei Länder müssen mit einer stark nachlassenden Exportkonjunktur rechnen. Das gilt speziell für die Slowakei, deren Exporte zu ca. 40% aus Autos bestehen. Damit werden sowohl die Leistungsbilanz als auch die Wirtschaftsentwicklung unter Druck geraten.

***
Insgesamt birgt der osteuropäische Wachstumsboom der letzten Jahre also den Keim einer zum Teil extremen Krisenanfälligkeit in sich. Damit sind osteuropäische Länder gegenüber den Wirkungen der von Industrieländern im Zentrum der Weltwirtschaft ausgehenden Krise sehr verwundbar.

Dr. Joachim Becker ist ao. Professor für Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversiät in Wien.

Veröffentlicht: 25.10.2008

Empfohlene Zitierweise: Joachim Becker, Die Verwundbarkeit Osteuropas in der Finanzkrise. Immer neue Kandidaten für den Crash, in:
Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 13. Oktober 2008 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)