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Macht vs. Armut: Effektive Staaten und Beteiligung

Artikel-Nr.: DE20080626-Art.-16-2008

Macht vs. Armut: Effektive Staaten und Beteiligung

Ein New Deal gegen die globale Ungleichheit

Nur im Web - Die Rezepte des Washington Consensus haben nicht funktioniert. Die globale Nahrungsmittelkrise zeigt auf erschreckende Weise, wie verwundbar arme Länder weltweit sind – dieselben Länder, in die die reichen Industrienationen seit mehr als einem halben Jahrhundert Milliarden von Dollar an humanitärer Hilfe schicken, mit dem Ziel, die Armut auszurotten. Duncan Green, Autor eines neuen Oxfam-Buches (s. Hinweis), zieht Bilanz und fragt, was so gründlich schief gegangen ist.

Werfen wir einen Blick auf zwei der verwundbarsten Länder: Haiti und Botswana. In Haiti haben die steigenden Nahrungsmittelpreise Unruhen ausgelöst, die sechs Todesopfer forderten und zum Rücktritt des Premierministers führten. Diese Ausschreitungen haben der Suche nach politischer Stabilität in einem archetypisch „fragilen Staat“ einen herben Rückschlag versetzt. Ähnliche Unruhen gab es in Botswana im südlichen Afrika nicht. In einem Land, das 90% seiner Nahrungsmittel importiert, leiden die Armen zweifellos unter den steigenden Preisen, aber der Staat hat sowohl das Geld als auch die Fähigkeit, den Bürgerinnen und Bürgern in dieser schwierigen Situation zu helfen.

* Das Erfolgsgeheimnis ist die Politik

Warum sinkt Haiti, aber Botswana segelt volle Kraft voraus? Botswana, landumschlossen, dünn besiedelt und trocken, ist von Diamanten abhängig, dem „Fluch des Reichtums“, der viele andere afrikanische Länder destabilisiert hat. Als die ehemalige Kolonie 1966 unabhängig wurde, gab es zwei weiterführende Schulen und 12 km geteerte Straße, und die Hälfte der Staatseinkünfte kam aus Großbritannien. Theoretisch war Botswana ein Fall für den Papierkorb.

Aber Botswana wurde zu einer der dauerhaftesten Erfolgsgeschichten Afrikas. Sein BIP ist seit der Unabhängigkeit um das Hundertfache gestiegen. In den drei vergangenen Jahrzehnten war es das Land, das weltweit die höchste Wachstumsrate verzeichnete. Die Regierung hat mit de Beers hart über die Diamanten verhandelt und seine Einkünfte weise genutzt. Im südlichen Afrika war es eine der wenigen nicht-rassistischen Demokratien, obwohl es an rassistische Regimes in Südafrika und Rhodesien angrenzte (die auch gelegentlich in das Land einfielen).

Das Erfolgsgeheimnis Botswanas liegt in der Politik. Die Elite des Landes kommt aus einer einzigen dominierenden ethnischen Gruppe (den Batswana), deren Regierungssysteme auf breiter Konsultation und Konsensbildung basieren und fast unbeschadet die Kolonialherrschaft überstanden. Botswanas führender Menschenrechtsaktivist nennt das System „freundlich autoritär“. Die Regierung hat gegen jede Vorschrift des sog. Washington Consensus verstoßen – staatliche Unternehmen gegründet, die Ausbeutungsrechte für die Bodenschätze verstaatlicht und die Wirtschaft über Sechsjahrespläne gesteuert. „Wir sind eine freie Marktwirtschaft, in der alles geplant wird“, erklärte mir – lachend – ein Akademiker in Botswana.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientierten sich Dutzende von Entwicklungsländern am Erfolg Botswanas und erreichten vergleichbare Wachstumsraten. „Die richtige Politik machen“ war für alle der Schlüssel zum Erfolg. In diesen Ländern wurde eine effiziente Verwaltung aufgebaut, die den Rechtsstaat garantiert, für Gesundheit und Bildung der Menschen sorgt, ihr Territorium schützt und ein positives Umfeld für Investitionen, Wachstum und Handel schafft. Für viele begann die Erfolgsgeschichte mit der Umverteilung von Land und anderen Vermögenswerten.

Diese Geschichte hat wenig mit den kruden Entwicklungstheorien zu tun, die so gerne von den Regierungen – und einigen NGOs – der reichen Länder zitiert werden. „Richtige Politik“ kann „Armut zur Geschichte machen“. Entwicklungshilfe allein kann das nicht.

* Der Staat als Dauerbaustelle

In vielen Ländern ist der Staat nach wie vor eine Dauerbaustelle. Das rosarote Bild hat einige Makel. Machtkämpfe und wechselnde Allianzen bedeuten häufige Rückschritte. Rohe Gewalt und Gangstertum herrschen in den Ländern vor, in denen sich der Staat als Herr seines Volkes versteht, nicht als dessen Diener. In seinem Roman „1984“, den George Orwell zu Beginn des Kalten Krieges verfasste, zeichnet der Autor eine totalitären Staat, der um den Kult des „Großen Bruders“ aufgebaut ist: „Wenn es ein Bild gibt, das die Zukunft symbolisiert, dann ist es ein Stiefel, der in ein menschliches Gesicht tritt – immer und immer wieder“. Im 20. Jahrhundert wurden etwa 170 Millionen Menschen von ihren eigenen Regierungen getötet, viermal so viel wie in Kriegen zwischen Staaten. Die schlimmsten Entbehrungen und Leiden sind heute jedoch nicht Orwellscher Natur. Sie bestehen dort, wo der Staat schwach ist: Die Hälfte aller Kinder, die vor dem fünften Lebensjahr sterben, leben in Ländern, die als „fragil“ definiert werden.

Abhilfe ist nicht einfach, aber möglich – wie einige Staaten zeigen, die einst als „failing state“, als zerfallender Staat galten. Beispiel Malaysia: Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich das Land, das nach der Unabhängigkeit in ethnischen Aufständen zu versinken drohte, in einen mächtigen Industriestaat verwandelt. Der Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang nennt sein eigenes Land, Südkorea, dessen Beamte in den 1960er Jahren von der Weltbank nach Pakistan und auf die Philippinen geschickt wurden, um dort alles „über Good Governance zu lernen“. Der Lehrling hatte seinen Meister bald überflügelt.

Wenn man Entwicklung lediglich als steigendes Pro-Kopf-BIP definiert, gelangt man schnell in eine Sackgasse. Es sind effektive Verwaltungen, die die Grundlage für schnelles Wachstum schaffen. Aber Entwicklung, insbesondere der Kampf gegen die Armut, geht viel weiter. Als die Weltbank in einer nie da gewesenen Aktionen 64.000 arme Menschen weltweit über ihr Leben befragte, erhielt sie ein komplexes, menschliches Bild der Armut, das Themen umfasste, die in der wissenschaftlichen Literatur nur allzu oft ignoriert werden: die Möglichkeit, seinen Kindern zu einem guten Start ins Leben zu verhelfen, die psychischen Belastung, die Armut mit sich bringt. Das Fazit der Weltbank: „Immer wieder erweist sich, dass Machtlosigkeit der Kern eines schlechten Lebens ist.“

* Empowerment als Schlüssel

Um dieser Machtlosigkeit ein Ende zu bereiten, braucht es jedoch mehr als Wahlkampagnen und die Regierung. Ein breiteres Empowerment, das Politik und Gesellschaft verändern kann, benötigt sowohl „Macht nach innen“ – zum Beispiel wenn Frauen auf ihrem Recht nach körperlicher Unversehrtheit in der Familie bestehen – und die „Macht nach außen“ in Form von kollektiver Organisation.

Im Jahr 1900 was Neuseeland das einzige Land mit einer von der erwachsenen Bevölkerung gewählten Regierung. Am Ende des Jahrhunderts gab es, trotz massiver Rückschläge, wie Faschismus, Kommunismus und immer wiederkehrender Wellen von Militärputschen gegen gewählte Regierungen, 120 gewählte demokratische Regierungen. Auch Demokratien sind selten makellos, und Fortschritt ist, wie wir in mehreren afrikanischen Ländern gesehen haben, umkehrbar. Aber der allgemeine Trend ist positiv.

* Erfolgreiche Transformation

Effektive Staaten in Ostasien und anderen Teilen der Welt begannen oft als Autokratien. In Südamerika arbeiten aktive gesellschaftliche Bewegungen und politische Organisationen nur selten im Kontext eines effektiven Staates. Bedeutet das, dass sich eine aktive Zivilgesellschaft und effiziente Regierungen gegenseitig ausschließen? Gott sei Dank ist das Argument der „asiatischen Werte“, das heißt der freundlichen Diktatur, das die Staatslenker in Singapur und Malaysia gerne anführten, widerlegt. Einer neuen Erhebung des Harvard-Wirtschaftswissenschaftlers Dani Rodrik zufolge liefern Demokratien konsistentere langfristige Wachstumsraten, bessere kurzfristige Stabilität und mehr Gleichberechtigung, und sie werden besser mit wirtschaftlichen Schocks fertig.

Viele der Länder, die sowohl eine aktive Zivilgesellschaft aufweisen als auch effizient geführt werden, haben den Weg aus der Armut geschafft und sind vom Entwicklungsradar verschwunden. Einige der erfolgreichsten Transformationsprozesse des vergangenen Jahrhunderts, zum Beispiel in Schweden und Finnland, wurden durch gesellschaftliche Pakte innerhalb einer Demokratie ausgelöst. Sie haben bewiesen, was durch die Kombination aus gesellschaftlicher Beteiligung und guter Regierungsführung erreicht werden kann.

Obgleich diese Kombination das Herzstück aller Entwicklungsbemühungen ist, so wird sie doch in den Debatten um die Entwicklungsindustrie, deren typische Vertreter internationalen Institutionen wie Weltbank und IWF sind, kaum anerkannt. Hier regiert die Wirtschaftspolitik und jede andere Form der Politik wird als ein lästiger Prozess gesehen, in dem unwürdige Personen ihre Macht nutzen, um die Pläne der weisen Volkswirte zu sabotieren. „Die richtigen Preise”, so das Credo der Ökonomen, bekommt man nur, wenn sich der Staat aus dem Wirtschaftsmanagement heraushält und die Bühne frei macht für die wahren Helden der Entwicklung: die Unternehmer.

Es hat nicht funktioniert. In den Staaten Südamerikas, ehedem treue Jünger des Washington Consensus, hat der Rückzug des Staates keinen dauerhaften Fortschritt gebracht. China und Vietnam dagegen, wo der Staat weiterhin eine zentrale Rolle spielt, prosperieren.

* Ein neues Zeitalter des Mangels

Die Rolle der Politik in der Entwicklung wird immer wichtiger werden. Die Welt tritt in eine neue Ära des Mangels ein, in der Nahrungsmittel, Wasser und Öl rationiert werden, sei es direkt durch Regulierung oder indirekt über den Preis. In diesem Umfeld werden Konflikte über den Zugang zu Ressourcen unweigerlich an Schärfe zunehmen. Politik und Macht werden entscheiden, wer was bekommt.

All dies stellt eine Herausforderung für die globale 100-Milliarden-Dollar-Entwicklungsindustrie dar. Offizielle Geber wie das britische Department for International Development überdenken ihren Ansatz, um die Rolle der Politik in der Entwicklung besser verstehen zu können. Aber sie stehen vor einem Dilemma: Jede externe Institution, insbesondere eine Regierungsbehörde, läuft Gefahr, sich in die internen politischen Angelegenheiten eines Entwicklungslandes einzumischen. Um dies zu vermeiden, erliegt man gerne der Versuchung, politische Themen als technische Themen zu formulieren: Zum Beispiel, indem man sich auf Regierungsführung konzentriert oder auf Institutionenbildung. Dieser Versuch, der Machtfrage aus dem Weg zu gehen, führt jedoch zu ähnlichen Frustrationen wie der Fokus auf die Wirtschaftspolitik: Warum machen diese Länder nicht einfach das, was gut für sie ist?

* Effektiver Staat und Bürgerbeteiligung

Internationale Organisationen wie Oxfam wurden lange von einigen Partnerorganisationen in Entwicklungsländern kritisiert, weil sie sich für Politikmaßnahmen statt für Parteipolitik einsetzen. Aber ihnen sind reale Grenzen gesetzt. Wohltätigkeitsgesetze, ihr Auftrag und bittere Erfahrungen sollen sie davon abhalten, in einem Entwicklungsland zum reinen Wahlhelfer für eine bestimmte Partei zu werden. Stattdessen sollen sie das Empowerment fördern, ohne selbst politisch zu werden. Das ist ein Drahtseilakt – aber er ist möglich.

So haben in Bolivien 20 Jahre Unterstützung den Chiquitano Indianern geholfen, sich aus der Halbsklaverei zu befreien und eine politische Kraft zu werden – eine Entwicklung, die zur Gründung von Organisationen indigener Völker führte, zum Beispiel der von José Bailaba geleiteten Gruppe, und zur Wahl von Chiquitano-Bürgermeistern und -Senatoren. Nach der Wahl des ersten indigenen Präsidenten Südamerikas, Evo Morales, schrieb ein Landreformgesetz das Recht der Chiquitanos auf eine Million Hektar ihres traditionellen Landes fest.

Auch wenn Entwicklung quasi das Ergebnis einer chemischen Reaktion der Elemente „effektiver Staat“ und „Bürgerbeteiligung“ ist, so spielen globale Institutionen wie die Geberagenturen, die UNO oder transnationale Konzerne eine wesentliche Rolle.

Nationalstaaten werden nicht einfach vom Erdboden verschwinden, auch wenn ihre Handlungsfähigkeit durch ein immer dichteres Netz globaler und regionaler Handelsabkommen, bilateraler Investitionsvereinbarungen und dem sprießenden „soft law“ internationaler Konventionen und Verhaltenskodizes – von Finanzdienstleistungen bis zu Menschenrechten – immer stärker eingeschränkt wird. Die Regierungen der reichen Länder und ihre Bürger müssen sicherstellen, dass dieses System des globalen Regierens nationale Entwicklungsbemühungen unterstützt, sofern diese auf der Zusammenarbeit der Regierung mit der Zivilgesellschaft beruhen. Sie müssen mächtige Länder und Konzerne davon abhalten, Schaden zu verursachen, sei es durch Bestechungsgelder oder durch Politikmaßnahmen, die den Armen schaden.

Der Kampf gegen Armut, Ausgrenzung und Umweltzerstörung wird das 21. Jahrhundert so prägen, wie frühere Zeiten durch den Kampf gegen die Sklaverei oder für das Wahlrecht geprägt wurden. Es gibt kaum einen Kampf, der lohnenswerter ist.

Duncan Green ist Leiter der Grundsatzabteilung von Oxfam Großbritannien und Autor des soeben bei Oxfam erschienenen Buches From Poverty to Power. How active citizens and effective states can change the world. Übersetzung ins Deutsche: Annette Bus
Veröffentlicht: 26.6.2008

Empfohlene Zitierweise: Duncan Green, Macht vs. Armut: Effektive Staaten und Beteiligung, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 26.6.2008 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)