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Paradoxe Kapitalflüsse zwischen Süd und Nord

Artikel-Nr.: DE20080910-Art.-31-2008

Paradoxe Kapitalflüsse zwischen Süd und Nord

Ein neues Modell der Entwicklungsfinanzierung?

Die anhaltende Instabilität auf den internationalen Finanz- und Rohstoffmärkten birgt düstere Aussichten für die Weltwirtschaft mit beträchtlichen Risiken für die Entwicklungswelt. Auf der anderen Seite könnte die neue Position des Südens als Nettokapitalexporteur zum Ausgangspunkt für ein neues Modell der Entwicklungsfinanzierung werden. Ungeachtet dessen sind viele Länder auch weiterhin auf eine drastische Erhöhung der öffentlichen Entwicklungshilfe angewiesen, so der jüngste Flaggschiffreport der UNCTAD, den sich Rainer Falk angesehen hat.

Die globalen Kapitalmärkte sind voller Paradoxien. Jüngstes Beispiel: Da verstaatlicht die US-Regierung die beiden Immobilienriesen Fannie Mae und Freddie Mac, und die internationalen Börsen veranstalten ein wahres Kursfeuerwerk. Einem anderen Beispiel widmet sich der diesjährige Trade & Development Report (TDR) der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung: Seit Beginn des Jahrzehnts hat sich die Leistungsbilanzsituation vieler Entwicklungsländer deutlich verbessert, so dass sich das außenwirtschaftliche Defizit insgesamt in einen Überschuss verwandelt hat (s. Graphik). Im Ergebnis ist aus den Entwicklungsländern als Gruppe ein Nettokapitalexporteur geworden, der mehr Kapital in den Norden exportiert als ihm umgekehrt aus den Industrieländern zufließt.

* Bleibende Verwundbarkeit

Diese bemerkenswerte Entwicklung kann nach Auffassung der TDR-Autoren im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurückgeführt werden. Zum einen ist es den schnell wachsenden Fertigwarenexporteuren im Süden gelungen, sich aktiv und erfolgreich in die Weltwirtschaft zu integrieren, wobei dies durch eine „wettbewerbsorientierte Wechselkurspolitik“ unterstützt wurde. Zum anderen haben sich die Gewinne aus dem Rohstoffexport infolge der Preissteigerungen auf dem Weltmarkt für viele Entwicklungsländer stark erhöht, was ebenfalls zu Verbesserung der Leistungsbilanzsituation beigetragen hat.

Die neue Position des Südens als globaler Nettokapitalexporteur ist jedoch keineswegs stabil. Viele Entwicklungsländer, deren Terms of Trade sich in den letzten Jahren verbessert haben, bleiben hochgradig anfällig für mögliche negative Entwicklungen der Weltwirtschaft, etwa einen längeren weltwirtschaftlichen Konjunkturabschwung oder ein Ende des Rohstoffbooms. Für eine Reihe von Entwicklungsländern sind die gestiegenen Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise ohnehin eine Last, die insbesondere die unteren Segmente der Bevölkerung trifft und die ohnehin spärlichen Erfolge beim Kampf gegen die Armut wieder zunichte zu machen droht.

Der diesjährige TDR wiederholt vor diesem Hintergrund noch einmal die nachdrücklichen Warnungen der UNCTAD, die vergleichsweise günstige weltwirtschaftliche Position der Entwicklungsländer zu nutzen, um Prozesse der Diversifikation und der nachhaltigen Industrialisierung in die Wege zu leiten und sich dabei vor allem auf höhere Investitionen in die produktiven Kapazitäten der Entwicklungsländer zu stützen. Entscheidend für solche Investitionen ist die Bereitstellung angemessener, verlässlicher und kostengünstiger Finanzmittel.

* Das Kapital fließt bergauf

Nach Auffassung der UNCTAD-Ökonomen kann die Tatsache, dass heute mehr Kapital von Süd nach Nord als von Nord nach Süd fließt („das Kapital fließt bergauf“), als Beleg dafür genommen werden, dass eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung nicht unbedingt mit einem Leistungsbilanzdefizit, also mit Nettokapitalzuflüssen von außen, einhergehen muss, wie die Mainstream-Theorie behauptet. Die nach dieser Theorie „paradoxe“ Situation des umgekehrten Nettokapitalflusses kann vielmehr als Ausgangspunkt für ein neues Modell der Entwicklungsfinanzierung genommen werden, so die Hauptthese des neuen Berichts.

Leistungsbilanz in % des BIP


In der Tat steht die neue außenwirtschaftliche Position des Südens im Gegensatz zu konventionellen Erwartungen, nach denen das Kapital bei offenen Kapitalmärkten von den reichen in die armen Länder fließen müsste. Noch überraschender ist, dass in den nettokapitalexportierenden Ländern die produktiven Investitionen und das Wachstum in der Regel sogar höher sind als in solchen Ländern, die Nettozuflüsse an Kapital zu verzeichnen haben. Viele Länder Lateinamerikas beispielsweise, die der konventionellen Theorie folgten, verzeichneten keinen signifikanten Anstieg produktiver Investitionen, weil die Anlockung ausländischen Kapitals meistens mit hohen internen Finanzierungskosten und der Abwertung der Währung verbunden war.

* Umkehr der Prioritäten

Der von den UNCTAD-Ökonomen vorgeschlagene neue Ansatz zur Finanzierung von Entwicklung und Investitionen legt den Fokus also weniger auf Kapitalimporte und die traditionelle Ersparnisbildung durch die (im Süden oft ohnehin armen) Haushalte. Stattdessen soll die Finanzierung der Investitionen stärker aus Unternehmensgewinnen und ein zu entwickelndes bzw. zu verbesserndes heimisches Bank- und Kreditwesen erfolgen. Auf diese Weise könne in vielen Fällen eine Abhängigkeit von externer Kapitalzufuhr vermieden werden, vorausgesetzt es werde eine angemessene gesamtwirtschaftliche Politik, die z.B. die steuerlichen Anreize entsprechend setzt, verfolgt.

Die TNC-Autoren sind nicht so naiv anzunehmen, dass das neue Modell der Entwicklungsfinanzierung ohne weiteres von allen Entwicklungsländern übernommen werden könnte. So weisen sie darauf hin, dass von 113 Entwicklungsländern zwischen 2002 und 2006 lediglich 42 Länder Nettokapitalexporteure und damit für die positive Gesamtbilanz des Südens verantwortlich waren. 60 Länder verzeichneten in dieser Zeit eine Verbesserung ihrer Leistungsbilanzposition, wobei der Trend von Defiziten zu Überschüssen ursprünglich durch starke Währungsabwertungen in den Schwellenländern ausgelöst wurde, meist im Gefolge der Asienkrise Ende der 1990er Jahre, und diese verbesserte Leistungsbilanzposition durch eine konsequente und bewusste Wechselkurspolitik von Regierungen und Zentralbanken aufrecht erhalten wurde. Für viele, vor allem ärmere Entwicklungsländer bleiben daher Transferleistungen in Form von öffentlicher Entwicklungshilfe eine absolute Notwendigkeit.

* „Selbstfinanzierung“ der Hilfe

Insgesamt aber haben sich die weltweiten Devisenreserven inzwischen auf 6,5 Billionen US-Dollar erhöht. Der Nettotransfer von Ressourcen aus dem Süden belief sich im Jahre 2007 auf rund 720 Mrd. US-Dollar. So begrüßenswert das Plädoyer des neuen TDR für eine Prioritätenumkehr bei der Mobilisierung finanzieller Ressourcen von außen nach innen ist, es verwundert doch etwas, dass der Bericht keinerlei Überlegungen darüber enthält, wie die beispiellos hohen Devisenreserven des Südens, die ja fast gänzlich in den Industrieländern angelegt sind, entwicklungspolitisch nutzbar gemacht werden können.

In diesem Zusammenhang haben kürzlich Stephany Griffith-Jones und José Antonio Ocampo ein interessantes Papier zur „Selbstfinanzierung“ von Entwicklung vorgelegt (s. Hinweis). Vor dem Hintergrund der Diskussion um die viel zitierten Staatsfonds aus dem Süden schlagen sie vor, die Entwicklungsländer sollten 1% ihrer Devisenreserven regionalen und lokalen Entwicklungsbanken zur Verfügung stellen, um vor allem Infrastrukturinvestitionen im Süden zu finanzieren. Das wären etwa 50 Mrd. US-Dollar (also so viel wie die G8-Länder an zusätzlicher Entwicklungshilfe versprochen haben, aber nicht auszahlen) und ergäbe (bei einem geschätzten Verhältnis von Bankkapital zu Krediten von 2,4) eine zusätzliche Kreditkapazität von rund 120 Mrd. US-Dollar.

* MDG-Kritik

Die UNCTAD-Ökonomen betonen, dass ihr Modell die notwendige Steigerung der Nord-Süd-Transfers nicht obsolet macht, wenn die Millennium-Entwicklungsziele (MDGs) der Vereinten Nationen bis 2015 doch noch erreicht werden sollen. Mit Blick auf die Verstetigung der Armutsbekämpfung über das Jahr 2015 hinaus kritisieren sie jedoch, in der MDG-Debatte werde oft implizit davon ausgegangen, „dass in einer liberalisierten und sich globalisierenden Wirtschaft Wachstum und struktureller Wandel automatisch von den Marktkräften geschaffen würden. Entsprechend wird unter Effektivität der Hilfe in wachsendem Maße ihr Beitrag zur Erreichung der MDGs gesehen. In der Konsequenz wird ein größerer ODA-Anteil für Gesundheit, Bildung und andere soziale Zwecke ausgegeben“, heißt es in dem Report. Diese Art der Entwicklungshilfe sei wesentlich und habe einen Wert sui generis. Aber wenn sie nicht dazu beiträgt, das Wachstum im Süden zu steigern, wird sie langfristig keinen effektiven Beitrag zur Reduzierung der Armut leisten können.

Hinweise:
* UNCTAD, Trade and Development Report 2008: Commodity proces, capital flows and the financing of investment, 201 pp, United Nations: New York and Geneva 2008. Bezug: über www.unctad.org
* Stephany Griffith-Jones/José Antonio Ocampo, Sovereign Wealth Funds: A Developing Country Perspective, 34 pp, Initiative for Policy Dialogue, Columbia University, February 2008. Bezug über: www.policydialogue.org.

Veröffentlicht: 10.9.2008

Empfohlene Zitierweise: Rainer Falk, Paradoxe Kapitalflüsse zwischen Süd und Nord. Ein neues Modell der Entwicklungsfinanzierung?, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Nr. 09, Luxemburg 2008 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)