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Abschied auf Raten vom Kohärenzkonzept

Artikel-Nr.: DE20091013-Art.45-2009

Abschied auf Raten vom Kohärenzkonzept

Wie entwicklungsverträglich ist Europas?

Vorab im Web – Die Entwicklungspolitiker müssen heute mehr denn je zusammenstehen, um die negativen Konsequenzen der Finanz-, Wirtschafts- und Handelspolitik auf die Entwicklungsländer abzuwehren. Doch just in diesem Augenblick schlägt die Europäische Kommission eine Neuausrichtung des entwicklungspolitischen Kohärenzkonzepts vor und stellt damit auch dessen vertraglichen Rang im Rahmen der EU in Frage, schreibt Denise Auclair.

Seit 1992 stellt der EU-Vertrag klipp und klar fest, dass Europa in seiner Politik, die für die Entwicklungsländer von Belang ist, die Ziele seiner Entwicklungszusammenarbeit, namentlich nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung, in Rechnung stellen soll. Diese Verpflichtung ist das Neidobjekt anderer EU-Politikbereiche, da sie viel stärker ist als beispielsweise die „Integrationsverpflichtung“, wonach umweltpolitische Belange berücksichtigt werden müssen.

* Kohärenz „zu schwer“ zu verwirklichen?

2005 wurde diese Verpflichtung noch beträchtlich aufgewertet, als ihr eine zentrale Rolle in den Bestrebungen der EU zur Verwirklichung der acht Millennium-Entwicklungsziele und zur Halbierung der Armut bis 2015 beigemessen wurde. Besonderes Gewicht erhielt sie auch durch die Form eines Arbeitsprogrammes und einer zweijährigen Berichtspflicht. Gleichwohl behauptet die Kommission in einer Mitteilung von Mitte September 2009 (s. Hinweis), die auf dem zweiten Bericht basiert, dass die Erfüllung der Kohärenzverpflichtung „zu schwer“ sei. Stattdessen schlägt sie eine verwässerte Definition unter der Überschrift eines „Whole of the Union“-Ansatzes vor (in der deutschen Übersetzung: ein gemeinsames Konzept der Union).

Dieser Vorstoß markiert das Zusammentreffen zweier separater Dynamiken. Auf der einen Seite erkennt die Mitteilung offen an, dass die Erreichung entwicklungspolitischer Kohärenz vom politischen Willen abhängig ist, reale Konflikte zwischen heimischen und entwicklungspolitischen Interessen zu überwinden. Angesichts dieser Herausforderung schlägt die Kommission eine Anpassung dergestalt vor, dass die Zahl der kohärenzrelevanten Politikbereiche und Themen von zwölf auf fünf reduziert werden sollen.

Auf der anderen Seite erachten es viele Mitgliedsstaaten im Zeichen der Finanzkrise als zunehmend schwierig, ihre Verpflichtungen von 2005, die öffentliche Entwicklungshilfe EU-weit auf 0,5% des Bruttonationaleinkommens bis 2010 und auf 0,7% bis 2015 zu erhöhen. Um diesen beschämenden Zustand zu überdecken, hat Italien einen „Whole of country“-Ansatz vorgeschlagen, der zu den ODA-Zahlen andere Typen von Finanzflüssen aus Europa in die Entwicklungsländer hinzuzählen würde, um ein „adäquateres“ Bild der europäischen Wohltaten für die Entwicklungswelt zu bekommen. Aufgrund seines Reizes für andere säumige Entwicklungshilfezahler wurde das Konzept in den Schlussfolgerungen des Entwicklungsministertreffens vom Mai 2009 erwähnt, dann in den Schlussfolgerungen des G8-Gipfels in L’Aquila zitiert und hernach auf die EU-Ebene gebracht.

Die Hauptrechtfertigung der neuen Kommissionsinitiative besteht darin, dass im Kontext der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise „Hilfe allein nicht ausreichend“ ist, um die Entwicklungsziele zu erreichen. Deshalb „sollte die EU entwicklungspolitische Kohärenz als Teil eines Konzepts für die gesamte Union bearbeiten, und zwar durch die Schaffung eines politischen Rahmens, der andere Politiken und Nicht-ODA-Finanzflüsse besser mit den Entwicklungszielen in Einklang bringt“.

Die Mitteilung erkennt an, dass es „bei entwicklungspolitischer Kohärenz darum geht, die negativen Konsequenzen der politischen Entscheidungen und Gesetzesinitiativen der EU auf Entwicklungsländer zu minimieren und ihre positiven Effekte auf Entwicklungsziele zu erhöhen“. Doch dieses starke erklärte Ziel wird unterminiert, indem versucht wird, außerentwicklungspolitische Finanzflüsse in ihrer Wirkung mit der öffentlichen Hilfe gleichzustellen.

* Wie wird Kohärenz definiert?

Die entscheidende Frage ist, wie Politikkohärenz definiert wird und welche politischen Prioritäten ihren verschiedenen Aspekten gegeben werden. Schon 2005 gab es eine Spannung zwischen der Fokussierung auf die negativen entwicklungspolitischen Konsequenzen der anderen EU-Politiken und der Betonung positiver Synergien. Doch im Lichte der multiplen globalen Krisen (Finanzen, Wirtschaft, Klima und Ernährungssicherheit) seit 2008 ist die Bearbeitung der negativen Konsequenzen viel dringlicher geworden.

Die Kurzsichtigkeit des Ansatzes der Mitteilung wird durch die Behauptung illustriert, dass das Klima- und Energiepaket der EU von 2008 „beträchtliche Möglichkeiten zur Produktion und Anwendung von Pflanzenkraftstoffen in den Entwicklungsländern bietet“ – während natürlich die Konsequenzen der Biosprit-Politik der EU auf die Landnutzung (einschließlich der Risiken der Monokultur, der Bodendegradation, der Entwaldung und der Konkurrenz mit der Nahrungsmittelproduktion) oder die unzulänglichen Verpflichtungen der EU zur CO2-Reduktion bzw. zur Finanzierung der Anpassung an den Klimawandel in Entwicklungsländern nicht erwähnt werden.

Während die Kommission Klima und Nahrungsmittelsicherheit als zwei ihrer fünf obersten Prinzipien (die dem Kohärenzgebot genügen müssen) beibehält, ist es beschämend, dass die Finanzpolitik der EU herausfällt, obwohl doch eingestanden wird, wie sehr die Finanzkrise deren Konsequenzen für die Entwicklungsländer demonstriert hat. Die Handelspolitik wird nur in ihrer Bedeutung für Ernährungssicherheit berücksichtigt, obwohl ihre negativen Konsequenzen für die Entwicklungsländer gerade bei der EU besonders krass sind.

* Zweifelhaftes ODA-Plus-Konzept

Problematischer noch ist die Verschiebung der Priorität von den Politikfragen zu den Finanzflüssen. Das sog. ODA-Plus-Konzept ist aus verschiedenen Gründen zweifelhaft. Die Mitteilung nennt ausländische Direktinvestitionen, Rücküberweisungen von Migranten und Technologietransfers als Finanzflüsse, die berücksichtigt werden müssen. Doch sie erkennt an, dass diese Flüsse stark von privaten Wirtschaftsakteuren abhängig sind. Während es in der Tat lobenswert ist, wenn Regierungen diese Flüsse ermutigen, können sie dennoch nicht für ihre Konsequenzen oder ihren Entwicklungsbeitrag verantwortlich gemacht werden.

Darüber hinaus betrachtet das ODA-Plus-Konzept nur eine Seite, nämlich den Fluss von Europa in die Entwicklungsländer. Die andere Seite der Gleichung, wozu der illegale Abfluss von Mitteln nach Europa, z.B. in Form von Kapitalflucht durch Individuen oder multinationale Unternehmen, oder die Rückzahlung von Schulden, die durch verantwortungslose Regierungen aufgenommen wurden, bleibt außen vor.

Das ODA-Plus-Konzept dient letztlich dazu, die Definition der ODA und ihre Konzentration auf Armutsbekämpfung und das Recht auf Entwicklung zu unterminieren. Durch seine Propagierung unterminiert die Kommission auch, was einmal als ihre Stärke galt, nämlich eine Art Watchdog der Integrität der ODA zu sein, etwa indem sie der Einbeziehung von Schuldenerlassen in die Entwicklungshilfestatistik widerstand und auf die Mitgliedsstaaten dahingehend Druck ausübte, dass diese ihre Versprechen in puncto Entwicklungshilfe erfüllten.

Die Mitteilung wird jetzt in den Rat kommen und dort im Lichte der Schlussfolgerungen diskutiert werden, die das Treffen der Entwicklungsminister am 16./17. November trifft. Doch einige Mitgliedsländer sind gegen das ODA-Plus-Konzept oder meinen, dass diese Debatte im Entwicklungshilfeausschuss (DAC) der OECD geführt werden sollte. Andere denken, dass dies die falsche Debatte zum falschen Zeitpunkt ist. Folglich ist unklar, wie die Sache ausgehen wird.

Hinweise:
* Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung – politischer Rahmen für ein gemeinsames Konzept der Europäischen Union, Brüssel, 15.9.2009, KOM(2009) 458 endg. Bezug: www.ec.europa.eu/development/icenter/repository/COM_2009_458_part1_de.pdf
* Am 14. Oktober bringt das europäische NGO-Netzwerk CONCORD seinen „Spotlight Report“ zur entwicklungspolitischen Kohärenz der EU heraus (www.concordeurope.org).
* Vom 22.-24. Oktober finden die Europäischen Entwicklungstage in Stockholm statt. Auch dort steht das Thema zur Debatte (www.eudevdays.eu).

Denise Auclair ist Referentin für EU-Entwicklungspolitik bei CIDSE, einer Allianz von 16 katholischen Entwicklungsorganisationen in Brüssel.

Veröffentlicht: 13.10.2009

Empfohlene Zitierweise: Denise Auclair, Abschied auf Raten vom Kohärenzkonzept: Wie entwicklungsverträglich ist Europa?, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, Luxemburg, W&E 10/2009 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).