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Auf dem Weg zu einer neuen Entwicklungstheorie?

Artikel-Nr.: DE20090812-Art.32-2009

Auf dem Weg zu einer neuen Entwicklungstheorie?

UNCTADs jüngster LDC-Report

Vorab im Web – Der diesjährige Bericht der Handels- und Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNCTAD) über die am wenigsten entwickelten Länder ist eine spannende Lektüre und hat Bedeutung weit über die 49 betroffenen Länder hinaus. Indem er die Konturen eines neuen Entwicklungsstaats entwirft, leistet er einen Beitrag zur Revision der herrschenden Entwicklungstheorie, die nichts anderes ist als eine Kopie der in den Industrieländern dominierenden wirtschaftspolitischen Dogmen. Von Jörg Goldberg.

Die 49 von den UN als Niedrigeinkommensländer (LDCs) klassifizierten Staaten – davon 35 afrikanische - sind von der aktuellen Krise besonders stark und nachhaltig betroffen. Neben ihrer für Schocks anfälligen einseitigen Wirtschaftsstruktur, d.h. der auf wenigen Exportprodukten beruhenden einseitigen Integration in die Weltwirtschaft, ist dafür auch die fehlende Finanzkraft der staatlichen Institutionen verantwortlich.

* Unterfinanzierung des Staates

Die Industrieländer und viele Schwellenländer haben auf die Krise mit umfänglichen staatlichen Interventionen zugunsten der Privatwirtschaft reagiert. Allein die Banken haben weltweit 5 Billionen Dollar an Kapitalspritzen und Garantien erhalten. Hinzu kommen große Konjunkturprogramme. Für eine solche Antikrisenpolitik aber haben die armen Länder schlichtweg kein Geld. Sie haben – mit Ausnahme weniger Ölexporteure – defizitäre Zahlungsbilanzen und sind nach wie vor hoch verschuldet. Daher sind die Empfehlungen der internationalen Entwicklungsgemeinschaft an die ärmsten Länder, Prinzipien „guter Regierungsführung“ einzuhalten, im Ergebnis zynisch: Die Regierungsausgaben der LDCs belaufen sich auf 60 US-Dollar pro Kopf – gegenüber 6.561 US-Dollar in den Hocheinkommensländern.

„Die Zentrale Frage ist: Wie können die Institutionen der armen Länder auf dieser finanziellen Grundlage sinnvoll operieren? Die Antwort ist, dass sie es nicht können.“ (28) Es gibt im Gegenteil die Gefahr, dass sich die Wirtschaftskrise zu einer erneuten Schuldenkrise ausweitet: In den LDCs beläuft sich der externe Verschuldungsgrad auf 42% des Inlandsprodukts, gegenüber 26% im Durchschnitt aller Entwicklungsländer.

* Regierungsführung und Entwicklung

Die marktradikale Vorstellung der 1980er Jahre, man müsse den Staat als Entwicklungshemmnis „schlank“ halten, wurde schon in den 1990er Jahren über Bord geworfen. Heute heißt es „government matters“, allerdings in einem sehr spezifischen Sinn. Im Mittelpunkt steht die Forderung nach „guter Regierungsführung“ – schlechte Regierungsführung sei die wichtigste Ursache von Armut und Unterentwicklung. Die von der Gebergemeinschaft propagierten Prinzipien guter Regierungsführung aber sind ausschließlich prozessorientiert – sie berühren zwar wichtige Aspekte wie Partizipation, Transparenz, Rechenschaftspflichtigkeit und Effizienz, klammern aber politische Inhalte aus. Hinzu kommt, dass gute Regierungsführung in den letzten Jahren zunehmend mit Marktfreundlichkeit übersetzt wird – im Sinne von „new public management“ sollen Verwaltungen wie Unternehmen geführt werden (18).

Dagegen wendet die UNCTAD ein: „Es muss anerkannt werden, dass die Qualität der Regierungsführung nicht bloß eine Frage der Regierungsprozesse ist, sondern dass diese auch an den Ergebnissen gemessen werden muss. Es wäre eine seltsame Art von Regierungsführung, die gemessen an den oben genannten Prinzipien perfekt ist, aber keine Ergebnisse bringt. In einem Entwicklungsland ist die Regierungsführung nur dann gut, wenn sie Entwicklung generiert.“ (V)

Für die UNCTAD geht es bei Regierungsführung also nicht bloß um Institutionen und Verfahren, sondern vor allem um effiziente Entwicklungspolitik – daher schlägt der Bericht vor, in Zukunft nicht mehr von guter Regierungsführung („good governance“), sondern von entwicklungsfördernder Regierungsführung („good development governance“) zu sprechen (VI). Das heißt aber, dass der einseitige Fokus auf die Qualität von Institutionen aufgegeben werden muss. Dagegen unterstreicht die UNCTAD: Entwicklung „ist nicht bloß die Frage von Institutionen, sondern ebenso eine Frage von Politiken und deren Formulierung und Umsetzung. Die Frage, welche Institutionen notwendig sind, ist untrennbar mit der Frage nach dem Inhalt der verfolgten Politiken verbunden.“ (VI)

* Eckpunkte guter Entwicklungspolitik

Wenn die UNCTAD eine stärkere entwicklungspolitische Rolle des Staates einfordert, meint sie damit nicht die Rückkehr zur Entwicklungsplanung der 1960er und 1970er Jahre. Sie schlägt einen Ansatz vor, der dem Staat zwar eine zentrale Rolle zuspricht, allerdings im Rahmen einer gemischten Wirtschaft („mixed economy“). „Der Entwicklungsstaat des 21. Jahrhunderts sollte eine breite Auswahl unterschiedlicher Regierungsmaßnahmen anwenden, dies aber im Rahmen einer gemischten Wirtschaft, die private Unternehmen befähigt, nationale entwicklungspolitische Ziele zu erreichen.“ (VII). Private Unternehmen sind zu fördern und entwicklungspolitisch einzubinden. Marktmechanismen sind an ihrer Fähigkeit zu messen, „die von der Regierung gesetzten Ziele zu verwirklichen.“ (32).

Der Bericht betont, dass es kein für alle Länder anwendbares entwicklungspolitisches Rezept gibt – entwicklungspolitische Maßnahmen müssen auf die unterschiedlichen nationalen und regionalen Bedingungen zugeschnitten sein. Trotzdem werden entwicklungspolitische Grundsätze für die Bereiche allgemeine Wirtschaftspolitik (Kap. 2), Landwirtschaft (Kap. 3) und Industrie (Kap. 4) diskutiert.

Die Gebergemeinschaft und die internationalen Finanzagenturen stellen Ziele wie Inflationsbekämpfung und ausgeglichene Staatshaushalte in den Mittelpunkt der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Dem wird das Hauptproblem der LDCs, das niedrige Niveau öffentlicher Investitionen, geopfert. Dagegen empfiehlt die UNCTAD, öffentliche Investitionen zum Kernpunkt der Wirtschaftspolitik zu machen: Öffentliche und private Investitionen sind oft komplementär (156). Darüber hinaus wird für eine differenzierte Industriepolitik (im weiten Sinn) plädiert, die gezielt Sektorförderung praktiziert. Dabei sollte die Landwirtschaft Priorität haben: „Die Diversifizierung der Landwirtschaft und der Transfer überschüssiger Arbeit in andere Sektoren sind zentral für anhaltendes Wirtschaftswachstum. Landwirtschaftliches Wachstum ist eine Grundvoraussetzung.“ (116) Was die verarbeitende Industrie betrifft, so werden der Förderung von Lernen und Wissenstransfers einerseits und von lokalem, innovativem Unternehmertum andererseits ein hoher Stellenwert eingeräumt. Dieses Unternehmertum aber muss sozial eingebunden sein: „Sozialer Zusammenhalt ist grundlegend.“ (168)

* Schlussfolgerungen

Der Bericht enthält eine Vielzahl entwicklungspolitisch relevanter Überlegungen und Anregungen. Hier seien drei Aspekte erwähnt:

* Entwicklungspolitische Debatten, einschließlich jene über Regierungsführung, werden bislang vom ‚Norden’ dominiert. Die im Bericht hervorgehobene Bedeutung von endogener Wissensproduktion muss das Thema der entwicklungspolitischen Konzeptionsentwicklung einbeziehen.

* Die im Bericht nur gestreiften internationalen Regeln sind für die armen Länder von überlebenswichtiger Bedeutung. Die 49 LDCs befinden sich auch deshalb seit Jahrzehnten ganz unten auf der Entwicklungsskala, weil sie nicht in der Lage sind, ihren Interessen global ausreichend Gewicht zu verschaffen.

* Die UNCTAD betont, wie wenig sinnvoll globale Rezepte, wie notwendig länderspezifische Lösungen sind. Vor diesem Hintergrund erscheint die Zusammenfassung so unterschiedlicher Länder wir Kongo, Kambodscha oder die Malediven in der Kategorie LDC wenig plausibel. Sinnvoller wären regionale Gruppenbildungen.

Ob es heute wirklich „weitgehende Übereinstimmung darin gibt…, dass der Staat eine stärkere Rolle bei der Gestaltung der Wirtschaft zu spielen habe“ (142), muss leider bezweifelt werden. Solange die internationalen Organisationen von den Erben des Washington Consensus beherrscht werden, bleiben die zukunftsträchtigen Vorschläge der UNCTAD auf dem Papier.

Hinweis:
* United Nations Conference on Trade and Development, The Least Developed Countries Report 2009: The State and Development Governance, 209 pp, New York-Geneva 2009. Bezug: über www.unctad.org

Veröffentlicht: 12.8.2009

Empfohlene Zitierweise: Jörg Goldberg, Auf dem Weg zu einer neuen Entwicklungstheorie? UNCTADs jüngster LDC-Report, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, Luxemburg, W&E-Hintergrund August 2009 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).