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Die armen Kleinbauern

Artikel-Nr.: DE20090719-Art.30-2009

Die armen Kleinbauern

Agrarpreise, Armutskultur und Marktintegration

Vorab im Web – Boom und Niedergang der Nahrungsmittelpreise waren vielen Zeitschriften Artikel und Schwerpunkte wert. Der Grundton der Analysen lautet: Die Opfer sind immer die Bauern. Die Debatte scheint kaum in Erwägung zu ziehen, dass es Menschen besser gehen kann, wenn sie die Landwirtschaft verlassen. Und sie scheint sogar kategorisch auszuschließen, dass Bauern von Agrarkonjunkturen auch profitieren können. Widerstand sollen sie leisten, am liebsten in der Subsistenz leben und nur ihre Überschüsse verkaufen, auf dem lokalen Markt natürlich. Daran ist nicht nur vieles falsch, sondern auch politisch nutzlos, schreibt Ingo Melchers.

Ein Beispiel dafür mag der Beitrag von Rudolf Buntzel in der ersten Ausgabe der „blätter des iz3w“ in diesem Jahr sein. Buntzel gibt die Schätzung des International Food Policy Research Institute wieder, nach der 1% Preissteigerung bei Nahrungsmitteln auf den Weltmärkten 17 Millionen Menschen mehr Hunger bringt. Der darauf folgende Preisrückgang habe jedoch nach Meinung Buntzels keinerlei Erleichterung gebracht. Ist doch seltsam. Die modernisierungskritischen Kleinbauern und –bäuerinnen, so Buntzel, die Widerstand leisten gegen die „internationalen Saatgut- und Gentechnikkonzerne, Düngemittelkartelle, Modernisierer und Wachstumsfetischisten“, seien die „eigentlichen Opfer“ der Krise.

* Warum gerade die Bauern?

Ein anderes Beispiel ist der Beitrag von Thomas Fritz über Biosprit im selben Heft. Er spricht von „einem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb“, dem die Bauern und Bäuerinnen ausgesetzt seien. Er scheint, wie viele andere auch, von der Vorstellung geleitet, in der Landwirtschaft sei alles anders als in anderen Wirtschaftssektoren, und der säkulare Strukturwandel sei Ergebnis eines einzelnen Produktes. Ist es nicht. Am Ende bekräftigt er das Misstrauen gegenüber dem Markt. Wobei nicht klar wird, warum gerade die Bauern mit der Marktverweigerung beginnen sollen und nicht beispielsweise Auto- oder Fahrradproduzenten, Gutachter oder Baufirmen.

Vom Verfasser wird dagegen die Behauptung aufgestellt, dass die Bauern – abgesehen von einigen bedeutenden Ausnahmen – eher selten relevanten politischen Widerstand leisten, und dass sie durchaus nicht arm bleiben wollen, sondern im Gegenteil – wie die restliche Bevölkerung, in diesem Erntejahr 2009/10 mehr Geld verdienen wollen als im letzten – in der Landwirtschaft oder außerhalb.

* Von der Landwirtschaft und der Schankwirtschaft

Landwirtschaft und Gastronomie haben etwas Entscheidendes gemeinsam: Starke Saisonalität des Bedarfes an Arbeitskraft. Daraus entsteht wie überhaupt bei Familienbetrieben aus etlichen Branchen die Notwendigkeit einer flexiblen und das heißt informellen Arbeitsorganisation. Diese Flexibilität ist ein entscheidender Faktor, aus dem der bäuerlichen Landwirtschaft Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der auf Lohnarbeit basierenden Plantagenwirtschaft erwächst. Letztere ist für viele landwirtschaftliche Kulturen einfach zu teuer oder bei den schwankenden Agrarpreisen zu unsicher.

Karl Kautsky hat 1899 in der „Agrarfrage“ das Ende der Bauern vorausgesagt und wurde dafür noch ein letztes Mal von Lenin gelobt. Beide hatten Unrecht, weil sie die bäuerliche Funktionalität (Wettbewerbsfähigkeit) nicht ausreichend sahen und weil beide wohl glaubten, dass das Kapital bestrebt und in der Lage sei, den (landwirtschaftlichen) Produktionsprozess immer direkt zu kontrollieren.

Kleinhändler, Schank- und Landwirte streben nicht unbedingt Profitmaximierung an, sind jedoch genauso integriert in den Warenverkehr wie der Arbeiter in der Autofabrik oder der gerade entlassene Trader an der Frankfurter Börse. Einfache Warenproduktion nennen das historische Wirtschaftstheoretiker. Die Landwirtschaft muss nicht kapitalistische Akkumulation anstreben, um denselben Funktionsmechanismen, Risiken und Chancen unterworfen zu sein, wie alle anderen ökonomischen Akteure.

* Agrarkrisen und Agrarkonjunkturen

Der Rückzug des Staates aus der Agrarpolitik der letzten zwei Jahrzehnte, bei den öffentlichen Investitionen, im Kredit- und Beratungswesen hat in der Tat dazu beigetragen, das Verhältnis der Lebensbedingungen zwischen Stadt und Land weiter zulasten des Landes zu verschieben. Produktions- und Produktivitätssteigerungen, u.a. durch Düngung und Mechanisierung, haben die Nahrungspreise nach unten gedrückt, und konnten damit auch das städtische Lohnniveau in Schach halten.

Aber unabhängig davon: Der Agraranteil am BIP sinkt wie der Anteil der Beschäftigten im Agrarsektor im Laufe der Zeit, bisher unaufhörlich. Die Menschen auf dem Land haben es in Deutschland, in Kambodscha und Vietnam, in den USA und der Sowjetunion und Mali, in Kenia und in Brasilien vorgezogen, in die Stadt zu gehen. Das Leben ist dort besser – oder zumindest weniger schlimm, finden wohl die meisten. Eine Rückwanderung auf das Land ist nicht feststellbar.

Die Abwanderung in die Städte vollzieht sich in Wellen seit 1000 Jahren. Sie hat nichts mit Biosprit oder der Integration der Bauern in globale Wertschöpfungsketten zu tun, sondern mit der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung. Je besser die Alternativen in anderen Wirtschaftssektoren, desto schneller. Je höher die Arbeitslosigkeit in Industrie und Dienstleistungen, desto langsamer. Die Landwirtschaft ist auch ein soziales Wartezimmer. Der historisch beispiellose Exodus aus der ländlichen Sowjetunion seit Ende der 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeigt, dass die absolute und relative Abnahme der Agrarbevölkerung kein kapitalistisches Privileg ist.

Fest steht, dass die realen Agrarpreise seit ca. 1980 bis Anfang des 21. Jahrhunderts gesunken sind. Seit einer Generation wird genau dieser Rückgang der internen Terms of Trade, also der relativen Kaufkraft von Agrar- zu Industrieprodukten, insbesondere aus entwicklungspolitischer Sicht beklagt und kritisiert. Und nun wird der Preisanstieg genauso kritisiert, um dann zu sagen, dass der Preisrückgang auch nicht hilft? Da stimmt doch etwas nicht.


Der starke Anstieg, insbesondere in der ersten Hälfte des Jahres 2008, kann nicht verdecken, dass lediglich das Preisniveau von vor 30 Jahren wieder erreicht wurde (Schaubild). Die Zahlen gehen nur bis März 2008, bilden also den weiteren Anstieg bis ca. Juli und vor allem den deutlichen Rückgang danach nicht mehr ab. Dennoch stehen wir vor einer viele Jahre währenden positiven Agrarkonjunktur. Der Großteil der Bevölkerung, der sich Nahrungsmittel kaufen muss, wird bei sonst gleichen Bedingungen schlechter dastehen. Die Gesellschaften werden sich regen, Konflikte zunehmen, die Organisationen der Armen werden Unterstützung benötigen. Innerhalb des Agrarsektors eines jeden Landes wird es ebenfalls Auseinandersetzungen geben darum, wer welchen Teil des wachsenden Kuchens bekommt.

* Was ist mit den Armen in der Stadt?

Für die meisten Länder der Erde gilt, dass 60-98% der Bevölkerung nicht in der Landwirtschaft tätig sind. Diese erdrückende Mehrheit erwirbt also ihre Nahrungsmittel zumindest überwiegend per Kauf. Mit Geld. Seit etwa 2007 stellt die Stadtbevölkerung die Mehrheit auf dem Planeten. Die Armut des 21. Jahrhunderts wird urban sein, nicht mehr ländlich und schon gar nicht bäuerlich. Der Preisanstieg von Nahrungsmitteln betrifft bei einem gegebenen Lohnniveau die städtischen Armen – und die Nettokäufer von Nahrungsmitteln auf dem Land, weniger die Bauern. Die Proteste und Hungerrevolten des Jahres 2008 waren überwiegend urban, nicht rural. Armin Paasch hat sorgfältig recherchiert und schreibt in den erwähnten „blättern des iz3w“ einen überzeugenden Artikel über Tomaten und Geflügel. Aber es macht keinen Sinn mehr, dass entwicklungspolitisch oder menschenrechtlich motivierte Studien und Artikel zum Thema Nahrungsmittelsicherheit sich überwiegend um die Bauern drehen.

Das Verständnis darüber scheint aber im Wandel zu sein. Martina Backes kritisiert in dem Einleitungsbeitrag zum Schwerpunkt „Politik des Hungers“ die Detailverzettelungen der unterschiedlichen Ansätze (Menschenrechtslobbyismus, Fair Trade, Ökokonservatismus), deren Motiv eine „nach Bösewichten suchende Entrüstung“ sei und deren Blick daher auf Krisen fixiert sei. Richtig! Kurioserweise versäumt sie es, die Biotreibstoffe als weiteren, doch eigentlich auch Entrüstung heischenden Bösewicht zu erwähnen.

Ein sehr gut recherchiertes Oxfam-Papier (W&E-Hintergrund Dezember 2008) bringt Beispiele aus vielen Ländern. Es argumentiert, dass der Preisauftrieb bei Nahrungsmitteln aufgrund der deregulierenden Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte an den meisten Kleinbauern vorbei gegangen ist. Es werden positive Politikbeispiele aus mehreren Ländern genannt, die dem Negativtrend entgegenwirken. Empfohlen wird am Schluss eine aktive Sozialpolitik und die Förderung der kleinbäuerlichen Marktintegration. Yes, keine Subsistenz oder ähnliche Romantik.

* Wie die bäuerliche Landwirtschaft fördern?

Bäuerliche Landwirtschaft fördern heißt: Agrarreform, Einsatz von Technologie, Produktivität erhöhen, bäuerliche Dialogkapazitäten und die kollektive ökonomische Organisation zu stärken, Vermarktung organisieren, Preispolitik und so weiter. Vieles davon ist klassische Agrarpolitik, mithin Aufgabe des Staates.

Es ist gut für die Gesellschaft, die Volkswirtschaft und die Demokratie, wenn die bäuerliche Landwirtschaft einen großen Anteil der Agrarproduktion eines Landes innehat. Insbesondere in Ländern, in denen es starke soziale Gegensätze gibt, ist die Förderung der Bauern auch ein Beitrag zu wirtschaftlicher und kultureller Demokratisierung.

Neue Aushandlungsprozesse und der Aufbau realer Legitimität durch alte und neue gesellschaftliche Kräfte erfolgen in den Ländern, nicht in erster Linie in den hohen Etagen der WTO. Die Verschiebung der Kräftekonstellationen in den Entwicklungs- und Schwellenländern sollte nicht unterschätzt werden. Wenn diese Akteure in der Stadt und auf dem Land in ihren gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen ihre jeweiligen Regierungen dazu bringen, innovative Agrar- und Sozialpolitiken zu erfinden, Preis- und Einkommensgarantien zu gewähren, Nahrungsmittellager anzulegen, den armen, insbesondere städtischen Konsumenten Einkommenstransfers und/oder eine billige Versorgung mit Nahrungsmitteln zu garantieren, kurz: eine soziale und wirtschaftliche und ökologische Regulierung zu gewährleisten, die die Handlungs- und Verhandlungskapazität der Bauern erhöht, dann...

Dann ist es eigentlich egal, ob sie ruandische Brechbohnen, kenianische Rosen (Backes) anbauen, für Biosprit zuliefern (Fritz), Tomaten oder Geflügel erzeugen (Paasch), ob sie für den lokalen, den regionalen oder internationalen Markt produzieren, ob sie direkt vermarkten oder in internationale Wertschöpfungsketten integriert sind oder Vertragslandwirtschaft für einen ortsansässigen Mittelstandsbetrieb oder einen internationalen Konzern betreiben. Oder auch außerlandwirtschaftliche Beschäftigungsalternativen wahrnehmen.
Misstrauen gegenüber dem Markt ist immer angesagt, wenig bleibt, wie es ist. Und das heißt auch, dass sich Dinge verbessern können, auch für die Bauern.

* Die Bauern sind ideologisch überfrachtet

In der brasilianischen Öffentlichkeit wurde ein Disput zwischen den zwei Brüdern Leonardo und Clodovis Boff ausgetragen - beides historische Vertreter der Befreiungstheologie. Clodovis kritisiert seit einiger Zeit „Zweideutigkeiten“ und „Grundsatzfehler“ der Befreiungstheologie:

Wenn das Prinzip Christus Christianismus erzeugt, kann das Prinzip Armut (portugiesisch: „Pobreza“) nur „Pobrismus“ hervorbringen. Und analog: Wenn aus dem Christentum nur christliche Theologie entspringen kann, wird aus dem „Pobrismus“ nur „Pobrologie“ herauskommen.

Der theologische Gehalt dieser Aussage kann an dieser Stelle nicht – und vom Verfasser ohnehin nicht - vertieft werden. Die Beiträge des „Kronzeugen“ Clodovis Boff wurden im Vatikan mit Freuden aufgenommen. Vielleicht können sie als ein Hinweis gewertet werden, dass die politisch motivierte Orientierung christlicher Organisationen auf die ländlichen Armen als Subjekt sozialer Transformation an Überzeugungskraft einbüßt. Eine politische Kultur, die die Armut (der anderen) idealisiert, wird Bauern nicht davon abhalten, sich zu organisieren, ihre Optionen zu erweitern, agrarpolitische Forderungen zu stellen und die für sie besten Wege auszuwählen. Je mehr Optionen sie auf den unterschiedlichsten Märkten erobern, desto eher werden sie in der Lage sein, ihre Interessen selbstbewusst und kollektiv zu vertreten. Mit alldem ist indessen noch kein Schritt gegen den Kapitalismus gemacht. Vielleicht probiert man es einmal mit einer anderen Gruppe, denn diese Aufgabe war den Bauern immer schon zu groß.

Ingo Melchers lebt in Brasília.

Veröffentlicht: 19.7.2009

Empfohlene Zitierweise: Ingo Melchers, Die armen Kleinbauern. Agrarpreise, Armutskultur und Marktintegration, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, Luxemburg, W&E 07-08/2009 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).