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Die Holzhammermethode des Bonner Aufrufs

Artikel-Nr.: DE20091206-Art.55-2009

Die Holzhammermethode des Bonner Aufrufs

Wenn Frust das Denken überschattet

Vorab im Web – Da hat man Jahre, Jahrzehnte in Ländern Afrikas gearbeitet, sich für die Belange des „Südens“ im allgemeinen und die „seiner“ Einsatzländer stark gemacht und häufig sogar eine gewisse Zuneigung zum Gastland und dessen oft liebenswerten Menschen entwickelt. Und dann muss man - im Herbst des Lebens angekommen - feststellen, dass die Staaten und ihre politischen „Eliten“ sich häufig ganz anders entwickelt haben, als man es sich vorgestellt hatte. Das tut weh, man ist enttäuscht. Und manch einer wünscht sich einen großen Befreiungsschlag, der endlich aus der Misere herausführt, und fordert in seinem Frust, dass „alles anders“ werden müsse. Ein Kommentar von Ludger Reuke.

So oder ähnlich kann man sich die Seelenlage der Verfasser und vieler Unterzeichner des „Bonner Aufrufs“ vorstellen, die kurz und simpel „Eine andere Entwicklungspolitik“ fordern. Sie selbst nennen es „holzschnittartig“, wenn sie im ersten Satz feststellen, dass „nach einem halben Jahrhundert personeller und finanzieller Entwicklungshilfe (sic) für (sic) Afrika ... unsere Politik versagt hat.“ Und folgerichtig, so im letzten Satz, „muss der Kurs der Entwicklungshilfe radikal geändert werden.“ Solche die Wurzel ausreißenden Sätze tun der frustrierten Seele gut, aber sie haben mit einem „Holzschnitt“ wenig gemein, eher mit einem „Holzhammer“, bei dessen Zuschlag mehr als nur einige Nuancen verloren gegangen sind.

* Schlacht von vorgestern

Der Aufruf benennt zwei „Hauptgründe des Versagens“: Erstens die Annahme, der „Norden“ könne Afrika entwickeln. Ja, diese zu Recht als irrig bezeichnete Annahme hat es in der offiziellen Entwicklungspolitik in den ersten, den 1960er Jahren gegeben, als „wir“ z. B. in Rourkela ein Stahlwerk bauten, damit Indien sich „richtig“ entwickeln könnte („ohne Stahl keine Industrie, ohne Industrie keine Entwicklung“) oder als die GAWI – eine Vorläuferorganisation der GTZ „drei Musterdörfer in Togo“ einrichtete, die nach dem Bild der deutschen Raiffeisengenossenschaften funktionieren sollten.

Doch derartige Vorstellungen hat es bei den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) von Anfang an nicht oder nur sehr kurzzeitig gegeben. Sie haben schon damals Julius Nyerere, dem ersten Staatspräsidenten Tansanias, zugehört: Sein Credo: „Man kann ein Volk nicht entwickeln. Ein Volk kann sich nur selbst entwickeln“ und der Zusatz: „Dabei kann man es unterstützen“ standen (durchaus exemplarisch für NGOs) im Mittelpunkt einer Plakatserie von Misereor und Brot für die Welt um das Jahr 1968. Der Bonner Aufruf will den Eindruck vermitteln, diese Ansicht sei neu und müsse von nun an Grundlage für eine radikal andere Politik werden.

Ja, aber: Die offizielle Entwicklungspolitik ist doch weiter der alten irrigen Vorstellung verhaftet geblieben? Da müssen die Aufrufer etwas übersehen haben. „Hilfe zur Selbsthilfe“ war in der Theorie und in den öffentlichen Verlautbarungen auch in der staatlichen „Hilfe“ von Anfang an Grundlage der Entwicklungspolitik. Dass dem die Praxis längere Zeit nicht entsprochen hat, ist unbestritten und muss in manchen immer noch vorhandenen Restbeständen angeprangert werden. Aber spätestens seit Mitte der 1980er Jahre wurde die richtige Theorie auch in der Realität zur Richtschnur des Handelns.

Schrittweise hieß es zunächst: “Selbstverständlich beziehen wir (Subjekt) unsere Partner (Objekt) in unsere Planungen ein.“ Im Koalitionsabkommen 2002 führte das endlich zu der Festlegung: „ Wir werden darauf hinarbeiten, dass die Entwicklung von einheimischen (Subjekt) Entwicklungspfaden ausgeht.“ Auch wenn es bis zur weitgehenden Umsetzung einer Theorie immer einige Jahre dauert: Der Weg ist beschritten. Hier schlägt der Aufruf eine Schlacht von vorgestern.

* Betrübliche Donquichotterie

Zweitens behauptet der Aufruf, die Gleichung „Mehr Geld = mehr Entwicklung“ gehe nicht auf. Das ist absolut richtig; aber wer hat jemals eine so plumpe Gleichung aufgestellt? Hier wird ein Popanz aufgebaut, der mit der realen Situation rein gar nichts zu tun hat.

Fakt ist, dass die Bundesrepublik mit allen anderen Industriestaaten 1970 in der Vollversammlung der Vereinten Nationen versprochen hat „bis zur Mitte der Dekade“ (also 1975) mindestens 0,7% des Bruttonationaleinkommens (ODA-Quote) für die wirtschaftlich weniger entwickelten Länder zur Verfügung zu stellen. Fakt ist, dass außer den skandinavischen Staaten, den Niederlanden und Luxemburg keines der OECD-Länder dieses Ziel je erreicht oder gar, wie diese, übertroffen hat. Fakt ist schließlich, dass die Bundesrepublik den Höchststand von 1982 und 1983 (0,47%) nie wieder erreicht hat und bis 1998 Schritt für Schritt auf 0,26% abgefallen ist, obwohl im Laufe der Jahre immer wieder neue Leistungen „ODA-fähig“ wurden (trotz „Trendwende“ 2008 nur 0,38%).

Nein, nie hat jemand einfach nur „mehr Geld“ gefordert oder gar die törichte Behauptung aufgestellt, mehr Geld bedeute mehr Entwicklung. Wohl aber haben sich viele unbeirrt für die Erreichung des 0,7%-Ziels eingesetzt, weil für die Entwicklungspolitik das gleiche gilt wie für andere Bereiche: „Politik macht man mit Inhalt und Haushalt.“ Ohne klare Vorstellungen und Planungen kann Geld nichts ausrichten, aber umgekehrt gilt auch, dass die besten Konzepte und Pläne ohne Geld nicht umsetzbar sind. Die meisten Unterzeichner haben noch die ersten Nachkriegsjahre miterlebt und sollten sich erinnern, dass trotz des hohen Bildungs- und Ausbildungsstandes und des starken Wiederaufbauwillens der Deutschen der Aufbau ohne Marshallplan und ERP-Mittel nicht hätte gelingen können.

Hier kämpfen die Aufrufer nicht gegen Ungetüme, die sich im Wind der Mancha drehen, sondern gegen Windmühlen, die sie selbst gebaut haben. Und es ist betrüblich zu sehen, wie viele verdienstvolle Entwicklungspolitiker und Afrikakenner sich an dieser Donquichotterie beteiligen.

* Der Aufruf fordert, der Minister kündigt an…

Nach einigen Monaten haben die Verfasser selbst gemerkt, dass eine größere Differenzierung ihrem Anliegen gut täte und den „Bonner Aufruf plus“ verfasst. Aber indem sie die Holzhammersätze als Überschriften stehen ließen, begaben sie sich der Chance, die klobigen Aussagen wirklich zu verfeinern.

In „10 Vorschlägen zu einer besseren Entwicklungspolitik“ kehrten die Verfasser kurz vor der Bundestagswahl 2009 wieder zu kernigen Sätzen zurück. Sie rufen die zukünftige Bundesregierung dazu auf, „angesichts der enttäuschenden Bilanz der bisherigen Entwicklungspolitik deren Kurs grundlegend zu ändern“. Dann unterstellen sie den Regierenden wieder, sie hingen wie tumbe Toren der Vorstellung an, mehr Geld bedeute mehr Entwicklung: „Lassen Sie ab vom 0,7 Prozent-Geberziel, weil es auf dieser irrigen Vorstellung beruht.“ (Immer noch die Windmühlen). Kein Wort davon, dass auch Geldmangel zu vielen Fehlentwicklungen beigetragen hat.

Es gibt durchaus vernünftige Forderungen, wie die, Budgethilfe nur an Länder zu vergeben, in denen die Verwendung der Mittel nachvollziehbar kontrolliert wird; oder Projekte so zu fördern, dass möglichst viele Menschen Arbeit finden.
Ob die Zusammenarbeit mit China und Indien in Umwelt- und Menschenrechtsfragen eher aus dem Haushalt des BMZ oder dem des Umwelt- bzw. Justizministeriums erfolgen sollte, kann man ja diskutieren, aber - wie der Aufruf fordert (und der neue Minister angekündigt hat) - einfach „beenden“? Da fehlt wieder die Nuancierung.

Sodann findet man schlichtweg populistische Forderungen wie: „Streichen Sie den fünf Ländern die Entwicklungshilfe, die nach dem Index von ‚Transparency International’ die korruptesten sind.“ Das klingt klar, knackig und schneidig. Aber warum fünf? Könnten es nicht vier oder sechs oder gar zehn sein?

Und schließlich gibt es Vorschläge, die ganz fern sind von Realitäten, Möglichkeiten und Wünschbarkeiten: „Gehen Sie - innerhalb von zehn Jahren - dazu über, Entwicklungshilfe grundsätzlich nur noch als Kredit zu vergeben.“ Wie bitte? Da haben die NGOs in den 1990er Jahren mit steigender Intensität immer wieder gefordert, den ärmsten Entwicklungsländern, den LDCs die Schulden zu erlassen und neue Mittel an sie nur als verlorene Zuschüsse zu vergeben. Die Politik ist auf dem Kölner G7-Gipfel 1999 darauf eingegangen, und die Erlasse sind mit dem Höhepunkt 2005 endlich abgeschlossen. Und da sollen die LDCs erneut in die Schuldenfalle getrieben werden? Kurzsichtiger geht’s nicht mehr.

Nein, der Kurs der Entwicklungshilfe muss nicht „radikal“ geändert werden. Die Theorie, auch die der „Offiziellen“ ist weit fortgeschritten; die Umsetzung allerdings erheblich weniger. Dort muss eine nuancierte Kritik ansetzen. Wir müssen uns weiterhin kritisch mit dem nicht hinnehmbaren Unterschied zwischen Sonntagsreden und Werktags(un)taten, zwischen der Verbalität und der Realität in der Entwicklungszusammenarbeit auseinandersetzen, manchmal durchaus mit einem Stachel, aber bitte nie wieder mit dem Holzhammer.

Übrigens: Nirgendwo steht ein Satz wie: „Tut uns leid, wir haben uns geirrt.“ Alle haben Erfahrungen, aber keiner war beteiligt?

Dr. Ludger Reuke war seit 1967 in der Entwicklungszusammenarbeit tätig, darunter in Afrika, zuletzt als Leiter des Bonner Büros des Deutschen Entwicklungsdiensts (DED). Seit 2001 ist er Referent für Entwicklungspolitik bei Germanwatch. Die Texte des „Bonner Aufrufs“ finden sich unter www.bonner-aufruf.eu.

Veröffentlicht: 6.12.2009

Empfohlene Zitierweise: Ludger Reuke, Die Holzhammermethode des Bonner Aufrufs: Wenn Frust das Denken überschattet, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, W&E 12, Luxemburg, Dezember 2009 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).