Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Mehr Policy Space oder neues verlorenes Jahrzehnt?

Artikel-Nr.: DE20090305-Art.11-2009

Mehr Policy Space oder neues verlorenes Jahrzehnt?

Finanzkrise und Entwicklungsländer

Vorab im Web – Die Debatte um die Konsequenzen der globalen Finanzkrise für die Entwicklungswelt hat viele Aspekte. Ein Ergebnis der Krise ist möglicherweise eine radikal neue Konfiguration der Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Die aktuelle Diskussion sollte sich stärker darauf konzentrieren, was es mit dieser Neukonfiguration auf sich hat und wie mit ihr umzugehen ist, schreibt Francisco Rodríguez in einer Übersicht (s. Hinweis).

Einen optimistischen Ton hat Dani Rodrik von der Harvard-Universität in die Debatte gebracht. Für die Entwicklungsländer, so sein Argument, gebe es einen Silberstreif am Horizont. Er ergibt sich daraus, dass die Industrieländer geschwächt – mit verringerter Fähigkeit, den internationalen Wirtschaftsinstitutionen ihren Standpunkt aufzuzwingen – aus der Krise hervorgehen werden. Die Entwicklungsländer, deren Gewicht und Bedeutung wächst, können in diese Lücke stoßen. Sie haben eine außerordentliche Chance, den Druck für mehr policy space zur Verfolgung nationaler Entwicklungsstrategien, für ein transparenteres internationales Finanzsystem und ein besseres Management der internationalen Kapitalflüsse – etwa indem sie auf die Durchsetzung einer Tobin-Steuer zur Reduzierung der finanziellen Volatilität drängen – zu verstärken, während sie gleichzeitig die Verantwortung akzeptieren, die mit ihrer erhöhten politischen Macht einher geht.

* Am Beginn einer neuen Ära?

Nancy Birdsall vom Center for Global Development, Washington, und Katharina Pistor von der Columbia-Universität, New York, weisen demgegenüber darauf hin, dass die Stärkung der Entwicklungsländer nur eine unter mehreren möglichen Entwicklungen ist. Die Entwicklungsländer könnten es als gar nicht in ihrem Interesse liegend ansehen, ihre Macht in den umstrittenen internationalen Finanzinstitutionen zu vergrößern. Eine Reaktion könnte auch ein fortgeschrittenes „globales Disengagement“ sein, bei dem sich Industrie- und Entwicklungsländer gleichermaßen zum Schaden jeglicher Art von internationaler Zusammenarbeit auf die politischen Fragen daheim konzentrieren.

Der These von Rodrik liegen implizit zwei Annahmen zugrunde, nämlich dass (erstens) politische Macht in der internationalen Arena eine Funktion ökonomischer Stärke ist und dass Entwicklungsländer weniger stark von der Krise betroffen sind, weil diese ihren Ursprung in den Industrieländern hatte. Die erste Annahme stimmt wahrscheinlich, doch die zweite ist mehr als fraglich. Selbst relative milde Wirtschaftskrisen in Industrieländern zeigen ihr hässliches Gesicht, wenn sie im Süden ankommen. Als der Fed unter Paul Volcker 1980 die Zinssätze anhob, war dies der Auftakt für eine dreijährige Rezession in den USA. In der Entwicklungswelt wurde die darauf folgende Dekade als „das verlorene Jahrzehnt“ bekannt, und für einige Entwicklungsländer würde man besser von einem verlorenen Vierteljahrhundert sprechen. Wie es in einer alten Redewendung heißt: Wenn die USA nießen, holt sich die Entwicklungswelt eine Erkältung.


Dieses paradoxe Phänomen ist weniger ein Ausdruck von globaler Realpolitik als das Ergebnis einer einfachen ökonomischen Tatsache. Negative Nachfrageschocks in einem großen Land bringen einen gegenläufigen positiven Wohlfahrtseffekt durch die Verbesserung der Terms of Trade des betreffenden Landes hervor und führen in der Konsequenz zu einer Verarmung der Handelspartner. So war es während der verlorenen Dekade. Zwischen 1980 und 1992 fielen die Terms of Trade Lateinamerikas um 41%. So war es auch während der Großen Depression, als die Kaufkraft der Exporte der Region in nur vier Jahren um 57% zurück ging. Und, wenn die Preise an der Tankstelle ein Indikator sind, passiert dasselbe heute wieder.

Damit will ich nicht sagen, dass die Entwicklungsländer nicht jenen policy space gewinnen könnten, für den Rodrik eintritt. Die 1930er Jahre waren exakt jene Periode des Aufkommens einer spontanen Importsubstitution in vielen Teilen der Entwicklungswelt. Dieselben Strategien wären in der heutigen Welt zwar nicht plausibel und unpraktikabel, aber ich meine, dass der Zusammenbruch der globalen Verbindungen, über die die Industrieländer verarbeitete Produkte aus Asien kauften, während Asien Rohstoffe aus Lateinamerika und Afrika kaufte, durch stärker intra-regionale Verbindungen zwischen den Entwicklungsländern kompensiert werden könnte. Das Scheitern globaler Mechanismen der Kooperation muss nicht zu vollständigem Isolationismus führen, sondern kann auch ein Sich-Stützen auf regionale Institutionen zur Folge haben, wo es die Gemeinsamkeit von Interessen und Problemen leichter macht, Abkommen zu erreichen und aufrecht zu erhalten. Eine Schlüsselfrage besteht darin, ob es nicht ein effektiverer Ansatz für die Entwicklungsländer wäre, die regionalen Mechanismen der Zusammenarbeit zu stärken, wie das José Antonio Ocampo von der Columbia-Universität vorschlägt, statt zu versuchen, den Einfluss auf globaler Ebene zu steigern.

* Die intermediäre Rolle des Finanzsektors

Ricardo Hausmann vom Harvard Center for International Development und Guillermo Rozenwurcel von der Universität San Martin, Argentinien, haben auf den zentralen, aber oft übersehenen Aspekt der Krise hingewiesen, dass ihr Ursprung im Finanzsektor liegt und dass dies starke reale Implikationen hat. Wenn die intermediäre Funktion des Finanzsektors zusammenbricht, muss diese entweder durch die Rekapitalisierung der Banken wieder aufgebaut werden, wie Hausmann vorschlägt, oder man muss sich der Tatsache stellen, dass man in einer Blase gelebt hat und dass man jetzt ärmer ist, wie Rozenwurcel argumentiert.

Ein Zusammenbruch der intermediären Rolle des Finanzsektors bedeutet, dass sich die Grenzen der Produktion verengen. Es ist nicht klar, ob wir munter Geld drucken können, solange wir nicht sicher sind, dass wir diese intermediäre Funktion wirklich wieder herstellen können. Die Rekapitalisierung ist zwar wichtig, aber nur ein Teil des Problems. Die rekapitalisierten Banken müssen auch willens sein, Geld zu verleihen. Doch in einem Szenarium, in dem niemand den Wert der Finanztitel kennt, ist dies möglicherweise extrem schwierig zu erreichen. Das Problem wird durch den Umstand verschärft, dass die gescheiterten Banken der entwickelten Welt nach zwei Jahrzehnten der finanziellen Liberalisierung in vielen Fällen auch die Banken der Entwicklungswelt sind.

Konzertiertes internationales Handeln mag eine Rekapitalisierung der multilateralen Entwicklungsbanken erlauben, so dass diese wieder an Regierungen ausleihen, doch dies ist bestenfalls eine Teillösung, wenn niemand bereit ist, den privaten Firmen in den Entwicklungsländern etwas zu leihen. Wenn eine massive Kreditklemme vermieden werden soll, ist eine viel aktivere Beteiligung der Staaten an der Allokation von Krediten erforderlich.

Die konventionelle Weisheit, dass der private Sektor (korrekte Anreize und Regulierung vorausgesetzt) als stets besser als der Staat kann, nützt gar nichts, wenn man sich inmitten einer Krise der Erwartungen befindet. Die Politiker in Industrie- und Entwicklungsländern müssen sehr ernsthaft erwägen, aktiv in das Management des Finanzsektors einzugreifen, wenn sie aus dieser Krise wieder herauskommen wollen, selbst wenn das auf die ungeliebte „Nationalisierung“ hinausläuft.

* Der begabte Herr Ponzi

Es gibt ein Paradox in der aktuellen Krise. Jeder stimmt zu, dass diese durch die übermäßige Kreditaufnahme der Amerikaner, die über ihre Verhältnisse lebten, ausgelöst wurde. Doch jeder fährt fort, den USA Geld zu leihen, weil er nicht weiß, wohin sonst damit. Natürlich machen die USA gerne mit dem Gelddrucken weiter. Doch wie Ulrich Volz vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik und Mohammed Ariff vom Malaysian Institute für Economic Research hervorheben, ist diese verzerrte Allokation der Weltersparnisse letztlich schädlich für die Erholungsaussichten in den Entwicklungsländern.

In der Tat gibt es einen Namen für die fortgesetzte Flucht in den Dollar im Kontext der aktuellen Krise. Jeder investiert in den Dollar, weil er glaubt, er behalte seinen Wert. Da die Investoren in den Dollar fliehen, können die USA mehr Greenbacks drucken und dessen Wert eben wegen dieses Glaubens aufrecht erhalten. Im Endeffekt werden so, d.h. durch die Bereitschaft neuer Anleger einzusteigen, die früheren Investoren bedient (die ihr Vertrauen in die Stabilität der Währung bestätigt sehen). Das erinnert fatal an das, was (der große Betrüger) Charles Ponzi schon 1903 tat (und zuletzt Bernard Madoff; d. Red.) und seither niemals gut gegangen ist.

José Antonio Ocampo und Dani Rodrik schlagen einen einfachen Weg vor, um die weltweite Liquidität ohne den Druck von Greenbacks auszuweiten – den Druck von mehr Sonderziehungsrechten. Davon haben alle etwas – außer den Vereinigten Staaten, die von ihrer Fähigkeit profitieren, Geld zu drucken, das (bis jetzt) jeder will. So wird der IWF die Lösung bringen? Ich bin da nicht so sicher. Aber es gibt keinen Grund, warum der IWF ein Monopol auf die Ausgabe einer globalen Reservewährung haben sollte. Für die Entwicklungsländer ist es an der Zeit darüber nachzudenken, wie sie dies auch eigenständig tun können.

* Politik der Zusammenarbeit oder Isolationismus

Globale internationale Zusammenarbeit erfordert kluge Politik daheim. Wie Jeff Frieden von der Harvard-Universität argumentiert, sind die Politiker immer stark der Versuchung ausgesetzt, isolationistische Politik zu betreiben, und diese wird umso größer, wenn die Leute Angst um ihre Jobs haben. Die nationalen Regierungen müssen sehr sorgfältig die Einkommensverteilung im Auge behalten, um ihre politische Basis nicht zu verlieren, die ihnen gestattet, die Märkte offen und die Kooperation am Leben zu erhalten.

Es sind jetzt ziemlich viele Alarmrufe zu hören, dass der Protektionismus wieder sein hässliches Haupt erhebt. Ich glaube nicht, dass das ein großes Thema ist. Die fortgesetzte Handelsliberalisierung in den letzten 40 Jahren wurde durch den Aufbau eines Netzes multilateraler und bilateraler Abkommen erreicht, die zu verlassen sehr kostspielig ist. Sogar linke und radikale Politiker wie Hugo Chávez erwägen nicht einmal die Möglichkeit, sich aus der WTO zurückzuziehen.

Vielmehr glaube ich, dass die Gefahren woanders liegen und – zumindest für mich – wesentlich ernster sind als die Errichtung protektionistischer Barrieren. Wie Benjamin Friedman so meisterhaft in The Moral Consequences of Economic Growth argumentiert hat, haben Gesellschaften in der Wirtschaftskrise die Tendenz, weniger offen und tolerant und empfänglicher für xenophobische und spalterische Diskurse zu sein. Die jüngste Zunahme von Gewalt gegen Einwanderer, sowohl in Entwicklungs- als auch in Industrieländern, sollte uns daran erinnern, dass es in einer Krise wichtigere Dinge zu verteidigen gilt als ein Handelsabkommen. Konzertiertes Handeln zur Sicherung der Achtung grundlegender Menschenrechte ethnischer Minderheiten und von Migranten sollte in internationalen Debatten an vorderster Front stehen, wenn es darum geht, wie wir mit den Konsequenzen der globalen Finanzkrise umgehen.

Francisco Rodríguez leitet beim UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) das Autorenteam des Human Development Reports. Die hier vertretenen Positionen sind nicht notwendigerweise die des UNDP. Der Artikel bezieht sich im Wesentlichen auf die Debatte über die globale Finanzkrise, wie sie auf der Ökonomenplattform www.voxeu.org im Internet geführt wurde und wird. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Veröffentlicht: 5.3.2009

Empfohlene Zitierweise: Francisco Rodríguez, Mehr Policy Space oder neues verlorenes Jahrzehnt? Finanzkrise und Entwicklungsländer, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, Luxemburg, W&E 03/März 2009 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)