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Vermessung sozialer Sicherungssysteme im Süden

Artikel-Nr.: DE20091122-Art.53-2009

Vermessung sozialer Sicherungssysteme im Süden

Stand und Perspektiven am Beispiel Südasiens

Vorab im Web – Soziale Sicherung spielt auf der internationalen entwicklungspolitischen Agenda inzwischen eine zentrale Rolle. Entwicklungsländer wie Geber betrachten sie als erstrangiges politisches Interventionsfeld. Und in der Tat kann soziale Sicherung die Entwicklung fördern, wenn sie mit einer Politik einher geht, die auf mehr und bessere Beschäftigung und menschenwürdige Arbeit zielt, auf die Aufrechterhaltung und Verbesserung sozialer Dienstleistungen, vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen. Dies ist eine Bedingung, die bei den folgenden Anmerkungen mit bedacht werden muss. Von Gabriele Köhler.

Soziale Sicherung, verstanden als Kombination aus beitragsgestützter sozialer Sicherheit und steuerfinanzierter Absicherung (s. Schaubild), hat in Südasien eine lange Tradition. Im formellen Sektor verfügen alle Länder über gut etablierte soziale Sicherheitssysteme, die oft kurz nach der Unabhängigkeit oder sogar davor eingeführt wurden. Auch gibt es eine Vielzahl von Sozialhilfe-Initiativen, von reinen armutsorientiertem Transferleistungen bis zu sektoralen Interventionen; auch Sozialhilfe für Notfälle gibt es in fast allen Ländern der Region (s. Tabelle).

* Innovationen der sozialen Sicherung in Südasien

Solche Maßnahmen sind teilweise seit Jahrzehnten in Kraft. Doch in jüngster Zeit gab es wachsende „Aktivitäten“ in diesem Bereich mit einigen bemerkenswerten Innovationen. Dazu gehören Beispiele wie:

- die Einführung eines systemischen Ansatzes in das soziale Sicherungssystem, wie kürzlich in Afghanistan, Nepal, den Malediven und Pakistan, wo versucht wurde, die existierenden disparaten Modelle und Programme zu kombinieren und in einem System zu vereinheitlichen;

Schaubild: Soziale Sicherung


Tabelle: Soziale Sicherung in Südasien


- Einführung von sozialer Sicherung im informellen Sektor Indiens durch ein Gesetz zur sozialen Sicherheit für Arbeiter im unorganisierten Sektor (USWSS: „Unorganized Sector Worker’s Social Security Bill“), das informelle städtische Arbeiter in ein Schema der sozialen Grundversicherung einbezieht;
- das Programm “Challenging the Frontiers of Poverty Reduction” (CFPR) in Bangladesch, das entwickelt wurde, um ein Grundvermögen in der Hand der Armen zu schaffen, statt lediglich Einkommenstransfers bereitzustellen;
- Sozialrenten in Indien, Bangladesch, Nepal und seit 2009 auch auf den Malediven haben einen einklagbaren Anspruch der Bürger auf Altersunterstützung geschaffen. In Indien und Bangladesch ist die Rente vermögensabhängig, in Nepal und auf den Malediven universell;
- auch wird in Nepal ein Kindergeld für alle Kinder unter 5 Jahren nach und nach eingeführt. Dabei soll mit einem Kindergeld für alle Kinder in der ärmsten Region des Landes, Karnali, und für Familien mit niedrigem Einkommen aus der am schlechtesten gestellten Kaste des Landes begonnen werden;
- das „Benazir Income Support Programme” in Pakistan, das aus Einkommenstransfers für Frauen besteht; es ist einkommensabhängig und erfordert den Besitz eines Personalausweises und eines Bankkontos auf den Namen der Empfängerin. Dies kann eine höchst transformatorische Bedeutung für die Strukturen innerhalb von Familien und Haushalten haben;
- Umwandlung öffentlicher Arbeit und Beschäftigung in ein Rechtsverhältnis in Indien, was vor allem die ländlichen Lebensverhältnisse stark verändert.

Indien hat 2007 mit seinem "National Rural Employment Guarantee Scheme“ (NREGS) eine Führungsrolle in der Region übernommen. Im indischen NREGS haben Einwohner auf dem Lande das Recht, ein öffentliches Arbeitsprogramm für ihre Gegend zu fordern und dabei mitzuarbeiten. Wenn keine Arbeit verfügbar ist, haben sie Anspruch auf Entschädigungszahlungen in bar (entsprechend der Vergütung für die Beschäftigung). Der Anspruch erstreckt sich auf 100 Tage bezahlter Arbeit oder einer entsprechenden Sozialleistung. Diese Innovation kann man als Einführung eines Rechts auf soziale Sicherung interpretieren, wenngleich sie an Arbeitsinputs geknüpft ist. In Bangladesch und Nepal wurde das Modell nachgeahmt; in Pakistan ist ein solches in der Entwicklung.

Es gibt eine Anzahl innovativer zielgruppenorientierter Ansätze und Methoden, die das Potential haben, Stigmatisierung und Diskriminierung zu vermeiden und soziale Spaltungen zu reduzieren. Dazu gehört z.B. soziales „Targeting“ in einigen Programmen in Nepal, wo Einwohner eines Distrikts oder einer Region mit durchgängig niedrigem Einkommen oder niedrigem Stand der menschlichen Entwicklung Anspruch auf Transferleistungen haben. Ein anderes Beispiel ist das „cluster-basierte Targeting“ in urbanen Gegenden Indiens.

* Mängel im System

Gleichwohl weisen die Versuche sozialer Sicherung, wie auch in anderen Regionen, eine Reihe von Mängeln auf. Da die Mehrheit der Bevölkerung in Südasien in der informellen Wirtschaft lebt, hat sie keinen Zugang zu sozialer Sicherheit. Sozialhilfeleistungen reichen nicht aus, um ihren Erfordernissen gerecht zu werden. So findet die meiste soziale „Unterstützung“ im Familien- oder Gemeinschaftsrahmen statt, was neue Formen der Verpflichtung und Abhängigkeit schafft und den Charakter von Wohlfahrtsleistungen und Barmherzigkeit hat, im Gegensatz zu einem einklagbaren Recht.

Viele soziale Unterstützungsprogramme sind Stückwerk oder tragen Ad-hoc-Charakter. Die Koexistenz vieler verschiedener Programme unterschiedlichen Umfangs, Reichweite, Verfügbarkeit und Dauer geht mit hohem Verwaltungs- und Transaktionskosten, sowohl für die Regierungen als auch für die potentiellen Nutznießer, einher. Unterversorgte Gruppen sind sich ihrer Ansprüche und Durchsetzungsmöglichkeiten oft nicht bewusst: Es kann schwierig und zeitraubend sein, die Rechte und Ansprüche einer Person auf soziale Sicherung durchzusetzen. Eng damit hängt zusammen, dass es den meisten Programmen in dieser Hinsicht an Transparenz mangelt.

Viele Programme überschneiden sich mit anderen. Einige Gruppen werden durch diese Programme bedient, andere fallen durch das Netz und sind nicht befugt zu irgendwelchen sozialen Sicherungsleistungen. Im Ergebnis bieten die existierenden Programme keinen inklusiven, ganzheitlichen und systemischen Ansatz gegenüber sozio-ökonomischer Unsicherheit. Gleichwohl lassen sie sich nutzen als „Bausteine“ für den Aufbau sozialer Sicherungssysteme.

Viele Initiativen sind durch politische Opportunität motiviert oder folgen den Vorgaben der Geber („donor-driven“). Auch das schafft ein disparates Netz von Ad-hoc-Programmen, die ohne inneren Zusammenhang sind und nach Belieben wieder eingestellt werden können.

Es gibt eine große Variationsbreite der Programme innerhalb einer Region oder eines Landes. Auszahlungen und Umsetzungen desselben Programms werden in den Distrikten und Staaten höchst unterschiedlich gehandhabt. Die Vorteile sind gering, und um sie zu erhöhen wäre es notwendig, die Programme drastisch auszuweiten.

Überall in Südasien gibt es nur schwach ausgebildete Kapazitäten zur Analyse der sozialen Sicherungspolitiken, zum Monitoring der Ergebnisse oder zur Evaluierung ihrer Folgen. Entsprechend ist es schwierig für Regierungen und externe Evaluierer, die Konsequenzen und die Effektivität ihrer Programme einzuschätzen. Das betrifft die Gültigkeit und Reichweite, die Bedeutung für ausgeschlossene Gruppen oder (noch schwerer zu erfassen) ihr Veränderungspotential.

Am wichtigsten ist, dass die verschiedenen Ursachen und Ausdrucksformen sozioökonomischer Unsicherheit mit einer Form sozialer Unterstützung nicht angegangen werden können, die entwickelt wurde, um chronische oder akute Einkommensarmut zu mildern, doch in den seltensten Fällen auf die Schaffung produktiver Investitionen zielt, die die Lebensverhältnisse wirklich verändern könnten.

* Ein Ausblick

Der nächste Schritt, der bereits vorbereitet wird, ist die Schaffung von Systemen der sozialen Sicherung, bei denen soziale Sicherheit und soziale Unterstützung kombiniert werden. Auch besteht eine Notwendigkeit, existierende soziale Hilfsprogramme aufzuwerten. Deshalb ist es notwendig, die für soziale Sicherung verwendeten Haushaltsmittel zu erhöhen und das sowohl als Investition als auch als sinnvolles Instrument der Einkommensumverteilung zu betrachten; ebenso wie als antizyklische Ausgabenpolitik in Zeiten wirtschaftlicher Rezession.

Darüber hinaus ist es notwendig, der sozialen Sicherung einen höheren Stellenwert als heute beizumessen – sie muss eine Garantie dafür sein, dass nicht nur Armut, Verwundbarkeit und soziale Exklusion bekämpft wird, sondern die Bürger zugleich vor dem Verlust ihrer Habe geschützt werden und ihre politische Stimme und ihr Einfluss gestärkt wird. Dies würde in eine Richtung gehen, die umfassende soziale Sicherung als ein Menschenrecht ansieht und sicherstellt, dass sich alle ihrer Ansprüche bewusst sind, ein Mitspracherecht bei der Entwicklung sozialer Sicherheitssysteme haben und ihre Rechte notfalls einklagen können. Schließlich ist es entscheidend, dass soziale Sicherung als Ergänzung der Investitionen in Gesundheit und Bildung sowie der Schaffung von menschenwürdiger Arbeit verstanden wird.

Hinweis:
* Dieser Beitrag stützt sich auf die Studie: Gabriele Köhler/Marta Cali/Mariana Stirbu, Social Protection in South Asia: A Review, UNICEF Regional Office South Asia (ROSA): Katmandu 2009. Bezug: über www.unicef.org/rosa/socialpolicy

Gabriele Köhler ist Mitarbeiterin der UNICEF-Regionalbüros für Südasien in Katmandu.

Veröffentlicht: 22.11.2009

Empfohlene Zitierweise: Gabriele Köhler, Vermessung sozialer Sicherungssysteme im Süden. Stand und Perspektiven am Beispiel Südasien, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, Luxemburg, W&E-Hintergrund Dezember 2009 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).