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Brüsseler Steilvorlage für eine Staateninsolvenz

Artikel-Nr.: DE20101116-Art.62-2010

Brüsseler Steilvorlage für eine Staateninsolvenz

Mit Bruegel gegen die europäische Finanzkrise?

Nur im Web – Die von der Bundesregierung mit viel Verve angestoßene Diskussion um ein Staateninsolvenzverfahren endet (vorläufig) wie das Hornberger Schießen: Die Bundesregierung bringt ihr Konzept in dieser Woche nicht, wie eigentlich geplant, in die Brüsseler Beratungen der Finanzminister ein. Grund ist die berechtigte Skepsis der Fachleute gegenüber dem Vorschlag des Finanzministeriums, schreibt Jürgen Kaiser.

In dieser Situation erschien wie die Kavallerie am Horizont ein Papier des europäischen Think‐Tanks „Bruegel“ (>>>A European mechanism for sovereign debt crisis resolution: a proposal), in dem ‐ weitgehend unberührt von den verkrampften Überlegungen im Berliner Finanzministerium ‐ ein eigener und ebenso ambitionierter wie durchdachter Vorschlag für ein europäisches Verfahren auf den Tisch gelegt wird.

* Der Bruegel-Vorschlag

Das Papier wurde von fünf Hochschullehrern aus Europa und den USA verfasst, zwei von ihnen waren in der Vergangenheit hochrangige Mitarbeiter des IWF. Bemerkenswert ist die Ko‐Autorenschaft der ehemaligen IWF‐Vizedirektorin Anne Krueger, welche 2001 bis 2003 den IWF‐Vorschlag für einen „Sovereign Debt Restructuring Mechanism“ (SDRM) entwickelt hatte, und ein Jahr nach dessen Scheitern von ihrem Amt zurückgetreten war. Auch der deutsche VWL‐Professor Jürgen von Hagen, der bereits wesentlich an der Gestaltung des Europäischen Rettungsschirms beteiligt gewesen war, ist mit von der Partie.

Auf der Grundlage der Europäischen Verträge („statutory approach“) soll ein „Europäischer Mechanismus zur Krisenüberwindung“ (ECRM) geschaffen werden. Dieser ermöglicht die Behandlung aller Verbindlichkeiten des Schuldners in einem einzigen Verfahren. Mehrheitsentscheidungen sollen Vereinbarungen des Schuldners mit den umstrukturierungswilligen Gläubigern ermöglichen, welche dann alle Gläubiger einbinden.

Zur Überwindung von zu erwartenden Meinungsverschiedenheiten im Verfahren soll ein glaubwürdiger und neutraler Schiedsmechanismus geschaffen werden. Er funktioniert durch drei zu schaffende Institutionen:
* eine rechtliche Instanz, die den Antrag auf Verfahrenseröffnung des betreffenden Landes entgegennimmt und rechtlich absichert;
* eine wirtschaftliche Instanz, die das eigentliche Verfahren durchführt und u.a. die Beurteilung eines eventuellen Schuldenerlass‐ bzw. Restrukturierungsbedarfs verantwortet;
* eine finanzielle Instanz, die die Aufgabe hätte, die für eine komplexe Restrukturierungsoperation notwendigen Überbrückungsmittel bereitzustellen.

Für die Besetzung aller drei Körperschaften sind verschiedene Optionen denkbar. Die Autoren schlagen für die juristische Ebene den Europäischen Gerichtshof und für die Umsetzungsebene die Europäische Kommission vor. Für die Finanzierungsebene liegt nahe, den Europäischen Rettungsschirm EFSF unter den veränderten Rahmenbedingungen einer nunmehr möglichen Einbeziehung der Gläubiger in eine Rettungsoperation fortzuschreiben.

Anders als der deutsche Vorschlag in seinen verschiedenen Fassungen kommt das Bruegel‐Verfahren ohne eine gesonderte oder vorgeschaltete Restrukturierung von Anleihen im Stile des Brady‐Plans der 1990er Jahre aus. Stattdessen soll tatsächlich in einem einzigen Verfahren die Schuldentragfähigkeit des betreffenden Landes wieder hergestellt werden.

* Stärken des Konzepts

Das Bruegel‐Konzept bringt frischen Wind in eine ansonsten von den widerstreitenden Interessen der europäischen Regierungen blockierte Debatte. Es vermeidet eine Positionierung zwischen den Interessen der Deutschen und Franzosen, wenigstens einen Teil der Lasten künftiger Staatsinsolvenzen auf andere Schultern als die der EFSF‐Financiers abzuwälzen, und denjenigen der potenziellen Pleitestaaten, einen möglichst preisgünstigen Bailout dauerhaft sicherzustellen. Das gelingt dadurch, dass der unparteiische, glaubwürdige und verlässliche Mechanismus so dargestellt wird, wie dieser ist: ein Wert an sich, durch den künftige Kreditvergabe und ‐aufnahme genauso qualifiziert und diszipliniert werden kann, wie dies nationale Insolvenzregeln im heimischen Rechtskontext leisten.

Aus der Sicht einer Bewegung, die schon lange für ein faires und transparentes Insolvenzverfahren auf globaler Ebene eintritt, weist der Vorschlag einige bemerkenswerte Stärken auf, welche die Schwächen und fortbestehenden Unklarheiten (s. u.) deutlich überwiegen. Zu den Stärken zählen:
* an entscheidenden Stellen wird die Schaffung neutraler und fairer Entscheidungsstrukturen vorgesehen;
* der Vorschlag baut auf die Chance, die eine innereuropäische Lösung (Schaffung eines rechtsverbindlichen ECRM durch eine EU‐Richtlinie) bietet, ohne deswegen die Notwendigkeit einer globalen Lösung aus dem Blick zu verlieren;
* die „Gewaltenteilung“ zwischen den verschiedenen Funktionen im Verfahren unterstützt die Unparteilichkeit; an diesem Punkt hat Ko‐Autorin Anne Krueger am meisten aus dem Scheitern des SDRM gelernt, welcher von den meisten Betroffenen seinerzeit als IWF‐dominiert und daher unfair wahrgenommen worden war;
* die Zielsetzung des Vorschlags ist eindeutig die Überwindung der Kohärenzprobleme und der wechselseitigen Blockaden auf der Gläubigerseite ‐ anstatt wie die Deutschen auf die wenig realistische Befürchtung, ein Staat könne leichtfertig in die Insolvenz gehen, mit immer absurderen Sanktionsdrohungen (Entzug von Stimmrechten, Rettungsfinanzierung zu Strafzinsen) zu reagieren;
* die Verfahrenseröffnung liegt allein beim Schuldnerland; sie hat nach Bestätigung durch die juristische Instanz eine sofortige vorübergehende Zahlungseinstellung des Schuldners zur Folge, um einen Run auf das Vermögen des Schuldners zu verhindern.

* Schwächen

Perfekt ist der Vorschlag gleichwohl noch nicht. An wichtigen Punkten besteht Nachbesserungs‐ bzw. zumindest Klärungsbedarf, weil das Dokument noch in sich widersprüchlich ist:

* Es begrenzt die Umschuldung auf Anleihegläubiger ‐ auch, wenn an anderer Stelle nachdrücklich und überzeugend dafür argumentiert wird, alle Forderungen aller Gläubiger einzubeziehen. Hier muss klargestellt werden, dass Schuldentragfähigkeit nicht hergestellt werden kann, wenn nur über einen Teil der Forderungen überhaupt verhandelt wird. Das kann im Ausnahmefall funktionieren, wenn, wie in Griechenland, fast nur eine einzige Art von Auslandsverbindlichkeiten besteht. Für den Regelfall darf die Einbeziehung von öffentlichen bilateralen und multilateralen Gläubigern nicht ausgeschlossen werden.

* Die gleiche Frage stellt sich bei der Einbeziehung alter und neuer oder lediglich alter Forderungen; eine Schuldenrestrukturierung auf der Grundlage geänderter europäischer Verträge ist rechtlich „wasserdicht“ nur möglich im Blick auf nach der Vertragsänderung eingegangen Verträge. Damit unterschätzen die Autoren aber die Chancen der von ihnen selbst propagierten unparteiischen Verfahren, bei Verhandlungen im guten Glauben ‐ zumal auch die existierenden Entschuldungsverhandlungen wie der Pariser Club gänzlich ohne Rechtsgrundlage agieren.

Die große Bedeutung des Bruegel‐Papiers liegt nicht nur in seiner inhaltlichen Qualität, sondern auch in dem Stellenwert, den der Think‐Tank in der europäischen Politik hat. Er gilt als einflussreich bei zwei Schlüsselakteuren, die in den kommenden Monaten Weichen für die Zukunft des Staatsschulden‐Managements stellen werden: der Europäischen Kommission und dem französischen Präsidenten. Dieser wird bis zum November 2011 Präsident der G20 sein. Beide Akteure haben von Bruegel eine mehr als brauchbare Vorlage bekommen. Im Interesse nicht nur europäischer staatlicher Handlungsfähigkeit sollten sie aus dieser Chance endlich ein Tor machen.

Jürgen Kaiser ist Koordinator des Entschuldungsnetzwerks erlassjahr.de.

Veröffentlicht: 16.11.2010

Empfohlene Zitierweise: Jürgen Kaiser, Brüsseler Steilvorlage für eine Staateninsolvenz, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 16.11.2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).