Globale Klimapolitik am Beginn einer neuen Phase
Artikel-Nr.: DE20101126-Art.65-2010
Globale Klimapolitik am Beginn einer neuen Phase
Zwischen Regimegenese und Renationalisierung
Vorab im Web – Das 16. Treffen der Vertragsstaaten (COP 16) der Klimarahmenkonvention und das 6. Treffen zum Kyoto-Protokoll im mexikanischen Cancún fallen mit dem Beginn einer neuen Phase der internationalen Klimapolitik zusammen. Nach einer Phase der Regimebildung wird die Klimapolitik jetzt weitgehend durch Renationalisierungstendenzen bestimmt. Allerdings ist das entstandene Klimaregime trotz seiner Ineffizienz erstaunlich robust, analysiert Achim Brunnengräber.Den Theorien der Internationalen Beziehungen liegen sehr unterschiedliche Prämissen zu Grunde. Die internationale Politik ist im Wesentlichen, so die geläufige Überzeugung der (neo-)realistischen Schule, von Anarchie geprägt. Einzelstaatliche und unterschiedlich mächtige Akteure streben unter den Bedingungen der formalen Herrschaftsfreiheit nach Selbstbehauptung. Die (neo-)institutionalistischen Ansätze, zu denen Regimeansätze gezählt werden, gehen von Interdependenzen, geteilten Normen und Prinzipien aus, die grundsätzliche und auch tief reichende Kooperationen begründen. Diese unterschiedlichen Theorieschulen lassen sich gleichermaßen und mit einiger Plausibilität auf die internationale Klimapolitik beziehen.
* Die Genese des Klimaregimes
Regime entstehen, wenn zunehmend nationalstaatlich geteilte Interessen vorliegen oder ein breit geteiltes Verständnis über das Problem besteht. Dafür sind wissenschaftliche Erkenntnisse notwendig, die in der Klimapolitik vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zusammengetragen werden. Es legte die Grundlage für die Ausarbeitung der Klimarahmenkonvention von 1992 und des Kyoto-Protokolls von 1997. Das oberste, Beschluss fassende Organ der internationalen Klimapolitik ist die seit 1995 jährlich stattfindende Vertragsstaatenkonferenz, auf der das Regelwerk für den internationalen Klimaschutz verhandelt wird. Das UN-Sekretariat steuert diesen Prozess. Damit sind alle Ingredienzien – Sekretariat, epistemic community, Staatenkonferenz, Prinzipien, Normen und Regeln – gegeben, die ein ordentliches Regime auszeichnen.
Die erste Phase der internationalen Klimapolitik zwischen 1992 (Rio) über das Jahr 1997 (Kyoto) bis 2009 (Kopenhagen) kann folglich auch als Phase der Regimegenese bezeichnet werden. Die Regimeentstehung und – wird das marktwirtschaftliche Regelwerk miteinbezogen – der Regimekonsolidierung scheint aber an einem Endpunkt angelangt. Formal läuft das völkerrechtlich verbindliche Kyoto-Protokoll Ende 2012 aus, und politisch ist die nationalstaatliche Klimapolitik kaum auf dem Pfad eines anspruchsvollen Nachfolgeabkommens. Schon jetzt gelingt die Reduktion der schädlichen Treibhausgase nur unzulänglich. Dennoch kann, wie unten noch zu zeigen sein wird, von einer gewissen Robustheit des Klimaregimes gesprochen werden.
Spätestens 2009 zeigte sich jedoch in gleich mehrfacher Hinsicht eine deutliche Zäsur in der Regimeentwicklung. Nie zuvor wurden die Handlungsgrenzen multilateraler, auf Konsens zielender Klimapolitik so deutlich wie bei diesen zähen, ergebnislos verlaufenden Verhandlungen. Die unauflösbaren Interessenkonflikte, für die Kopenhagen 2009 insbesondere im Gedächtnis bleiben wird (das unverbindliche Abschlussdokument, der Copenhagen Accord, wurde nur zur Kenntnis genommen), hatten sich allerdings schon länger angedeutet. Und sie hatten ihre Ursachen auch nicht in den Widrigkeiten der mittlerweile überkomplexen Klimaverhandlungen selbst, sondern in drei externen „Effekten“, sie deuten in der Summe auf eine Renationalisierung der Politik hin.
* Zäsur 1: Machtverschiebungen im internationalen System
Das Erstarken der BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China in der Weltwirtschaft bleibt auch für das klimapolitische Konfliktterrain nicht ohne Konsequenzen. Vor allem Indien und China mit 40% der Weltbevölkerung sind längst aus dem Schatten Europas, Japans und den USA hervorgetreten, treten als machtvolle Verhandlungspartner auf und leiten eine „tektonische Verschiebung“ der Weltordnung ein. Die Erweiterung der G8 zur G20 im Zuge der Finanzmarktkrise ist nur eines, wenn auch ein deutliches politisches Zeichen für diese Entwicklung. Ein weiteres sind die Auswirkungen auf den Klimawandel: Das Wachstum in den BRIC-Staaten führt zu einer gesteigerten Nachfrage nach fossilen Energieträgern und durch deren Verbrennung zu einem globalen Anstieg an Treibhausgasen.
Wenn die Industrieländer nun fordern, dass auch die Schwellenländer einen Beitrag zum Klimaschutz leisten müssen, erscheint das mehr als gerechtfertigt. Es lässt sich aus einer realistischen Perspektive aber auch so deuten, dass die Selbstbehauptung im Vordergrund steht. Denn es drohen nationale Wettbewerbsnachteile und eine Infragestellung der ökonomischen Machtbasis, wenn die Industrieländer kostspielige Klimaschutzmaßnahmen ergreifen und die BRIC-Staaten davon ausgenommen sind. Für die BRIC-Staaten wäre es wiederum von Nachteil, wenn sie nicht ebenso wie die Industrieländer gerade in der Phase ihres wirtschaftlichen Aufstiegs auf billige, fossile Energieträger zugreifen können.
Zäsur 2: Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise
2008 brach zudem die Finanzmarkt- und in der Folge eine Wirtschaftskrise aus – ebenfalls mit erheblichen Konsequenzen für die Klimaverhandlungen. Zum einen waren die BRIC-Staaten in geringerem Ausmaß von der Krise betroffen. Sie traten 2009 in Kopenhagen selbstbewusster und fordernder als jemals zuvor in den Klimaverhandlungen auf. Mit einigem Recht klagten sie auch die Industrieländer an, die sich in der Mehrzahl schwer damit tun, die selbst gesteckten Reduktionsziele des Kyoto-Protokolls zu erfüllen. Zum anderen zeigte sich, dass in Krisenzeiten die Bereitschaft zum Finanztransfer in die Entwicklungsländer und die Bereitschaft, sich auf klimapolitische Regulierungen einzulassen, die womöglich neuerliche Wachstumsdynamiken verhindern könnten, mehr als gering sind. Die Milliardenausgaben der Industrieländer für Konjunkturpakete, Rettungsschirme und Stabilisierungsmaßnahmen ihrer jeweils nationalen Banken- und Wirtschaftssektoren verhinderten zudem, dass ein Handlungsspielraum für konkrete finanzielle Zugeständnisse besteht.
Zäsur 3: Innenpolitische Anti-Klima-Stimmung in den USA
Spätestens seit 2001 und geprägt von der ablehnenden Haltung der damaligen Bush-Regierung betätigen sich die USA im den Klimaverhandlungen als Bremsernation. Die Theorie der hegemonialen Stabilität, der zufolge es für die Begründung und Konsolidierung eines internationalen Regimes der Vorleistung eines starken Akteurs (Hegemon) bedarf, traf auf das Klimaregime somit nicht zu.
Mit dem Regierungswechsel 2008/9 und dem neuen Elan, den US-Präsident Obama und die Demokraten gerade auch in die Klimapolitik einbrachten, stiegen dennoch zunächst die Hoffnungen darauf, dass in den internationalen Klimaverhandlungen ein erneuter Durchbruch gelingen könnte. Doch früh schon war abzusehen, dass das Anfang 2009 im Repräsentantenhaus vorgelegte Klimagesetz, der American Clean Energy and Security Act, im US-amerikanischen Kongress keine Überlebenschance haben würde. Nach den Zwischenwahlen im November 2010 und den neuen Mehrheitsverhältnissen im Repräsentantenhaus sowie der neuen Sitzverteilung im Senat gilt es als ausgeschlossen, dass das Energie- und Klimaschutzgesetz in der vorliegenden Form den politischen Prozess überstehen und verabschiedet wird. Das kurze, vermeintlich klimafreundliche Zeitfenster, das mit dem Amtsantritt der Obama-Administration geöffnet wurde, hat sich nur allzu schnell wieder geschlossen.
Alles deutet somit darauf hin, dass die Klimapolitik noch länger und in den kommenden Jahren wieder deutlicher im Schatten nationalstaatlicher Handels-, Wettbewerbs und Finanzmarkpolitik stehen wird. Denn die drei beschriebenen Strukturveränderungen des nationalen wie internatonalen Staatengefüges sind keine vorübergehenden Erscheinungen. Sie stehen erst für den Anfang einer Entwicklung und sind Signal für die Herausbildung veränderter, sehr weit reichender weltpolitischer Kräftekonstellationen. So wie das Ende des Ost-West-Konfliktes die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro mit dem anschließenden Jahrzehnt der Weltkonferenzen der UN ermöglichte, so bleiben auch die neuen weltpolitischen Verschiebungen nicht ohne erhebliche Konsequenzen für die Staatenwelt.
* Hohe Regimeflexibilität
Die Bearbeitung des Klimawandels kann auch aus diesen Gründen bisher kaum überzeugen. Es „zahlt“ sich zudem nun aus, dass die internationale Klimapolitik von neoliberalen Politikvorstellungen geprägt ist. Die unendliche Zahl möglicher Verhaltensweisen wurde durch die Bezugnahme auf die Norm Freihandel und Wachstum stark verringert. Die drei flexiblen Mechanismen des Kyoto-Protokolls (Emissionshandel, Clean Development Mechanism (CDM) und Joint Implementation (JI)) wurden so flexibel gestaltet, dass die klimapolitische Kooperation der Staaten untereinander zunächst weiter stabilisiert werden konnte.
Die neuartigen Steuerungsinstrumente gaben zu vorsichtigem Optimismus Anlass. Doch jüngst musste auch die International Energy Agency in ihrem World Energy Outlook (2010) auf die nur bescheidenen Erfolge der internationalen Klimapolitik hinweisen. Die flexiblen Mechanismen sind so gestaltet, dass weder die erneuerbaren Energien systematisch gefördert werden noch eine generelle Trendwende im Energieverbrauch eingeleitet wird.
Das Kyoto-Protokoll wird dennoch als bedeutendes internationales Abkommen angesehen, welches die Tür zu einem wirksamen Klimaschutz aufgestoßen hat. Es wird versucht, ein Scheitern dieses Prozesses unter allen Umständen zu vermeiden. Nicht zuletzt verbirgt sich dahinter die berechtigte Gefahr, dass ein Scheitern des Regimes einen Rückfall in die Eigeninteressen der beteiligten Staaten bedeuten könnte und die vermittelnde und zivilisierende Regimewirkung, die im Kyoto-Protokoll angelegt ist, vollends verloren geht. Doch noch ist kein Kyoto II in Aussicht und die sog. „Schlupflöcher“ müssten erst ordentlich gestopft werden, damit eine Emissionsreduktion tatsächlich eintritt. Dafür wären weiter reichende staatliche Maßnahmen erforderlich. Geschieht dies nicht, erfolgen die Emissionsreduktionen nur auf dem Papier.
Der Verbrauch fossiler Energien nimmt stetig zu. Auch der Zuwachs im Bereich der Primärenenergie wird, so die Prognose der IEA, zu mehr als der Hälfte auf fossilen Energien beruhen. Nicht nur auf globaler Ebene, sondern auch in vielen nach dem Kyoto-Protokoll verpflichteten Industrieländern sind die Emissionen zwischen 2000 und 2008 leicht angestiegen – in der Summe der im Anhang B des Kyoto-Protokolls genannten „westlichen“ Industrieländer (Annex-II-Länder, ohne USA) um etwa 2,2%. Innerhalb der Europäischen Union konnten die Emissionen gegenüber dem Basisjahr 1990 gesenkt werden, was zu nahezu 80% an den gesunkenen Emissionen in Deutschland liegt. In allen anderen EU-15-Mitgliedsstaaten steigen die Emissionen dagegen an. Länder wie Dänemark, Irland, Italien, Luxemburg, Österreich, Portugal oder Spanien werden ihre Reduktionsziele ohne den Zukauf von Emissionszertifikaten kaum erfüllen können. Im Jahr 2009 konnte allerdings ein Rückgang der globalen CO2-Emissionen vermerkt werden. Die damit verbundene „Atempause“ (Hans-Joachim Ziesing) in der Emissionsentwicklung ist aber nicht auf die Kyoto-Instrumente zurückzuführen, sondern in erster Linie auf die schwerwiegende wirtschaftliche Krise.
* Regimeeffektivität
Nichtsdestotrotz haben die innerhalb des Regimes etablierten Normen, Regeln und Prinzipien zu einer gewissen Stabilität der Kooperation in der Staatenwelt geführt. Dazu trug bei, dass erstens ein Wertekonflikt vermieden wurde. Die Verbrennung fossiler Energien und wirtschaftliches Wachstum standen nicht zur Disposition. Zweitens wurde der Mittelkonflikt rasch in Richtung marktwirtschaftliche Flexibilität entschieden. Deren Schwächen werden als “Kinderkrankheiten“ dargestellt, die bei der Regimegenese fast unvermeidlich sind, aber durch Lernprozesse überwunden werden können. Zentral für die Regimegenese waren auch das Zusammentragen und die Verbreitung von Wissen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen des Klimawandels durch das IPCC, durch think tanks oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die insgesamt zur Erhöhung des allgemeinen Problembewusstseins beigetragen haben.
Eine differenzierte Betrachtung der Regimeeffektivität ergibt allerdings ein weniger positives Gesamtbild:
* Das Klimaregime wird durch internationales Völkerrecht (process effectiveness) stabilisiert. Mit der Klimarahmenkonvention und dem Kyoto-Protokoll liegen völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen vor, die von den übergeordneten Normen Freihandel und Wachstum geprägt sind.
* Veränderte soziale Praktiken (constitutive effectivness) können insoweit festgestellt werden, als dass NGOs und damit zivilgesellschaftliche Akteure stärker am Klimaregime partizipieren, wenngleich ihre direkten Einflussmöglichkeiten gering sind. Sie tragen zur Stabilität des Regimes bei.
* Verhaltensänderungen der Regimemitglieder auf Grund des Regimes (behavioral effectiveness) sind insofern zu konstatieren, als dass neue marktwirtschaftliche Mechanismen, Finanzinstrumente und Anpassungsmaßnahmen implementiert werden.
* Das Ziel des Regimes (goal attainment), die Emissionen in den Industrieländern bis 2012 um 5,2% gegenüber 1990 zu reduzieren, könnte durchaus, aber nur unter zu Zuhilfenahme der flexiblen Mechanismen, erreicht werden. Vor allem die großen Schlupflöcher erleichtern die Zielerreichung.
* Davon ist auch die Regeleinhaltung betroffen. Die Schlupflöcher bieten kostengünstigere Möglichkeiten, die Reduktionsziele bilanztechnisch zu erreichen. Die Sanktionen greifen bisher, insbesondere auch auf Grund der geringen Zertifikatspreise, kaum (compliance).
* Die Zielerreichung ist jedoch zu unterscheiden von der Lösung des Problems (effectiveness as problem solving). Die stetige Zunahme des Verbrauchs fossiler Energien in den Industrie- wie den Schwellen- und Entwicklungsländern führt dazu, dass sich der Klimawandel weiter verschärft.
* Das Regime weist institutionell eine gewisse Robustheit auf (evaluative effectiveness), die mit der geringen Effektivität eines Regimes nicht zwangsläufig im Widerspruch stehen muss.
Die in der politikwissenschaftlichen Teildisziplin Internationale Beziehungen geführte Debatte, ob internationale Institutionen einen eigenständigen Beitrag für die Erzielung von grundlegenden Verhaltensänderungen leisten können, muss für das Klimaregime vor diesem Hintergrund verneint werden. Es muss eher als Kristallisation der vorherrschenden Machtkonstellationen angesehen werden. Dort wo nationale Interessen im Vordergrund stehen, stoßen internationale Regelwerke an ihre Grenzen oder werden solchermaßen ausgestaltet, dass die Normeinhaltung diesen Interessen nicht grundsätzlich entgegen wirkt. Hierin liegt das zentrale Problem mit der internationalen Klimapolitik. Ein Regime kann wenig effektiv, aber doch robust sein. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es die überwölbende Machtstruktur des internationalen Systems widerspiegelt – und im Schatten der Anarchie steht.
PD Dr. Achim Brunnengräber ist Politikwissenschaftler und Lehrstuhlvertreter für Internationale Politik an der TU Dresden. Sein Text basiert auf dem einleitenden Beitrag zu dem Anfang 2011 erscheinenden Buch Zivilisierung des Klimaregimes. NGOs und soziale Bewegungen in der nationalen, europäischen und internationalen Klimapolitik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bezug: über Buchhandel.
Veröffentlicht: 27.11.2010
Empfohlene Zitierweise: Achim Brunnengräber, Globale Klimapolitik am Beginn einer neuen Phase, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 27.11.2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).