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Globale Krise und Global Governance

Artikel-Nr.: DE20100702-Art.36-2010

Globale Krise und Global Governance

Eine entwicklungspolitische Reformperspektive

Vorab im Web - Die jüngste globale Wirtschaftskrise hat die Systemfehler der Finanzmärkte und zentrale Schwächen der Wirtschaftspolitik enthüllt, so der neueste World Economic and Social Survey (WESS) der Vereinten Nationen. Der Bericht mit dem Titel „Retooling Global Development“ (s. Hinweis) plädiert für eine Neuausrichtung der Global-Governance-Mechanismen in den Bereichen Entwicklungshilfe, Handel und Finanzsystem. Intendiert ist aber keine neue Blaupause, sondern eher eine Ideensammlung für einen neuen, kohärenten Instrumentenmix, mit dessen Hilfe künftig Entwicklungspolitik und internationale Kooperation gestaltet werden können. Von Rainer Falk.

Die WESS-Autoren gehen davon aus, dass die Implosion des US-Finanzsektors mit ihren Auswirkungen in allen Weltregionen unterstreicht, wie stark die wechselseitigen Verflechtungen der Weltwirtschaft heute sind. Diese Interdependenzstrukturen sind das Ergebnis von Jahrzehnten der Globalisierung. Nach dem Bericht ist es erforderlich, dieses Globalisierungsmodell zu verändern, da eine bloße Wiederbelebung des Wachstumsmusters, das zu der aktuellen Krise geführt hat, lediglich die Grundlagen für künftige, möglicherweise noch schwerere Krisen legen würde. Anders ausgedrückt: Die Krise verweist darauf, dass die Globalisierung, wie wir sie kennen, nicht nachhaltig ist und einen Richtungswechsel braucht.

* Neue globale Bedingungen

Die globale Finanzkrise hat darüber hinaus gravierende Schwächen im System der ökonomischen Global Governance enthüllt. Selbst wenn es bislang gelungen ist, einen bemerkenswerten Geist des Multilateralismus aufrecht zu erhalten, kann das nicht über die Schwächen von Institutionen und Regeln hinwegtäuschen, die zumeist vor mehr als 60 Jahren errichtet wurden. Den aktuellen globalen Bedingungen und den künftigen Herausforderungen werden diese kaum mehr gerecht.

Kräfteverschiebungen in der Weltwirtschaft


Globale Armutstrends


Der Bericht stellt einige der zentralen Veränderungen der Weltwirtschaft heraus, die die absehbare Zukunft bestimmen dürften. So verweist er auf das schnelle Wachstum im sich entwickelnden Asien, in dessen Gefolge sich das globale wirtschaftliche Kräfteverhältnis verändert und der Lebensstandard vielerorts verbessert hat, während andere, vor allem Afrika, weiter zurückgefallen sind. Die globale Zahl der Armen, die von weniger als 1,25 Dollar am Tag leben müssen, ist zwar von 1,8 Milliarden 1990 auf 1,4 Milliarden 2005 gefallen; doch dieser Rückgang entfiel fast vollständig auf China. In Subsahara-Afrika und Südasien hat die Anzahl der Armen zugenommen. Mit einigen Ausnahmen ist auch die Einkommensungleichheit innerhalb der Länder seit den 1980er Jahren gestiegen.

Im Zuge der demografischen Veränderungen in den kommenden Jahrzehnten werden die globalen Interdependenzen stark zunehmen. Jedes Jahr wächst die Weltbevölkerung um mehr als 70 Millionen. Bis 2050 muss die Weltwirtschaft für über 9 Milliarden menschenwürdige Lebensbedingungen bereitstellen. 85% dieser Menschen werden in Entwicklungsländern leben. Bis 2050 werden einer von vier Menschen in den Industrieländern und einer von sieben in den heutigen Entwicklungsländern über 65 Jahre alt sein. Die Abnahme und das zunehmende Alter der Bevölkerung in den Industrieländern könnten zu wesentlich größeren Migrationsströmen als heute führen. Über 70% der Weltbevölkerung dürfte bis 2050 in städtischen Regionen und in Mega-Cities leben.

* Neuer Entwicklungskonsens?

Die globale Krise zeigte, wie stark die Finanzmärkte miteinander verflochten sind und wie Probleme in einem Teil des Systems zu Schockwellen in einem anderen Teil führen können. Auch der Klimawandel und wachsende Migrationsströme sind Herausforderungen von globalem Charakter. Doch die Politik, die Regeln und Institutionen, um diese Prozesse zu steuern, sind zumeist national, und wo es globale Mechanismen gibt, sind diese hochgradig fragmentiert. Ohne Reformen, warnt der Bericht, werden die Spannungen zwischen den Entscheidungsprozessen auf nationaler und denen auf globaler Ebene zunehmen. Die Frage stelle sich, wie eine kohärente Reform der Global-Governance-Strukturen aussehen kann, die gleichzeitig allen Nationen erlaubt, ihre Geschicke selbst zu bestimmen. Gebraucht werden, so die WESS-Autoren, neues Denken und ein neues Gleichgewicht zwischen nationalen und globalen Entscheidungsprozessen.

Im Bericht ist ein Kapitel enthalten, das einen Überblick über die diversen entwicklungsstrategischen Ansätze der letzten Jahrzehnte gibt, von der Förderung öffentlicher Investitionen, vor allem in Infrastruktur, zum Trickle-down über den Grundbedürfnisse-Ansatz und den Marktfundamentalismus des Washington Consensus bis hin zur Refokussierung der Entwicklungspolitik auf Armutsbekämpfung. In den Millennium-Entwicklungszielen sieht der Bericht als gewisse Abkehr von neoliberalen Marktstrategien, kritisiert aber ihre fehlende strategische Einbettung.

Auf der Basis einer Einschätzung der jüngsten Entwicklungserfolge, vor allem in Teilen Asiens, schlussfolgern die Autoren, dass mehr Gleichheit in Bezug auf Einkommen, Besitz und Zugang zu Bildung und Gesundheitsdiensten zentral ist für ein nachhaltiges und beschleunigtes Wachstum. Chancengleichheit für alle, eine Reorientierung der Ökonomien auf mehr inklusives Wachstum und zugleich auf ökologische Nachhaltigkeit sowie die Allokation hinreichender Ressourcen in Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung sind jedoch nur möglich, wenn die Regierungskapazitäten gestärkt werden. In diesem Sinne erfordert die Formulierung und Umsetzung nationaler Entwicklungsstrategien im Rahmen eines revitalisierten „Entwicklungsstaats“.

1. Neue Entwicklungshilfe-Architektur

Die derzeitige Entwicklungshilfe-Architektur ist hochgradig fragmentiert und oftmals ineffektiv. Zum Beispiel muss Tansania in einem Jahr über 700 Entwicklungshilfe-Projekte managen und mehr als 500 Geberdelegationen empfangen. In der letzten Dekade hat der Umfang der einzelnen Hilfsprojekte um zwei Drittel abgenommen, die Anzahl der Projekte ist jedoch um das Sechsfache gestiegen. Dabei bleiben viele arme Länder stark von Entwicklungshilfe abhängig, um Armut und schlechte Gesundheit zu überwinden. Hinzu kommt, dass der Klimawandel vor allem die ärmsten Nationen trifft und jedes Jahr 100 Mrd. Dollar an neuen Investitionen erfordern wird.

Die WESS-Autoren schlagen vor, dass den Entwicklungsländern bei der Identifizierung von Finanzierungsengpässen endlich die Führung eingeräumt werden muss. Nur wenn sie das Steuer übernehmen, kann von nationalen Entwicklungsstrategien die Rede sein. Die Geber würden dann nicht länger unzählige Projekte mit spezifischen Konditionen und Verwaltungsanforderungen finanzieren, sondern gemeinsam eine breites Set von Entwicklungspolitiken unterstützen, für dessen Umsetzung die Nehmerregierungen verantwortlich wären.

2. Entwicklungsorientiertes Handelssystem

Die Sackgasse der Doha-Runde, die einmal stärker entwicklungsorientierte Handelsregeln bringen sollte, spiegel die Schwierigkeiten wider, ein wirkliches Gleichgewicht herzustellen zwischen einem gleichen Spielfeld, d.h. gemeinsamen Regeln, und der Fähigkeit der Länder, diese zu einem fairen Wettbewerb zu nutzen. In den letzten Dekaden folgte der vorherrschende Liberalisierungsansatz einem Muster, das die gemeinsame Verantwortlichkeit der Länder förderte, aber die differenzierten Verantwortlichkeiten von Ländern mit beschränkten Fähigkeiten zur vorteilhaften Integration in das globale Handelssystem vernachlässigte. Ausgestaltung und Anwendung der multilateralen Handelsregeln sollten deshalb so angepasst werden, dass sie den Entwicklungsländern, vor allem den Niedrigeinkommensländern, einen größeren Spielraum geben, um – im Einklang mit nachhaltigen Entwicklungszielen – aktiv einen produktiven Sektor aufzubauen und Exportförderungsstrategien zu verfolgen.

Im Sinne von mehr Kohärenz im Global-Governance-System sollte die Reichweite der Kompetenz der Welthandelsorganisation (WTO) überdacht werden. Beispielsweise steht die Notwendigkeit einer stärkeren finanziellen Regulierung nach der globalen Finanzkrise in einem Spannungsverhältnis zum GATS-Abkommen (General Agreement on Trade in Services), das auf die Erleichterung von grenzüberschreitenden Finanzdienstleistungen zielt. Solche Konflikte können vermieden werden, indem multilaterale Regeln für den Handel mit Finanzdienstleistungen im Rahmen eines reformierten finanziellen Regelwerks formuliert werden. Eine stärker fokussierte Agenda könnte auch den Abschluss der Doha-Runde erleichtern und ein stärker entwicklungsorientiertes multilaterales Handelssystem schaffen.

3. Koordination und Regulierung des internationalen Finanzsystems

Die Deregulierung der globalen Finanzen trägt für die gegenwärtige Krise eine große Verantwortung. Die Entwicklungsländer hatten erwartet, das weniger regulierte Finanzen ein Beitrag zu einer wachsenden externen Finanzierung seien, aber stattdessen machte dies das Wachstum instabiler und hemmte einheimische Investitionen und die wirtschaftliche Entwicklung.

In der Sicht der WESS-Autoren wird eine stärkere finanzielle Regulierung durch die nationalen Stellen nur dann effektiv sein, wenn sie international koordiniert wird. Deshalb schlägt der Bericht eine neue internationale Agentur zur Koordinierung der finanziellen Regulierungsbestrebungen vor, die mit einer tiefgreifenden Reform des internationalen Reservesystems einher gehen soll. Vorgeschlagen wird ein System, das weniger abhängig vom US-Dollar ist und das die Reservehaltung regional und international poolt und auf diese Weise eine billigere Versicherung für Länder bietet, die sich wirtschaftlichen Schocks und Zahlungsproblemen gegenüber sehen. Das neue System müsste auch in der Lage sein, neue internationale Liquidität zu schaffen, darunter zur Entwicklungsfinanzierung und zum Kampf gegen den Klimawandel.

Entsprechend fordert der WESS eine grundlegende Revision der bestehenden Institutionen ökonomischer Global Governance. Für ein effektiveres und nachhaltigeres „Rebalancing“ der Weltwirtschaft bedarf es jedoch einer viel intensiveren Koordination. Dies bezieht sich sowohl auf das Handelssystems als auch auf das neue System der internationalen Regulierung, das globale Reservesystem und die Mechanismen zur Mobilisierung und Kanalisierung der Entwicklungs- und der Klimafinanzierung.

Derzeit bietet die Gruppe der 20 in einigen Bereichen ein gewisses Maß an Koordination, doch als informelle Plattform, mit der auf die Krise reagiert wurde, lag ihr Schwerpunkt auf der Finanzmarktreform. Die Autoren des WESS gehen davon aus, dass ein nachhaltiges „Rebalancing“ der Weltwirtschaft Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird und nur bei einer höheren Kohärenz des Gesamtsystems erfolgreich sein kann. Deshalb schlägt der Bericht der internationalen Gemeinschaft vor, einen globalen wirtschaftlichen Koordinationsmechanismus im Rahmen eines multilateralen Systems zu institutionalisieren, das repräsentativer als die G20 ist.
Rainer Falk

Hinweis:
* UN-DESA, World Economic and Social Survey 2010: Retooling Development, 201 pp, United Nations: New York 2010. Bezug: über www.un.org/esa

Veröffentlicht: 2.7.2010

Empfohlene Zitierweise: Rainer Falk, Globale Krise und Global Governance: Eine entwicklungspolitische Reformperspektive, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, W&E-Hintergrund Juli 2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).