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Grenzen des Diskurses über menschliche Entwicklung

Artikel-Nr.: DE20101107-Art.60-2010

Grenzen des Diskurses über menschliche Entwicklung

20 Jahre Human Development Report

Vorab im Web – Der 20. Bericht über die menschliche Entwicklung ist Pflichtlektüre für entwicklungspolitisch Interessierte. Der von Nobelpreisträger Amartya Sen inspirierte Ansatz des jährlich erscheinenden Reports, Entwicklung vom Menschen her zu denken, hat den heutigen entwicklungspolitischen Diskurs geprägt. Die praktizierte globale Wirtschaftspolitik gegenüber den Entwicklungsländern bleibt davon allerdings weitgehend unberührt, meint Jörg Goldberg.

Als 1990 der erste Human Development Report (HDR) unter dem Dach des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) erschien und dafür plädierte, Entwicklung nicht bloß in ökonomischen Größen wie Sozialprodukt oder Pro-Kopf-Einkommen zu messen, geschah das in einem internationalen politischen Umfeld, in dem der Neoliberalismus und die wirtschaftspolitischen Glaubensartikel des „Washington Consensus“ quasi religiösen Charakter hatten. UNDP setzte hier einen Kontrapunkt, ohne aber Weltbank und Internationalen Währungsfonds als entwicklungspolitische Leitinstitutionen direkt anzugreifen.

* Armut im Lichte des Human Development Index

Ausgangsgedanke der Berichte und des dort präsentierten Human Development Index (HDI) als Zielfunktion und Messgröße für Entwicklung war die Erkenntnis, dass wirtschaftliches Wachstum und menschlicher Wohlstand nicht identisch sind: „Menschen sind der wirkliche Reichtum der Nationen“, formulierte der erste HDR 1990. Der HDI besteht zu je einem Drittel aus Indikatoren für den Gesundheitszustand, den Bildungsgrad und das Pro-Kopf-Einkommen. Entwicklungspolitik sollte daher nicht bloß als Wachstumsförderung verstanden werden, die quasi automatisch auch zu besseren sozialen Ergebnissen führen würde. In den Berichten wurde von Anfang an – bis zum vorliegenden Jubiläumsbericht – viel Energie auf die Berechnung, die Verbesserung und Erweiterung dieses Index gelegt. Aspekte der Verteilung und der Gender-Gerechtigkeit wurden einbezogen. Im 20. HDR wird ein neuer Indikator vorgestellt, der „Multidimensional Poverty Index“ (MPI), der es besser ermöglichen soll, jene Gruppen zu identifizieren, die sozial am stärksten marginalisiert sind (W&E 07/2010).

* Entwicklungserfolge und Rückschläge im langfristigen Trend

Der spannendste Teil des vorliegenden Berichts befasst sich mit der Frage, ob und wie es den Entwicklungsländern gelungen ist, den Rückstand zu der kleinen Gruppe der Industrieländer zu verkleinern. Hier gibt es überraschende Einsichten. Zunächst ist feststellen, dass die Entwicklungsländer über die letzten 40 Jahre beträchtliche Fortschritte erreicht haben: Den Menschen geht es heute – gemessen am HDI – in fast allen Ländern der Welt erheblich besser als vor 40 und vor 20 Jahren: „In einigen grundlegenden Aspekten ist die Welt heute ein viel besserer Platz als 1990 oder 1970.“ (3) Am größten ist der Fortschritt in Ostasien, Südasien und der Arabischen Welt. Aber auch Subsahara-Afrika steht heute besser da. Gemessen am HDI haben die Entwicklungsländer aufgeholt.

Diese Erfolgsstory ist jedoch weniger beeindruckend, wenn man genauer hinschaut: „…eine der überraschendsten Ergebnisse der Forschung über die menschliche Entwicklung … ist die Tatsache, dass es keinen signifikanten Zusammenhang gibt zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Verbesserungen im Bereich Gesundheit und Erziehung“ (45). Tatsächlich sind – trotz raschen Wirtschaftswachstums vor allem in Asien – gemessen am Einkommen die armen Länder weiter hinter die Industrieländer zurückgefallen, die globale Einkommensschere hat sich weiter geöffnet: Das Verhältnis der Einkommen im reichsten und im ärmsten Viertel der Länder stieg von 23:1 (1970) auf 29:1 (2010).

Die Tatsache, dass es keinen direkten Zusammenhang gibt zwischen Wirtschaftswachstum einerseits und Verbesserungen bei Gesundheit und Erziehung andererseits, wird von den Autoren des Jubiläumsberichts als Bestätigung ihres Ansatzes gewertet: Genau das hatten sie – gegen die Anhänger des „trickle-down“ – von Anfang an behauptet. Auf der anderen Seite aber – und das wird im HDR merkwürdigerweise noch nicht einmal thematisiert – ist der fehlende Zusammenhang zwischen sozialen Verbesserungen einerseits und Wachstum andererseits auch ein krachender Misserfolg: Denn Entwicklungspolitiker nehmen an, dass Investitionen in Erziehung und Gesundheit („investment in human ressources“) umgekehrt Wachstum fördern, d.h. dass gesündere und besser ausgebildete Menschen in der Lage seien, höhere Einkommen zu erarbeiten. Der Fokus der westlichen Entwicklungshilfe auf die sozialen Sektoren geht bis heute von der Annahme aus, dass Investitionen in Gesundheit und Bildung Wachstum generieren – was aber offensichtlich nicht der Fall ist.

* Wachstum und globale Wirtschaftspolitik

Warum Wirtschaftswachstum und der Stand von Gesundheit und Erziehung nicht zusammengehen, erklärt der HDR folgendermaßen: Fortschritte im Gesundheitsbereich seien heute schon mit geringem Aufwand zu erreichen; ein besserer Bildungsstand sei oft eine politische Priorität. Beide Sektoren profitieren zudem von gezielter Entwicklungshilfe (111). Daher seien soziale Fortschritte auch ohne großes Wachstum möglich.

Die Tatsache, dass die Einkommenssituation in den armen Ländern hinter den „weichen“ Faktoren menschlicher Entwicklung zurückbleibt, müsste die Autoren der Berichte eigentlich alarmieren. „Wirtschaftswachstum ist wichtig, aber nicht alles“, konstatierte die Vertreterin von UNDP bei der Vorlage des Berichts in Berlin. Warum aber hapert es dann ausgerechnet in den Niedrigeinkommensländern so mit dem Wachstum? Hier gibt es offensichtlich große Defizite, die mit der Orientierung der Entwicklungspolitik, aber auch mit Faktoren der globalen Wirtschaftspolitik zusammenhängen.

Nun stand der HDR von Anfang an dem neoliberalen Mainstream des Washington Consensus kritisch gegenüber, was im Jubiläumsbericht unterstrichen wird: „Von Anbeginn forderte der HDR die Orthodoxie (des Washington Consensus, d. Verf.) heraus und gründete eine Tradition, die für wichtige Aspekte der Entwicklungspolitik anwendbar war.“ (15) Dass Armutsminderung – in Gestalt der Millenniumsziele (MDGs) – heute unstrittiges Ziel von Entwicklungshilfe ist, verdankt sich auch dem Einfluss der UNDP-Berichte. Hier aber gab es von Anfang an Defizite: Obwohl die Autoren den vom Washington Consensus inspirierten Maßnahmen, die in den Strukturanpassungsprogrammen kulminierten, ablehnend gegenüber standen, wagten sie nur selten offene Kritik.

* Inkonsequenzen und Widersprüche

Immerhin finden sich in älteren Berichten noch Passagen, die den Ansatz von IWF und Weltbank in Frage stellen. Im Bericht von 1992 werden z.B. Reformen der Bretton-Woods-Institutionen gefordert. Solche klaren Worte fehlen im Jubiläumsbericht: Zwar wird darauf hingewiesen, dass Entwicklungspolitik stark kontextabhängig ist, dass es keine universalen Rezepte gibt, dass das, „was in einem Land funktioniert, in einem anderen fehlschlagen kann“ (104). Die Autoren versäumen es aber, Ross und Reiter zu nennen: Sowohl die Bretton-Woods-Institutionen als auch OECD und Welthandelsorganisation versuchen weiterhin, den Entwicklungsländern weltweit die gleichen neoliberalen Politikrezepte aufzuzwingen.

Dagegen stellt der Bericht Prinzipen einer sozial orientierten Entwicklungspolitik: Verteilungsgerechtigkeit, Vorrang für heimische Investitionen statt Auslandskapital, nationales Management von Weltmarktintegration und Spielräume für nationale Industriepolitik. Außerdem: „Alle Politiken und Programme setzen eine effizienten Staat voraus“, was die finanzielle Austrocknung der öffentlichen Hand ausschließt (105). Dies steht in diametralem Gegensatz zum herrschenden Mainstream, der von den globalen wirtschaftspolitischen Institutionen exekutiert wird. Darüber aber wird geschwiegen. Statt die herrschenden Politikansätze beim Namen zu nennen und zu kritisieren, konzentrieren sich die Autoren auf weitere Verfeinerungen bei der Definition von Armut und akademische Diskurse darüber, „dass Entwicklung viel mehr ist als Einkommen.“ (7) Dabei wird leider versäumt, sich mit jenen Politiken offensiv auseinanderzusetzen, die Einkommensarmut und Verteilungsungerechtigkeit produzieren.

Hinweis:
* UNDP, Human Development Report 2010: The Real Wealth of Nations: Pathways to Human Development (20th Anniversary Edition), 236 pp., New York 2010. Bezug: über www.hdr.undp.org/en oder (deutsche Ausgabe) www.dgvn.de
Veröffentlicht: 7.11.2010

Empfohlene Zitierweise: Jörg Goldberg, Grenzen des Diskurses über menschliche Entwicklung. 20 Jahre Human Development Report, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, W&E 11/2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).