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Rückgang der Ungleichheit in Südamerika

Artikel-Nr.: DE20100630-Art.34-2010

Rückgang der Ungleichheit in Südamerika

Segensreiche Umverteilung

Vorab im Web - Südamerika wird gerne wegen seiner extremen und hartnäckigen Einkommensunterschiede kritisiert. Mit einem Gini-Koeffizienten von 0,53 Mitte der 2000er Jahre war die Ungleichverteilung des Einkommens in Südamerika um 18 % höher als in den Ländern südlich der Sahara, 36 % höher als in Ostasien und dem Pazifikraum und 65 % höher als in den reichen Ländern. Aber nach einem konstanten Anstieg in den 1990er Jahren sind die Einkommensunterschiede zwischen 2000 und 2007 stetig gesunken.

Dies steht in offensichtlichem Kontrast zu den aktuellen Trends, zum Beispiel in China, Indien und Südafrika. Von den 17 südamerikanischen Ländern, für die Vergleichsdaten vorliegen, verzeichneten zwölf einen Rückgang ihres Gini-Koeffizienten um durchschnittlich 1,1 % pro Jahr. Die Grafik zeigt die Ergebnisse einer umfangreichen Untersuchung (s. Hinweis) in Argentinien (städtische Regionen), Brasilien, Mexiko und Peru. Diese Untersuchung ist einer der ersten Versuche, die Angleichung seit 2000 in Südamerika zu erklären.


* Vier typische Länder

Die vier Länder, die wir untersuchten, können als repräsentative Beispiele von Ländern mit mittlerem Einkommen in Südamerika bezeichnet werden. Es sind:
* eines der fünf Länder mit den am stärksten ausgeprägten Einkommensunterschieden in Südamerika (Brasilien),
* ein Land mit traditionell geringen Einkommensunterschieden, das in den drei vergangenen Jahrzehnten jedoch die stärkste Verschärfung der Einkommensunterschiede verzeichnete (Argentinien),
* drei der größten Länder der Region in Bezug auf Bevölkerung und BIP (Argentinien, Brasilien und Mexiko),
* zwei Länder, in denen innovative, groß angelegte und an Bedingungen geknüpfte Bartransfers erfolgten (Brasilien und Mexiko),
* ein Land mit einer großen indigenen Bevölkerung (Peru). Im Jahr 2001 waren ca. 37 % der peruanischen Bevölkerung indigen.

Alle vier Länder führten in den 1990er Jahren (im Falle von Mexiko seit den 1980er Jahren) marktorientierte Reformen ein. Insbesondere wurden Handel und Auslandsinvestitionen liberalisiert, viele staatliche Unternehmen wurden privatisiert und allgemein wurden die Märkte dereguliert. Die vier Länder erlebten zwischen 1995 und 2006 bedeutende makroökonomische Krisen und verfolgen, mit Ausnahme von Argentinien, seit 2000 eine im Großen und Ganzen vorsichtige Fiskal- und Geldpolitik. Im Jahr 2003, nach dem steilen Anstieg der Rohstoffpreise, begannen Argentinien und Peru von sehr günstigen Handelsbedingungen zu profitieren und verzeichneten folglich zwischen 2003 und 2006 hohe Pro-Kopf-Wachstumsraten von 7,8 % bzw. 5,2 % jährlich. Im Gegensatz dazu erreichte das BIP-Wachstum pro Kopf in Brasilien und Mexiko lediglich 2,7 % bzw. 2,8 % pro Jahr.

* Was verursachte den Rückgang der Einkommensunterschiede?

Zwei wesentliche Faktoren scheinen für den Rückgang der Einkommensunterschiede in Argentinien, Brasilien, Mexiko und Peru während des vergangenen Jahrzehnts verantwortlich zu sein: erstens die Verringerung der Lohnlücke zwischen Facharbeitern und weniger gut ausgebildeten Arbeitern und zweitens die steigenden Transferzahlungen der öffentlichen Hand an die Armen.

Die Verringerung der Lohnlücke scheint in erster Linie eine Folge der Ausweitung der Schulbildung während der letzten Jahrzehnte zu sein, die dafür sorgte, dass der Anteil der Arbeitnehmer sinkt, die lediglich eine Grundschulbildung oder weniger aufweisen. Eine weitere Erklärung könnte das Ende des technologischen Wandels der 1990er Jahre sein, der mit der Öffnung von Handel und Investition verbunden war und von dem die besser gebildeten Arbeitnehmer sehr viel stärker profitierten. Zweifellos aber war die Verbesserung des Bildungswesens in den vergangenen zehn Jahren die treibende Kraft bei der Verringerung der Ungleichheit.

Die Erhöhung der Sozialleistungen trug zur Verringerung der Ungleichheit bei, wobei allem Anschein nach die Einführung oder Ausweitung von umfangreichen, an Konditionen geknüpfte Transferprogrammen in Argentinien (Jefes y Jefas de Hogar), Brasilien (Bolsa Escola/Bolsa Familia und BPC) und Mexiko (Progresa/Oportunidades) und von Sachleistungsprogrammen in Peru eine Rolle gespielt haben.

Die Verbesserung der Bildung der Armen wird jedoch bald an eine Grenze stoßen: Der Zugang zu Tertiärbildung wird den Armen wohl vor allem aufgrund der schlechten Qualität ihrer Grundschul- und Sekundarbildung verwehrt bleiben. Daher wird der Rückgang der Ungleichheit kaum weitergehen, wenn diese Grenze erreicht ist. Trotz der Tatsache, dass sich die Sozialpolitik mehr an den Bedürfnissen der Armen orientiert, ist ein Großteil der öffentlichen Ausgaben entweder neutral oder regressiv, und Einkommens- und Vermögenssteuer werden nur in geringem Umfang eingetrieben. Die öffentlichen Ausgaben und die Steuern müssen progressiver gestaltet werden, und die Qualität der öffentlichen Leistungen für die Armen – insbesondere im Bildungswesen – muss verbessert werden. Das sind die zentralen Maßnahmen, die dafür sogen, dass die Gesellschaft weiter in Richtung Chancengleichheit voranschreitet.

* Fazit

Laut ökonomischer Theorie sind es die Mängel der Kapitalmärkte und die geringe Streuung von Investitionen, die die Marktkräfte in Südamerika quasi dazu zwangen, Einkommensunterschiede zu verursachen und zu zementieren, sofern die Regierungen keine Maßnahmen ergreifen, die sowohl Chancen als auch Ergebnisse angleichen. Darüber hinaus wirkt sich wahrscheinlich in diesen Ländern eine Umverteilung positiv sowohl auf die Einkommensunterschiede als auch auf das Wachstum aus.

Volkswirtschaftliche Analysen lassen den Schluss zu, dass die Dynamik der jüngsten Umverteilungsmaßnahmen eine Folge der Stärkung der Demokratie sein könnte. Mehr noch: Einiges weist darauf hin, dass die sozialdemokratischen, nach links tendierenden Regierungen Einkommensunterschiede und Armut effektiver bekämpft haben als rechte und linksradikale Regierungen. Die Umverteilung wird ihre positive Dynamik jedoch nur beibehalten können, wenn der Übergang von der klientelistischen zu einer programmorientierten Politik gelingt.

Dazu müssen die Entrechteten in ihren Mobilisierungsbemühungen und bei der kollektiven Nutzung von politischen Parteien unterstützt werden. Auch die Legislative muss gestärkt und die Präsidialmacht muss beschnitten werden. Die Erfahrung in den entwickelten Ländern zeigt, dass Gleichheit nur dann von Dauer ist, wenn die Umverteilungsmaßnahmen – insbesondere progressive Einkommens- und Vermögenssteuer in den oberen Einkommensgruppen – fortgeführt werden. Unsere Ergebnisse zeigen auch, dass eine progressive Fiskalpolitik und Wohlstand durchaus miteinander vereinbar sind.
Luis Lopez-Calva/Nora Lustig

Luis Lopez-Calva ist Chefökonom im Regionalbüro Südamerika/Karibik des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP). Nora Lustig ist Samuel Z. Stone Professorin für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Südamerika an der Tulane University. Der Artikel wurde ursprünglich unter www.voxeu.org veröffentlicht.

Hinweis:
* Luis F. Lopez-Calva und Nora Lustig (Hg), Declining Inequality in Latin America: a Decade of Progress?, Brookings Institution Press und UNDP: Washington DC 2010. Bezug: Buchhandel.

Veröffentlicht: 30.6.2010

Empfohlene Zitierweise: Luis Lopez-Calva/Nora Lustig, Rückgang der Ungleichheit in Südamerika, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, W&E-Hintergrund Juli 2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).