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Stockender Aufschwung und globale Ungleichgewichte

Artikel-Nr.: DE20101016-Art.55-2010

Stockender Aufschwung und globale Ungleichgewichte

Die Weltwirtschaft im Herbst 2010

Vorab im Web - Trotz einer vergleichsweise kräftigen Wiederbelebung der Konjunktur im ersten Halbjahr 2010 nach dem tiefen Einbruch vom 2008/2009 erscheinen die Aussichten für 2011 weniger gut. Angetrieben und gestützt wird die Erholung von den Entwicklungsländern, vor allem von China, Indien und Brasilien. Dagegen fallen die Industrieländer weiter zurück. Die ungelösten Probleme des Finanzsektors sowie eine verfrühte Konsolidierungspolitik belasten Wirtschaft und Arbeitsmärkte. Von Jörg Goldberg

Die Beurteilung der Weltkonjunktur durch den zu neuen Ehren gekommenen Internationalen Währungsfonds (IWF) im Herbst ist durch große Skepsis gekennzeichnet: Zwar hat der IWF in seinem Wirtschaftsausblick (WEO) vom Oktober die Wachstumsprognosen für 2010 für die meisten Länder und Regionen nochmals leicht verbessert, allerdings mit Ausnahme der USA. Dagegen haben sich die Erwartungen für 2011 für die Industrieländer eingetrübt. Auch wenn die Analysten nicht mit einer zweiten Rezession rechnen, so sehen sie doch zahlreiche „downside“-Risiken und mahnen: „Die Wirtschaftspolitiker sollten zum Handeln bereit sein, wenn das globale Wachstum sich deutlicher abschwächen sollte als erwartet.“ (161) Ganz wird ein erneuter Rückfall also nicht ausgeschlossen.

* Die Zweiteilung der Welt: Was überwiegt?

Krise und Aufschwung zeigen eine Zweiteilung der Weltkonjunktur. Einen deutlichen krisenbedingten Produktionsrückgang hatte es 2009 ohnehin nur in den entwickelten Industrieländern (-3,2%) und in den von ihnen direkt abhängigen Regionen (Osteuropa/Russland, Mittelamerika) gegeben. Die Entwicklungsländer vor allem Asiens gerieten 2009 zwar auch in den Sog der in den Industrieländern ausgebrochenen Krise; ihre Wirtschaft erwies sich aber meist als widerstandsfähig, so dass es dort nur zu einer – allerdings deutlichen – Wachstumsverlangsamung (+2,5%) gekommen ist.

Den Prognosen des WEO zufolge verläuft auch der Aufschwung 2010/2011 ungleichmäßig: Einem insgesamt schwachen Wachstum in den Industrieländern (+2,7%/+2,2%) steht eine kräftige Expansion in den Entwicklungsländern (+7,1%/+6,4%) gegenüber. In welchem Ausmaß die aufstrebenden Schwellenländer die Weltkonjunktur stützen, zeigen deren Importe, die fast doppelt so stark zunehmen wie die Importe der Industrieländer.

Tatsächlich hat sich die Struktur der Weltwirtschaft in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert: Gemessen zu Kaufkraftparitäten (PPP) produzieren die Entwicklungsländer heute fast ebenso viel wie die Industrieländer. Der Anteil der industrialisierten ‚Großen Sieben’ (G7) an der Weltproduktion (Bruttoinlandsprodukt=BIP) ist unter 40% gesunken. Anders sieht es aber aus, wenn man die Produktion zu laufenden Dollarpreisen und Wechselkursen bewertet – und dies ist der für globale Zusammenhänge relevante Maßstab: Auch dann haben die Entwicklungsländer kräftig aufgeholt; trotzdem erzeugen die Industrieländer noch fast zwei Drittel des Welt-BIP, und immer noch überwiegen die G7 in der Weltwirtschaft.

Verteilung der Weltproduktion nach Regionen


Daraus kann geschlossen werden, dass die aufstrebenden Schwellenländer die Belebung zwar stützen, sie die Industrieländer aber nicht aus dem Sumpf der selbstgemachten Rezession und Stagnation ziehen können. Entscheidend bleibt die Lösung der internen Widersprüche in den entwickelten Staaten.

* Die Schwächen der Industrieländer

Dass das Wachstum nach dem historisch einmalig scharfen Einbruch 2008/2009 zunächst vergleichsweise kräftig war, kann eigentlich nicht überraschen. Der Beinahe-Zusammenbruch des Weltfinanzsystems nach der Lehman-Pleite 2008 hatte die Wirtschaft der Industrieländer zunächst in eine Art ‚Schockstarre’ versetzt: Die Lager wurden geräumt, Investitionsvorhaben gestoppt, die Bautätigkeit kam in den von Immobilienkrisen betroffenen Ländern fast vollständig zum Erliegen.

Erst nachdem die Regierungen signalisierten, dass sie die insolventen Banken um jeden Preis retten würden und groß dimensionierte Konjunkturprogramme auflegten, erwachten die Unternehmen wieder aus dem Koma. Obwohl die krisenbedingten Produktionseinbrüche auch Ende 2010 noch bei weitem nicht aufgeholt sind, führten die Nachholeffekte 2010 zu optisch hohen Wachstumsraten. Umso absurder ist es, wenn z.B. die deutsche Bundesregierung diese Nachholeffekte zum „Wachstumswunder“ (stärkstes Wachstum seit der Wiedervereinigung“) hochjubelt – schließlich war auch der Wachstumseinbruch 2008/2009 in Deutschland besonders tief gewesen.

Die schon im zweiten Halbjahr 2010 spürbaren erneuten Abschwächungserscheinungen zeigen, dass die Krise noch keineswegs überwunden ist. Dafür sind drei Faktoren verantwortlich:
* Nach wie vor hängt das Finanzsystem der Industrieländer am Tropf der öffentlichen Hand, die die Finanzmärkte exzessiv mit billigem Geld versorgt. Der IWF klagt: „Das Bankensystem bleibt extrem anfällig gegenüber Vertrauensschocks und ist in hohem Maße von der Unterstützung durch Regierungen und Notenbanken abhängig.“ (WEO, 7)
* Trotz anhaltender Konjunkturrisiken sind die meisten Regierungen fiskalisch wieder auf Konsolidierungskurs und kürzen die öffentlichen Ausgaben vor allem im Sozialbereich. Dadurch werden Arbeitsmärkte und privater Verbrauch, also die Binnenmärkte, belastet.
* Wirtschaftspolitisch gerät die expansive Geldpolitik, durch welche die Märkte mit billigem Geld geradezu überschwemmt werden, in Konflikt zur restriktiven Haushaltspolitik, welche die inländische Kaufkraft beschränkt. Daher ist „unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Deflation das größere Risiko ist“ (WEO, 28).

Dass die politisch gewollte Geldschwemme unter diesen Umständen auf die Finanzmärkte strömt und dort zu erhöhter „Volatilität“ führt (WEO, 5) statt die Produktion anzukurbeln kann nicht überraschen. Das Geldkapital strömt auch auf die Märkte der relativ stabilen Schwellenländer, setzt deren Währungen unter Aufwertungsdruck und führt zu instabilen Wechselkursen. Die Rohstoffmärkte boomen, die Preise für Metalle und Nahrungsmittel erreichen neue Rekordstände.

Finanzturbulenzen aller Art belasten ein Finanzsystem, dessen Kernprobleme noch nicht annähernd bewältigt sind. Die unter dem Schock der Lehman-Pleite angekündigten globalen Regulierungsreformen versanden unter dem Druck der Konkurrenz der nationalen Finanzmärkte und der erneut das Haupt erhebenden Banken und Fonds: Diese fürchten um Renditen und Boni und tun alles, um wirksame Beschränkungen zu unterlaufen. Es kann daher nicht überraschen, dass der IWF den Finanzsektor als „Achillesferse“ der Konjunktur sieht (WEO, 36/GFSR, vii).

* Handelsungleichgewichte

Ein weiterer Faktor trägt zur globalen Instabilität bei: Schon für den Ausbruch der Krise waren die Ungleichgewichte im internationalen Handel mit verantwortlich. Hohen Handelsbilanzüberschüssen Chinas, Japans und Deutschlands standen Defizite der USA und vieler osteuropäischer Staaten gegenüber. Innerhalb der Eurozone gibt es ebenfalls große Ungleichgewichte zwischen Deutschland einerseits und den PIIGS-Staaten andererseits: Deren Hauptprobleme sind nicht, wie behauptet, die Staatsverschuldung, sondern die hohen Leistungsbilanzdefizite.

Während China empfohlen wird, die Binnennachfrage zu stärken und seine Währung aufzuwerten, sollen die Defizitländer in der EU ihre Konkurrenzfähigkeit durch innere Abwertungen, d.h. durch Senkung der Löhne und Sozialausgaben, steigern. Diese Empfehlungen sind aber nur geeignet, die der Krisenhaftigkeit zugrunde liegende Verteilungsungleichgewichte zu vergrößern.

* Umverteilung und Sozialabbau als Risikofaktoren

Obwohl der IWF die Konjunkturrisiken sehr deutlich sieht, hält ihn das nicht davon ab, den Regierungen für 2011 eine restriktive Haushaltspolitik zu empfehlen. Dabei wissen die IWF-Ökonomen durchaus, dass die Haushaltskonsolidierung „auf kurze Sicht die Produktion senkt und die Arbeitslosigkeit steigert“ (93). Das Lehrbuch sagt zwar, dass ein Abbau der Staatsdefizite auf mittlere Sicht die Realzinsen senkt und so das Wachstum stützt. Leider erklären die Autoren des Berichts aber nicht, wie das bei den gegenwärtig historisch niedrigen, teilweise sogar negativen Realzinsen funktionieren soll.

Auf die Gefahren rückläufiger oder auch nur stagnierender Beschäftigung für die Konjunktur weist der diesjährige World of Work-Report (WoW) der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hin. Denn trotz der Konjunkturbelebung haben sich die Beschäftigungsaussichten in den meisten Ländern verschlechtert (WoW, vii). Entgegen früheren Prognosen wird nun damit gerechnet, dass der Vorkrisenstand bei der Beschäftigung erst 2015 wieder erreicht sein wird. In 38 von 68 beobachteten Ländern ist die Beschäftigung zurückgegangen – und wo sie angestiegen ist, war das zu einem erheblichen Teil der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse zu verdanken. Dies ist die Grundlage für weiter sinkende Reallöhne und zunehmende Einkommensungleichgewichte, deren negative Wachstumswirkungen in der Vergangenheit entweder durch mehr Verschuldung der privaten Haushalte (USA) oder durch verstärkte Exporte (Deutschland) kompensiert worden sind. Beides hat zur Volatilität der Finanzmärkte und zum Ausbruch der Finanzmarktkrise beigetragen.

Die ILO plädiert daher für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel: „Soll die Krise nachhaltig überwunden werden, dann muss sowohl das Problem der Verteilungsungleichgewichte als auch der dysfunktionalen Finanzsysteme angegangen werden.“ (WoW, viii). Dabei sei der Akzent auf Umverteilungspolitik zugunsten der Lohnabhängigen durch progressive Besteuerung und mehr soziale Sicherung zu legen.

* Widersprüchliche Empfehlungen

Es fällt auf, dass die Politikempfehlungen der am Washington Consensus orientierten Beobachter des IWF durchaus widersprüchlich ausfallen. So wird den Schwellenländern, vor allem China, empfohlen, die Binnennachfrage zu stärken und den Export durch Aufwertung der Währung zu begrenzen. Diese im Kern vernünftigen Empfehlungen sollen dazu beitragen, die dümpelnde Wirtschaft der Industrieländer über einen vergrößerten Importsog aus dem Süden wieder in Fahrt zu bringen.

Die Ungleichgewichte innerhalb des Blocks der Industrieländer aber werden merkwürdigerweise völlig anders behandelt. Den Defizitländern der Eurozone und auch Osteuropas wurden drastische Sparprogramme verordnet, was dort zu einer Verlängerung der Krise führt. Beispiele sind Griechenland, Spanien, Irland, aber auch Ungarn und Rumänien. Die innere Abwertung Deutschlands durch Reallohnsenkungen und Sozialabbau, eine Ursache der Ungleichgewichte innerhalb des Euroraums, wird fortgesetzt, obwohl der für 2010 erwartete Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands mit 6,1% des Inlandsprodukts deutlich größer ist als jener Chinas (4,7%) (WEO, 195).

Implizit verweist dies auf ein weiteres Grundproblem der Nachkrisensituation. Notwendig wäre insbesondere zur nachhaltigen Stabilisierung der Finanzsysteme eine global abgestimmte Politik. Dies kann natürlich nur gelingen, wenn die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger des bislang dominierenden Nordens bereit wären, den veränderten internationalen Kräfteverhältnissen Rechnung zu tragen. Die Struktur der globalen Institutionen, denen dabei eine entscheidende Rolle zukommen müsste, spiegeln aber nach wie vor die Kräfteverhältnisse der Nachkriegszeit. Auf der ergebnislos verlaufenden Herbsttagung der Bretton-Woods-Institutionen im Oktober brachen diese Gegensätze offen aus – die Industrieländer klammern sich hartnäckig an ihre Positionen und nehmen dabei neue Ungleichgewichte und Krisen in Kauf.

Eine Bereitschaft, „nationale Interessen zugunsten eines stabileren und besser funktionierenden Finanzsystems hintanzustellen“, wie es der GFSR (ix) empfiehlt, ist nicht vorhanden. Das zeigt u.a. das Gerangel um Stimmenanteile und Sitze im IMF-Direktorium. „Daher bleiben viele Maßnahmen der notwendigen Reformen zur Stabilisierung der Finanzmärkte unvollendet.“ (ix). In einem durch gewaltige Massen anlagesuchenden Geldkapitals und Volatilität der Finanzmärkte gekennzeichnetem Umfeld bleiben kostspielige Regierungsinterventionen der einzige Weg, um neue Katastrophen zu verhindern.

Hinweise:
* IMF, World Economic Outlook: Recovery, Risk, and Rebalancing, Washington D.C., October 2010. Bezug: über www.imf.org
* IMF, Global Financial Stability Report (GFSR): Sovereigns, Funding, and Systemic Liquidity, Washington D.C., October 2010. Bezug: über www.imf.org
* ILO, World of Work Report 2010: From one crisis to the next, Geneva 2010. Bezug: über www.ilo.org

Veröffentlicht: 17.10.2010

Empfohlene Zitierweise: Jörg Goldberg, Stockender Aufschwung und globale Ungleichgewichte. Die Weltwirtschaft im Herbst 2010, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, W&E-Hintergrund Oktober 2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).