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Wie falsche Strategien Mordshunger schaffen

Artikel-Nr.: DE20100926-Art.50-2010

Wie falsche Strategien Mordshunger schaffen

Der Fall Haiti

Nur im Web - Am 12. Januar 2010 wurde Haiti von einem äußerst schweren Erdbeben erschüttert, das mehrere hunderttausend Tote und Verletzte forderte und mehr als eine Million Obdachlose hinterließ. Die Sachschäden beliefen sich auf Milliarden von Dollar. Das Unglück löste massive internationale Hilfsmaßnahmen aus. Weniger bekannt ist jedoch, dass die internationale Gemeinschaft ein gerüttelt Maß an Verantwortung für die allgemeine Misere der Haitianer trägt, schreibt Jean Feyder*).

Nur wenige Länder haben derart unter dem Schock der Nahrungsmittelkrise von 2008 gelitten wie Haiti. Zwischen Januar und April 2008 verdoppelte oder verdreifachte sich der Reispreis. Die starke Erhöhung der Lebensmittelpreise machte das Leben der 56% Haitianer, die in äußerster Armut leben, und der 76% der Bevölkerung, denen weniger als zwei Dollar am Tag zur Verfügung stehen, noch schwieriger. Um zu überleben, mussten die Menschen sich in immer größerem Maße von Keksen aus Öl, Salz und Lehm ernähren. Ganze Familien in den ländlichen Gebieten konnten sich ihr Auskommen nur dadurch sichern, dass sie den hierfür erforderlichen Lehm an die „Fabrikanten“ dieser Kekse in der Hauptstadt lieferten. Tatsächlich können nur 60% der Haitianer mit einer einzigen vollständigen Mahlzeit am Tag rechnen.

* Die Geschichte der haitianischen Landwirtschaft

Haiti erlangte als erstes Land der gesamten Region seine politische Unabhängigkeit. Tatsächlich konnte es sich durch einen langen Sklavenaufstand von der kolonialen Vormundschaft befreien. Nachdem die ehemaligen Sklaven ihre Freiheit erstritten hatten, übernahmen sie die gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen. Seitdem herrscht in den haitianischen Landgebieten das familiäre Kleinbauerntum vor.

Mehr als ein Jahrhundert lang prägte das Auf und Ab der Preise und der Produktion von Kaffee, Zucker, Edelhölzern und ätherischen Ölen die haitianische Wirtschaft. Kaffee wurde sehr schnell zum wichtigsten Exportgut. Allerdings fand die Integration der Kleinproduzenten in den internationalen Handel weitgehend über wucherische Händler („Spekulanten“) statt, von denen die Erzeuger abhängig waren und die ein fast vollständiges Monopol ausübten. Aus diesem Grund konnte die Bauernschaft die Preise ihrer Erzeugnisse und die Zinsen ihrer Darlehen niemals frei aushandeln.

Darüber hinaus wurde der Kaffeeexport durch den Staat schwer besteuert, der damit vor allem seine Schulden gegenüber Frankreich abzahlen wollte.

Die haitianischen Bauern verwenden heute noch die gleichen Werkzeuge wie in der Kolonialzeit: Hacke, Spitzhacke und Machete. Reis, Bohnen, Kohl und Früchte werden von den Bauern auf ihren winzigen, sorgfältig angelegten Parzellen praktisch mit denselben Mitteln angebaut wie im Jahre 1804. Allerdings konnten die haitianischen Bauern durch Einfuhrbeschränkungen und Importzölle, die 50% des Warenwerts ausmachten, einigermaßen vor der internationalen Konkurrenz geschützt werden.

* Die strukturellen Anpassungsprogramme

Diese Programme wurden im Laufe der 1980er Jahre eingeführt. In einem im November 2006 veröffentlichten Bericht über Haiti untersuchte der CCFD (Comité Catholique contre la Faim et pour le Développement/Katholischer Ausschuss gegen Hunger und für Entwicklung), eine französische Entwicklungshilfeorganisation, am Beispiel des Reises die Auswirkungen der Liberalisierung der Wirtschaft und des Handels, die der IWF und die Weltbank im Laufe der 1980er Jahre in Haiti durchgesetzt hatten. Zu dieser Liberalisierung gehörte eine Senkung des Zollsatzes auf Erzeugnisse wie den Reis von 50 auf 3%.

Das Ergebnis dieser dramatischen Zollermäßigung war ein massiver Einfuhranstieg von subventioniertem US-amerikanischem Reis von 15.000 Tonnen Anfang der 1980er Jahre auf 220 000 Tonnen im Jahr 2004. Dagegen ging die inländische Erzeugung von 124.000 Tonnen im Jahr 1981 auf 106.000 Tonnen im Jahr 2002 zurück. Laut der UNO-Task-Force zur Bewältigung der dortigen Ernährungskrise importiert Haiti gegenwärtig 50% seiner Milchprodukte, 75% des Getreides (Weizen und Reis) und 100% seines Zuckers und Öls. Nachdem der Reis kurzzeitig billiger geworden war, ging der Preis plötzlich blitzartig durch Manipulation der Importeure nach oben. Heute muss die haitianische Regierung 80% ihrer Exporterlöse für die Einfuhr von Lebensmitteln aufwenden.

Aber nicht nur im Bereich des Reisanbaus gingen Arbeitsplätze verloren. Laut dem CCFD lässt sich in der Textilwirtschaft und der Schuhproduktion eine ähnliche Entwicklung beobachten. Die Liberalisierungsreformen haben mehrere nationale Industriezweige zerstört. Noch vor 20 Jahren arbeiteten über 100.000 Menschen in der haitianischen Textilindustrie. Heute sind es gerade noch 30.000, obgleich das „Hope“-Programm eine begrenzte Anzahl neuer Stellen zu schaffen vermochte.

Die kleinen Reisproduzenten des Artibonite-Tals, die nach 1986 von der Konkurrenz aus Nordamerika besonders betroffen waren, führten Kommandounternehmen gegen die Lastwagen durch, die den importierten Reis in die Städte brachten. Die arme Bevölkerung der städtischen Zentren, die froh war, sich plötzlich so günstig mit Lebensmitteln versorgen zu können, trat ihrerseits diesen Kleinbauern gewaltsam entgegen. Dieser „Reiskrieg“ offenbarte deutlich einen der großen Widersprüche, denen sich in der Folge alle haitianischen Regierungen gegenübersahen: Wie ließen sich die Preise der wichtigsten Grundnahrungsmittel für die armen Slumbewohner senken, ohne gleichzeitig die Kleinbauern zu ruinieren und die bereits jetzt viel zu hohe Landflucht noch weiter zu verstärken?

Der Verfall der Lebensmittelpreise und die Abschaffung der Ausfuhrzölle auf Kaffee, die im September 1987 auf Anraten der Weltbank beschlossen wurde, sollten eigentlich die Kleinbauern dazu bewegen, auf den Kaffeeanbau umzustellen, da zahlreiche feuchte Gebirgsgegenden der Insel dafür aus ökologischer Sicht eigentlich unbezweifelbare Konkurrenzvorteile aufweisen. Allerdings zeitigten diese Maßnahmen genau die gegenteilige Wirkung: Die für die Lebensmittelproduktion schädliche Preispolitik führte zu einem erneuten
Rückgang des Kaffeeanbaus.

Auch die Getreideproduktion nimmt weiterhin ab, während gleichzeitig die Bevölkerung jährlich immer noch um mehr als 2% wächst. Seit der Schließung der großen Zuckerfabriken ist die Zuckerproduktion sogar völlig zusammengebrochen. Die Einfuhren von Reis und Weizenmehl nehmen sprunghaft zu, ohne dass sie bisher durch eine höhere Kaffeeausfuhr kompensiert werden könnten. Ganz im Gegenteil geht der Kaffeeanbau immer noch sehr stark zurück.

Zu den strukturellen Gründen der Armut und Arbeitslosigkeit (70% der Bevölkerung haben keine Beschäftigung) zählt die UNO-Task-Force den Niedergang der Landwirtschaft, der auf einem völligen Desinteresse für deren Belange beruhe, sowie die zunehmende Umweltzerstörung, vor allem die Erosion und die Entwaldung.

Auch die UNCTAD kritisierte die überzogenen Bedingungen für die Finanzhilfen des Auslands, die in vielen Entwicklungsländern eine vorschnelle Liberalisierungspolitik erzwungen haben. Dies galt auf jeden Fall für Haiti. Das Land wurde mit subventioniertem US-amerikanischem Getreide überschwemmt. Vergleichbare Maßnahmen unterminierten die Geflügelzucht und die Zuckergewinnung des Landes. Nicht zuletzt durch diese Politik der Zoll- und Haushaltskürzungen und Privatisierungen verschlechterten sich die Lebensbedingungen auf dem Lande und die Lebensmittelversorgung, ohne im Gegenzug Arbeitsplätze im Herstellungssektor und eine diversifiziertere Wirtschaft zu schaffen.

Indem sie Haiti jeder Möglichkeit beraubten, seine landwirtschaftlichen Produzenten zu schützen, setzten die Industrieländer mit Hilfe des IWF und der Weltbank eine für die Entwicklung Haitis vollkommen absurde Wirtschafts- und Handelspolitik in Gang, die schlimmstenfalls einer totalen Aushöhlung der Souveränität dieses Landes vor allem auf dem Ernährungssektor gleichkommt. Einige große Staaten verschafften ihren Ernährungsmultis dadurch einen neuen Markt, allerdings auf Kosten der haitianischen Kleinbauern, die ihrem Ruin entgegensahen.

Bereits vor dem Erdbeben war die Ernährungslage mehr als eines Drittels der Gesamtbevölkerung mehr oder weniger angespannt, wobei in abgelegenen Gegenden, in denen die Verteilung von Hilfsgütern schwierig bleibt, die allgemeine Unterernährung am schlimmsten war. Der Haushaltsansatz des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) für Haiti stieg von 22 Mio. Dollar im Jahr 2007 auf 103 Mio. im Jahr 2008. Damit unterstützt das WFP in diesem Land 2,7 Millionen Menschen.

* Wie lässt sich Haiti wiederaufbauen?

Ende März 2010 fand in New York eine internationale Haiti-Wiederaufbaukonferenz statt. Der dort angenommene Aufbauplan enthält auch ein Kapitel über die Wiederankurbelung der Landwirtschaft, für die immerhin mehr als 700 Mio. Dollar eingeplant wurden. Die spanische Stiftung FRIDE betont, dass das gesamte Wirtschaftsmodell des Landes neu ausgerichtet werden müsse. Haiti benötige einen schlüssigen Plan, in dessen Mittelpunkt die Selbstversorgung auf dem Nahrungsmittel- und Energiesektor, die Nutzung seiner eigenen natürlichen Ressourcen und eine sinnvolle Entwicklungshilfe stehen müssten. Ziel müsse es sein, allen seinen Bürgern eine würdige Grundinfrastruktur zu gewährleisten.

Nach Ansicht der Beratergruppe der Vereinten Nationen unterstrich die politische Krise des Jahres 2008 die Notwendigkeit, in Haiti die Ernährungssicherheit zu stärken und die ländliche Entwicklung zu fördern. Alle nationalen und internationalen Kommentatoren betonten die Dringlichkeit einer Wiederankurbelung der haitianischen Nahrungsmittelproduktion, einschließlich der Fischerei. Die Förderung aller landwirtschaftlichen Aktivitäten und die Stärkung der ländlichen Gemeinschaften sollten also für Regierung und Entwicklungspartner zu den wichtigsten Zielen gehören. Die Verbesserung der Agrarerträge, eine allgemeine Grundbildung und eine Agrarreform sind nach Meinung der UN-Berater unverzichtbar. Außerdem betont die Gruppe die Bedeutung der Ernährungssicherheit für die Stabilität Haitis. Jede Strategie müsse deshalb die Zusammenhänge zwischen dieser Ernährungssicherheit, der Landwirtschaft, dem Bodenrecht, der Energieversorgung und der Entwaldung berücksichtigen.

Ist jedoch eine solche Wiederbelebung der Landwirtschaft ohne eine beträchtliche Erhöhung der Einfuhrzölle überhaupt möglich? Die Beratergruppe des UN-Wirtschafts- und Sozialrats (ECOSOC) äußert sich nicht zu diesem Thema. Dagegen lässt sich für den Agrarwissenschaftler Marc Dufumier die Krise der bäuerlichen Landwirtschaft in Haiti nicht ohne wirksame protektionistische Maßnahmen überwinden, die eine Erhöhung der ländlichen Erzeugerpreise bewirken. Mit Hilfe der Einnahmen aus den Einfuhrzöllen auf ausländische Nahrungsmittel wie Getreide, Schweineinnereien usw. sollte man
möglichst schnell neue produktive Arbeitsplätze schaffen und Beihilfen an die armen Bevölkerungsschichten verteilen, die es diesen erlauben würden, mit den Preiserhöhungen zurechtzukommen, die Folge dieser neuen Maßnahmen wären.

* Bill Clintons Eingeständnis

Am 10. März 2010 erschien der ehemalige US-Präsident Bill Clinton, der derzeitige UN-Sondergesandte für Haiti, vor dem Außenpolitischen Ausschuss des US-Senats, um darüber zu berichten, was die nach ihm benannte Stiftung zur Förderung der Gesundheit weltweit unternimmt. Bei dieser Gelegenheit äußerte er sich auch zu Haiti und zur internationalen Nahrungssicherungspolitik. Dabei sagte er:

„Von 1981 bis zum vergangenen Jahr verfolgten die Vereinigten Staaten die Politik, dass die reichen Länder, die viele Nahrungsmittel produzieren, diese an die armen Länder verkaufen sollten, um sie dadurch von der Bürde zu entlasten, ihre eigene Nahrung produzieren zu müssen. Auf diese Weise könnten sie dann direkt ins Industriezeitalter springen, aber das hat nicht funktioniert. Das Ganze war vielleicht gut für die Farmer in meinem Heimatstaat Arkansas, aber sonst hat es nicht funktioniert. Es war ein Fehler. Ein Fehler, an dem auch ich beteiligt war. Ich weise auf niemand anderem mit dem Finger. Ich war es selbst. Jetzt muss ich mich jeden Tag mit den Konsequenzen meiner damaligen Entscheidung befassen, die dazu führte, dass Haiti heute nicht genug Reis anbauen kann, um seine Menschen zu ernähren; ich war das damals und niemand anderer … Alles, was wir zur Unterstützung der landwirtschaftlichen Selbstversorgung dieser Länder beitragen, wird auch unsere Gesundheitsinitiativen befördern.“

Dieses Eingeständnis von Expräsident Clinton ist sicherlich sehr zu begrüßen. Es ist sogar äußerst bedeutungsvoll. Tatsächlich muss man die Politik in dem von ihm dargelegten Sinne verändern und darauf hinarbeiten, Haiti wieder zu einem Nahrungsmittelselbstversorger zu machen. Andererseits bestätigen seine Aussagen auch den Einfluss des Präsidenten der USA auf die Politik der Weltbank und des IWF.

2008, bei Gelegenheit des Welternährungstages, hat Bill Clinton eine ähnliche Aussage gemacht zu den in Afrika von IWF und Weltbank durchgeführten Ernährungspolitiken. Er sagte: „We blew it up“, und meinte damit die Zerstörung der afrikanischen Landwirtschaft. Es stellt sich die Frage, ob die jetzigen amerikanischen und europäischen Führungspersönlichkeiten, die an den Entscheidungen der internationalen Finanzorganisationen beteiligt waren, so hellsichtig sein werden, den Erkenntnissen Bill Clintons zuzustimmen und daraus die richtigen Lehren zu ziehen.

*) Jean Feyder ist Botschafter Luxemburgs bei den in Genf ansässigen internationalen Organisationen. Es handelt sich um eine Vorabveröffentlichung aus dem in diesen Tagen erscheinenden Buch Mordshunger. Wer profitiert vom Elend der armen Länder? (Piper Westend Verlag).

Veröffentlicht: 27.9.2010

Empfohlene Zitierweise: Jean Feyder, Wie falsche Strategien Mordshunger schaffen. Der Fall Haiti, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 27. September 2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).