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Zum Tode Néstor Kirchners: Der K-Effekt

Artikel-Nr.: DE20101102-Art.59-2010

Zum Tode Néstor Kirchners: Der K-Effekt

Kirchner, Argentinien und Lateinamerika

Vorab im Web – Der plötzliche Tod Néstor Kirchners (60) und sein Abgang von der politischen Bühne waren ähnlich überraschend und massenwirksam wie sein unerwarteter Aufstieg zum Präsidenten eines Landes, das sich gerade anschickte, seine seit Jahrzehnten tiefste Wirtschaftskrise zu überwinden. Nachdem er im Mai 2003 – mit nur 22% der abgegebenen Stimmen gewählt – das Präsidentenamt antrat, entfaltete er sofort eine breite und intensive politische Aktivität auf einer linkspopulistischen Linie, die schon bald mit dem Etikett „K-Effekt“ umschrieben wurde. Von Dieter Boris.

Kirchners stark polarisierende Wirkung konnte auch nach Bekanntwerden seines Todes am 27. Oktober registriert werden: Während in New York die Aktienkurse argentinischer Unternehmen um 13% in die Höhe schossen, in den feinen nördlichen Stadtteilen von Buenos Aires die Sektkorken knallten und Auto-Jubelkorsos veranstaltet wurden, begannen hunderttausende von Argentiniern aus den Unter- und Mittelschichten, aber auch die meisten Vertreter der Intellektuellen und Kulturschaffenden des Landes mit öffentlichen Trauerbekundungen.

* Heterodoxe Wirtschaftspolitik: Effektiv und populär

Dass „die Kirchners“ (Néstor und Cristina Fernández de Kirchner waren seit Jahrzehnten als „politisches Tandem“ tätig) derartige Wirkungen entfalten und solch konträre Emotionen auslösen konnten, hängt vor allem mit der seit 2003 eingeschlagenen Politik zusammen. Durch Bündelung unkonventioneller wirtschaftpolitischer Maßnahmen, wie z.B. der Niedrighaltung des Wechselkurses, des Einfrierens der Preise für „öffentliche Güter“, einer vorsichtigen, leichte Überschüsse erzielenden Haushaltspolitik, der Weigerung, die zum Teil als illegitim qualifizierte Auslandschuld zu bedienen, konnten im Kontext einer starken Weltmarktnachfrage nach argentinischen Rohstoffen zwischen 2003 und 2008 Wachstumsraten von ca. 8% erzielt werden.

Damit wurde die im Verlauf der Krise 2001/02 auf über 50% hochgeschnellte Armutsquote auf auf 12% gesenkt, ebenso die Arbeitslosigkeit reduziert und das reale Arbeitseinkommen deutlich erhöht. Mit der Besteuerung der florierenden Agrarexporte konnten die breit angelegten sozialpolitischen Programme der Regierung finanziert werden. Viele der im neoliberalen Zeitgeist der Vorgänger-Regierungen abgeschafften arbeitsrechtlichen Sicherungen und gewerkschaftlichen Rechte wurden wieder eingeführt. Die Mehrheit der ArgentinierInnen konnte also mit dieser Regierung wieder Hoffnung schöpfen und eine Zukunftsperspektive entwickeln, wenngleich die durch die neoliberale Politik bewirkten sozialen Flurschäden keineswegs vollständig beseitigt wurden.

Das politische Prestige Kirchners wurde nicht nur dadurch befördert, dass mit der Betonung der nationalen Souveränität und der Frontstellung gegenüber den Gläubigernationen und dem für die Krise mitverantwortlichen IWF die Wiedergewinnung eines gewissen nationalen Selbstbewusstseins verbunden war, sondern auch dadurch, dass die von Kirchner angewandten heterodoxen Wirtschaftskonzepte – entgegen den Unkenrufen aller „Experten“ und politisch korrekt denkenden Menschen – doch sehr gute Ergebnisse mit sich brachten.

* Aufarbeitung der Militärdiktatur

Ein weiteres Politikfeld, auf welchem er prägenden Einfluss ausübte, verdient hervorgehoben zu werden: Die lange aufgeschobene und bis dahin weitgehend verdrängte Aufarbeitung der Militärdiktatur (1976-83), die Behandlung der Menschenrechte, die Frage der Unabhängigkeit der Justiz. Hier hat sich Kirchner zweifelsohne ebenso bleibende Verdienste dadurch erworben, dass er darauf drängte, das oberste Gericht neu und anders zu besetzen, die Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen der unter der Militärdiktatur begangenen Verbrechen wieder aufzunehmen und die Opfer zu entschädigen. Dies hat zur geistigen und politischen Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur erheblich beigetragen und auf diesem Weg auch zur realen Demokratisierung des Landes.

In der Außenpolitik lag ihm die Förderung und Vertiefung der lateinamerikanischen Einheit sehr am Herzen. Gleich zu Beginn seiner Amtsperiode gingen von ihm wichtige Impulse zur Festigung und Institutionalisierung des südlichen Wirtschaftsbündnisses (MERCOSUR) und zur Ablehnung des US-Projekts einer gesamtlateinamerikanischen Freihandelszone (ALCA) aus. Dabei schien in vielen Aspekten die Zusammenarbeit mit Venezuela (als Neu-Mitglied des Mercosur) enger als mit manchen unmittelbaren Nachbarländern zu sein. Zuletzt war Kirchner – trotz seiner gesundheitlichen Schwächen – noch als Vorsitzender des politischen Einheitsprojekts Südamerikas (UNASUR) nach Ekuador (aus Solidarität mit dem durch einen Putschversuch angeschlagenen Präsidenten Rafael Correa) und Kolumbien gereist.

* Grenzen des Linksperonismus

Im Vergleich mit diesen eindeutigen und historischen Verdiensten für Argentinien und Lateinamerika müssen einige gegenüber Kirchner immer wieder vorgetragene Kritikpunkte zurücktreten oder relativiert werden. Nicht wenige Journalisten können ihm nicht verzeihen, dass er in seiner gesamten Regierungszeit niemals eine Pressekonferenz abhielt, die Medienvertreter mit großer Reserve behandelte, den üblichen parlamentarisch-demokratischen Prozeduren (z.B. Kabinettssitzungen, parlamentarischen Beratungen etc.) sehr distanziert gegenüberstand; gleichzeitig scheute er sich nicht, in Elendsvierteln mit den Menschen zusammen zu treffen, auf gewerkschaftlichen Versammlungen oder bei anderen sozialen Bewegungen aufzutreten.

Innerhalb der peronistischen Bewegung und Partei repräsentierte Kirchner eine Strömung, die sich bald „Front für den Sieg“ nannte und die mit rechtsperonistischen Tendenzen und regionalen peronistischen Führungspersönlichkeiten konkurrieren, aber auch koexistieren musste. In solchen Machtspielen kam es auch vor, dass bestimmte soziale Bewegungen durch unterschiedliche Behandlung einzelner Strömungen geschwächt oder paralysiert wurden, wie dies im Falle der „piqueteros“ (Bewegung der Arbeitslosen) geschah. Der anti-kapitalistische Diskurs des Linksperonisten Kirchner enthielt also immanente Grenzen.

Dennoch hatten sich die Wirkungsmöglichkeiten der politischen Linken in der Ära des „Kirchnerismo“ zweifellos gegenüber vielen Vorgänger-Regierungen deutlich verbessert; dass diese nicht immer optimal und nicht-sektiererisch genutzt wurden, kann nicht ihm allein zur Last gelegt werden. Der Umstand, dass sich das Vermögen der „Kirchners“ (vor allem Immobilien) während der letzten (Amts-)Jahre deutlich vermehrte, war eine weitere Schwachstelle, auf die hinzuweisen kein Oppositionspolitiker verzichtete.

* „Kirchnerismo“ ohne Kirchner?

Ob mit dem Tod Kirchners ein weiterer Schritt im Niedergang des linkspopulistischen Regimes in Argentinien (und vielleicht in Lateinamerika generell sich andeutet) – wie es z.B. in konservativen Organen wie dem Economist gemutmaßt oder gehofft wird, ist keineswegs ausgemacht. Dies hängt von sehr vielen Faktoren ab. Wenn sich die verfeindeten Strömungen des Peronismus angesichts der Gefährdung ihrer Regierungsfähigkeit wieder annähern oder zumindest eine gewisse interne Machtbalance finden sollten und die rechte Opposition – wie in den letzten Monaten – ohne überzeugende (auch personelle) Alternative bleibt, könnten für die aktuelle Präsidentin die Chancen auf eine zweite Amtsperiode ab Dezember 2011 gar nicht schlecht stehen. Die Fortsetzung des „Kirchnerismo ohne Kirchner“ ist durchaus denkbar, zumal die Argentinier im Schaffen und Ausleben politischer Mythen, welche an „goldene Zeiten“ der Vergangenheit erinnern, einige Erfahrung besitzen. Die anscheinend ewige Überlebenskraft eines „Peronismo ohne Perón beweist dies.

Veröffentlicht: 1.11.2010

Empfohlene Zitierweise: Dieter Boris, Zum Tode Néstor Kirchners: Der K-Effekt, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 1. November 2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).