2010 - Innovatives Jahr für die Armutsbekämpfung
Artikel-Nr.: DE20101231-Art.01-2011
2010 - Innovatives Jahr für die Armutsbekämpfung
Neues auf der Agenda sozialer Gerechtigkeit
Nur im Web – 2010 war ein bemerkenswertes Jahr. Es herrscht Triumphgefühl angesichts einer schnellen Erholung von der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 – ein Triumph, der sich aus dem bloßen BIP-Wachstum speist und blind ist für das hohe Niveau alter und neuer Arbeitslosigkeit. Es gibt gravierende politische Rückschritte: Viele Länder greifen zu bitteren Sparprogrammen – oder zur ‚fiskalischen Konsolidierung‘, wie das jetzt genannt wird. Vor allem in Europa werden massive Kürzungen von Sozialausgaben durchgedrückt und vertiefen so die sozio-ökonomische Spaltung. Von Gabriele Köhler und Timo Voipio.Zugleich sehen wir – als bemerkenswerte Gegenbewegung – sieben politische Innovationen auf der Agenda der globalen Armutsbekämpfung und sozialen Gerechtigkeit. Sie haben ihren Ursprung weitgehend innerhalb des „Südens“ bzw. beziehen ihren Schwung von dort. Diese sieben Innovationen sind:
* erstens die Aufmerksamkeit, die jetzt der Beschäftigung in Form proaktiver Arbeitsmarktpolitik und signifikanter öffentlicher Arbeitsprogramme auf Länderebene (etwa NREGA in Indien) oder des Globalen Pakts für menschenwürdige Arbeit („decent work“) und einer beschäftigungsorientieren Erholung auf internationaler Ebene geschenkt wird;
* zweitens der Druck für universelle soziale Sicherung, der von der Bewegung für eine globale soziale Grundsicherung („social protection floor“) ausgeht, welche sich über Afrika, Lateinamerika und Asien ausbreitet und durch das gesamte UN-System finanziert wird;
* drittens die Erkenntnis, welche lähmende Konsequenzen sozialer Ausschluss und Ungleichheit für die Armut, die menschliche Entwicklung und die einzelnen MDGs haben, und der damit einhergehende höhere Stellenwert für Gleichheit, Inklusion, soziale Investitionen und soziale Integrationspolitik;
* viertens die Aufmerksamkeit für vermeidbare Kindersterblichkeit und die Maßnahmen zur Rettung der Leben von Müttern und Babies mit einer Reihe einfacher und kosteneffektiver Methoden sowie einem entsprechenden Finanzierungsschub auf nationaler und internationaler Ebene;
* fünftens ein sensiblerer Blick für die Ökonomie und Politik der Sorge;
* sechstens eine beginnende Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit beschleunigter und transformierender landwirtschaftlicher und ländlicher Entwicklung (nach Jahrzehnten der Vernachlässigung), einschließlich von grünem Wachstum und Landreformen für die Armen;
* siebtens als gemeinsames Dach für alle diese Punkte: die zunehmende Orientierung auf ein rechtebasiertes Herangehen an die Millennium-Entwicklungsziele.
* Die Entstehung der Decent-Work-Agenda
Die Entstehung der Decent-Work-Agenda – Beschäftigung mit sozialer Sicherung – ist vielleicht die kohärenteste und ermutigendste Veränderung. Sie kann in vielen Ländern des Südens beobachtet werden, darunter in den aufsteigenden Ländern mit mittlerem Einkommen, wie Brasilien, Indien, China, Südafrika, Thailand und die Philippinen. Sie lässt sich auch in vielen am wenigsten entwickelten Ländern beobachten, die bislang davon ausgegangen waren, dass eine Rolle des Staates bei der Schaffung menschenwürdiger Arbeit oder die Bereitstellung sozialer Transferleistungen jenseits ihrer Möglichkeit läge; Beispiele dafür sind Nepal, Kambodscha, Äthiopien, Lesotho, Uganda und Sambia.
Dieser Trend spiegelt sich auch in den entwicklungspolitischen Institutionen wider: Die Europäische Kommission, das UN-Institut für soziale Entwicklung (UNRISD), die UN-Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten (UN-DESA), das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP), die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), das UN-Kinderhilfswerk UNICEF, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die Internationale Assoziation für soziale Sicherheit (ISSA) und viele andere internationale Organisationen und bilaterale Entwicklungsinstitutionen haben kürzlich wichtige Berichte und politische Programme publiziert, die menschenwürdige Arbeit und soziale Sicherung als Schlüsselstrategie zur Erreichung der MDGs nennen. Alle diese Analysen zeigen, dass Beschäftigung und soziale Sicherung untrennbar miteinander verbunden sind.
Die Tatsache, dass eine wachsende Zahl von Entwicklungsagenturen und Regierungen jetzt produktive Vollbeschäftigung als Kernziel ihrer makroökonomischen Politik ansieht, ist ein Trend, der relativ unbemerkt von statten geht, aber als wichtige Innovation angesehen werden kann, wenn er zum Mainstream wird. Ein kürzliches Treffen der wichtigen multilateralen Entwicklungsinstitutionen empfahl bereits eine Wende in der Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik von der Inflationsbekämpfung zur Beschäftigung. Der Globale Pakt für Arbeitsplätze und der globale soziale Sicherheitsboden werden so gleichsam zu einer „gemeinsamen Währung“.
* Ein universelle ‚soziale Grundsicherung‘
Soziale Sicherung in der Form von Sozialversicherung und sozialer Unterstützung kann die auf Arbeitsplätze und menschenwürdige Arbeit orientierte Politik untermauern. Eine verlässliche ‚soziale Grundsicherung‘ für alle Bürger kann die sozio-ökonomische Unsicherheit überwinden. Sie kann die Mittel bereitstellen, um Zugang zu Gesundheitsdiensten und sozialer Unterstützung im Falle von Unfall, Krankheit, Behinderung oder Alter zu sichern und so sozio-ökonomische Sicherheit und Vorhersagbarkeit fördern. Darüber hinaus kann sie menschliche Fähigkeiten und Unternehmertum von Millionen armer Menschen freisetzen. Die Menschen werden Initiativen des Einkommenserwerbs ergreifen und Risiken auf sich nehmen, wenn sie wissen, dass sie im Falle ihres Scheiterns aufgefangen werden und eine soziale Grundsicherung gewährleistet, dass die Familie nicht hungrig in die nächste Woche geht oder die Kinder aus der Schule genommen werden müssen.
Soziale Sicherung ist nicht nur ein Menschenrecht, es gibt auch keynesianische Argumente für eine solche Investition in die Menschen, da soziale Transferleistungen den Konsum der Haushalte steigern und, wenn sie ausreichend hoch und nachhaltig sind, einkommensschaffend wirken und selbst Investition anregen können.
* Zeitgeist-Wende
Diese beiden Innovationen – Beschäftigung und soziale Sicherung – markieren sicherlich eine Wende der Politik und des „Zeitgeistes“. Im Jahr 2000, als die Politiker der Welt die Millenniumserklärung der Vereinten Nationen annahmen, und 2001, als sie den Fahrplan zu Umsetzung der MDGs verabschiedeten, waren Beschäftigung und soziale Sicherung nicht einmal eine Fußnote wert. Im September 2010 kamen die Politiker auf dem MDG-Gipfel der UN-Generalversammlung überein, dass die Förderung der Beschäftigung und die Schaffung oder Vertiefung nationaler sozialer Sicherungssysteme wesentlich sind für die Erreichung von Fortschritten bei den MDGs. Ähnlich erkannte die G20-Deklaration vom November 2010 an, welche Bedeutung die Bereitstellung sozialer Sicherungsleistungen für die Verwundbarsten und menschenwürdige Arbeit auch in den Ländern mit niedrigem Einkommen hat.
Die afrikanischen und europäischen Staatsoberhäupter, die auf dem AU/EU-Gipfel im November in Tripolis mehr als 1,5 Milliarden BürgerInnen repräsentierten, verpflichteten sich zur Förderung „der Globalen Decent-Work-Agenda, mit einem besonderen Fokus auf mehr, produktivere und bessere Arbeitsplätze, verbunden mit sozialer Sicherung“. Die afrikanischen Arbeits- und Sozialminister hoben auf ihren letzten Treffen in Yaoundé bzw. Khartum die Bedeutung der sozialen Sicherung hervor. Die dreiseitige Deklaration von Regierungen, Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften in Yaoundé „erkannte die dringende Notwendigkeit für alle afrikanischen Mitgliedsstaaten und Sozialpartner an, mit der effektiven und raschen Einführung einer sozialen Grundsicherung für alle Afrikaner zu beginnen“. Die afrikanischen Sozialminister bewerteten die soziale Sicherung als eine der vier Schlüsselfunktionen der African Social Policy Framework Implementation Strategy – die anderen drei Funktionen sind Produktion, Reproduktion und Umverteilung. Die Afrikanische Entwicklungsbank (AfDB) entwickelt eine soziale Sicherungsstrategie, die soziale Sicherungsinstrumente nutzen soll für (a) die Verringerung von Einkommensarmut und Risiken der Anfälligkeit in Afrika, (b) nationalen Kapazitätsausbau und (c) die Förderung der Nahrungsmittelsicherheit.
In der asiatisch-pazifischen Region nahmen die APEC-Sozialminister im Oktober 2010 einen Aktionsplan für Beschäftigung an, der feststellte, dass „durch unsere Ökonomien hindurch viele Arbeitsmarktprobleme bestehen bleiben, etwa Wachstum ohne Arbeitsplätze, anhaltende Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung, eine wachsende Zahl von prekärer Jobs und verbreitete informelle Beschäftigung“.
Ganz ähnlich laut der Titel des Europäischen Entwicklungsberichts 2010, des Flaggschiff-Reports des Systems der europäischen Entwicklungszusammenarbeit: Social Protection for Inclusive Development: A new perspective of EU cooperation with Africa. Ein demnächst erscheinender EU-Leitfaden über Social Transfers in the Fight against Hunger unterstreicht, dass globale Nahrungsmittelsicherheit niemals durch bloße Steigerung der Agrarproduktion erreicht werden kann: Zu viele Menschen auf der Welt leiden unter Nahrungsmittelunsicherheit, weil sie nicht genug Einkommen haben, um sich Lebensmittel kaufen zu können.
* Bemerkenswerte Einsichten
Diese Wende ist stark durch die Einsicht geleitet – Innovation 3 –, dass Einkommens-, Wohlstands- und Vermögensungleichheit innerhalb und zwischen den Ländern zugenommen haben und dass sozialer Ausschluss und sich überschneidende Ungleichheiten systematisch und strukturell die Erreichung der MDGs untergraben, die in vielen Ländern in aggregierten Zahlen trügerisch reibungslos verläuft, doch entlang geschlechtlicher, ethnischer, sprachlicher und städtisch-ländlicher Spaltungslinien sehr divergiert, sobald man unter die Oberfläche schaut (Kabeer 2010; UN-DESA 2010). Um dem zu begegnen, werden Politiken der Beschäftigung, der sozialen Sicherung, der aktiven Förderung und des echten Empowerment gebraucht – die Ausrottung der Armut bedarf des Strukturwandels (UNRISD 2010).
Einher mit der Aufmerksamkeit für soziale Inklusion und soziale Gerechtigkeit geht die neue Verpflichtung zu beschleunigtem Handeln auf allen Ebenen, um der Kindersterblichkeit und dem Verlust von menschlichem Potential während der frühkindlichen Entwicklung vorzubeugen. Die meisten Todesfälle unter fünf Jahren ereignen sich kurz vor oder im ersten Monat nach der Geburt und sind weitgehend auf Infektionen und Durchfall oder die armselige Ernährung und den schlechten Gesundheitszustand von Frauen und Mädchen zurückzuführen, die oft viel zu früh Mutter werden. Viele Interventionen, die einen Unterschied machen, sind selbst unter schwierigen Umständen möglich; andere erfordern einen grundlegenden Wandel der Einstellung zu Mädchen- und Frauenrechten – erstere bekamen durch das neue Niveau nationaler und internationaler Spenden einen Schub; letztere brauchen fortgesetztes und kraftvolles Lobbying und Förderung, um Verhaltensänderungen in Haushalten, Gemeinden und der Gesellschaft voranzutreiben.
Wie stets zögert die Weltbank noch, über Menschenrechte zu sprechen. Doch Kinderrechte spielen eine große Rolle in der Arbeit der Bank zur frühkindlichen Entwicklung, wo sie sich für großzügigere Investitionen in Kinder und Jugendliche als „guter Politik und klugem Wirtschaften“ ausspricht.
* Sorgeökonomie, ländliche Entwicklung, internationale Besteuerung
Dies verweist darauf, dass auch die Ökonomie und Politik der Sorge immer stärker in den Vordergrund rückt. Eine der besten Erörterungen dieses Phänomens bietet der neue Flaggschiff-Report von UNRISD über Armut und Ungleichheit. Die Sorge-Ökonomie wird in der BIP-dominierten Messung des sozio-ökonomischen Fortschritts generell wenig verstanden und unterbewertet. Auch leidet der Sorge-Sektor unter der systematisch diskriminierten und unterbezahlten Arbeit, wobei diejenigen, die die Sorgeleistungen erbringen im allgemeinen aus Gruppen kommen, die im Haushalt, in der Gesellschaft, in ihren jeweiligen Ländern und in der Weltwirtschaft marginalisiert sind. Sorgearbeit muss einen Wert bekommen, und wo sie marktbasiert ist, muss sie formalisiert, ordentlich entlohnt und sozialversichert werden. Hier gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen der Decent-Work-Agenda und der Problematik der sozialen Grundsicherung, der Aufmerksamkeit für Gleichheit und Inklusion und den Kinder- und Frauenrechten.
Darüber hinaus gibt es eine steigende Aufmerksamkeit für die Agrarökonomie und mehr politisches Interesse an der Notwendigkeit von Steuerreformen. Innovation 6 befasst sich mit technischen Fragen der Agrarproduktivität, aber auch mit polit-ökonomischen Fragen wie Landnutzung, ungleicher Landbesitz, grünes Wachstum und Beschäftigungschancen außerhalb landwirtschaftlicher Betriebe.
Der Steuerdiskurs lenkt den Blick auf globale Steuern und auch auf eine nationale Steuerreform, um staatliche Einkünfte zu generieren, die eine stärker umverteilende Wirkung hätten, wie Steuern auf Vermögen und Wohlstand, progressive Einkommensbesteuerung, oder zweckgebundene Steuern und Beiträge zur Finanzierung von Bildung oder anderer kinderorientierter Ausgaben und sozialer Sicherungsmaßnahmen.
* Der Trend zu einem rechtebasierten Ansatz
Innerlich zusammengehalten und untermauert werden diese sechs Innovationen durch den wachsenden Trend zu einem rechtebasierten Ansatz, wie er auf internationaler Ebene durch die gut vernehmbaren Sonderberichterstatter über extreme Armut, das Recht auf Nahrung und andere Grundrechte oder auch durch das jüngst verabschiedete Recht auf Wasser bezeugt wird. Auf nationaler Ebene gewinnen rechtebasierte Bewegungen an Stärke. Beispiele dafür sind die Kampagnen für ein freies Grundeinkommen in Südafrika, Namibia und Brasilien oder die ganze Skala rechtebasierter Programme in Indien: das Recht auf eine Schulmahlzeit in allen öffentlichen Schulen (2001), das Gesetz zur Beschäftigungsgarantie (2005), das Gesetz zum Recht auf Information (2005), das Recht auf soziale Sicherheit im informellen Sektor (2008) und jüngst das Recht auf Bildung und das Recht auf Nahrung (Köhler 2010).
Interessanterweise handelt es sich bei einigen dieser “sieben Innovationen” um eine erneute Bekräftigung ursprünglicher entwicklungspolitischer Visionen aus den späten 1940er Jahren. Das Recht auf menschenwürdige Arbeit, auf angemessenen Lebensstandard und Bildung sowie auf soziale Sicherheit ist in den Artikeln 23, 25 bzw. 22 der Universellen Deklaration der Menschenrechte verbürgt, die die Weltgemeinschaft 1948 angenommen hat.
2010 war ein Jahr bemerkenswerter konzeptioneller Einsichten und Innovationen auf der globalen Agenda der Armutsbekämpfung. 2011 muss das Jahr werden, in dem diese in spürbare Ergebnisse im Sinne sozialer Gerechtigkeit umgesetzt werden.
Timo Voipio ist Senior Adviser for Global Social Policy im finnischen Außenministerium und Vorsitzender des OECD-DAC Povnet (Kontakt: timo.voipio@formin.fi). Gabriele Koehler ist Entwicklungsökonomin and Visiting Fellow am Institute of Development Studies in Sussex (Kontakt: office@gabrielekoehler.net).
Hinweis:
* Eine Dokumentation der in diesem Text zitierten Dokumente und Berichte findet sich ???042ae69e5f0eb3f19???.
Veröffentlicht: 1.1.2011
Empfohlene Zitierweise: Gabriele Köhler/Timo Voipio, 2010 - Innovatives Jahr für die Armutsbekämpfung, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 1.1.2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).