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Argentiniens wirtschaftliche Erfolgsgeschichte

Artikel-Nr.: DE20111024-Art.53-2011

Argentiniens wirtschaftliche Erfolgsgeschichte

Hauptfaktor für Cristina Kirchners Wahlsieg

Nur im Web - Rechtzeitig zur bahnbrechenden Wiederwahl von Cristina Kirchner kommt das Centre for Economic Policy Research (CEPR) in Washington mit einer Studie heraus, die zeigt, wie bemerkenswert gut sich die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren seit der Zahlungsunfähigkeit des Landes vor neun Jahren entwickelt haben. Mark Weisbrot, Rebecca Ray, Juan Montecino und Sara Kozameh betonen, dass dies auch für andere Länder, etwa Griechenland, wichtige politische Implikationen hat.

Es fällt auf, dass das wirtschaftliche Wachstum Argentiniens während der letzten Jahre wenig positive Aufmerksamkeit gefunden hat. Chinas Erfolg als die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft in der Weltgeschichte fand weite Anerkennung, auch wenn die chinesische Regierung von der westlichen Presse oft wegen ihrer Handels- und Währungspolitik kritisiert wird. Das schnelle Wachstum in Indien seit 2003 (durchschnittlich 8,9% pro Jahre zwischen 2003 und 2008) wurde auch stark gelobt. Doch Argentinien gilt im Allgemeinen nicht als erfolgreich. Das Gros der Presseberichterstattung war negativ und konzentrierte sich auf die hohe Inflation der letzten Jahre.

* Höchstes Wachstum der Westlichen Hemisphäre

Aber es ist das Realeinkommen, das zählt, wenn es um den Lebensstandard geht. Nach unserer Studie (s. Hinweis) wuchs die argentinische Ökonomie zwischen 2002 und 2011 um 94%, wenn man die IWF-Projektionen bis Ende dieses Jahres verwendet. Das ist das schnellste Wachstum in der Westlichen Hemisphäre in dieser Periode. Auch im Vergleich mit den Nachbarökonomien, die allgemein als recht erfolgreich gesehen werden, schneidet Argentiniern gut ab, etwa im Vergleich mit Brasilien, dessen Wachstum in der gleichen Periode weniger als halb so hoch war. Die argentinischen Erfahrungen müssten daher eigentlich von großem Interesse für Politiker und Ökonomen sein.

Zwischen Mitte 1998 und Ende 2001 steckte Argentinien in einer schweren Rezession. Versuche, die Wirtschaft zu stabilisieren und die Bindung der Währung an den US-Dollar durch währungs- und haushaltspolitische Einschränkungen und Milliarden Dollars vom IWF zu verteidigen, scheiterten. Im Dezember 2001 erklärte die Regierung ihre Zahlungsunfähigkeit, und ein paar Wochen später wurde die Dollarbindung aufgehoben. Der „default“ und die Währungsabwertung trugen zu einer schweren Finanzkrise und einer starken wirtschaftlichen Schrumpfung bei; im ersten Quartal 2001 ging das BIP um 5% zurück.

Gleichwohl begann die Erholung unmittelbar nach diesem einen Quartal der Kontraktion und hielt bis zur weltwirtschaftlichen Rezession von 2008/2009 an. Danach erholte sich die Wirtschaft wieder, und der IWF sagt jetzt für 2011 ein Wachstum von 8% voraus. Das reale BIP Argentiniens erreichte sein Vorkrisenniveau nach drei Jahren Wachstum im ersten Quartal 2007. Seinen langfristigen Wachstumstrend (über 20 Jahre gerechnet) hatte das Land im ersten Quartal 2007 wieder erreicht.

* Die Gunst der Finanzmärkte ist nicht alles

Argentinien erzielte dieses bemerkenswerte Wachstum während der letzten neun Jahre trotz der Zahlungsunfähigkeitserklärung, trotz der Schwierigkeiten, auf den internationalen Kapitalmärkten Geld zu bekommen, und trotz relativ geringer ausländischer Direktinvestitionen (FDI). Dies sollte diejenigen verstummen lassen, die immer argumentieren, dass eine Politik, die die Bond-Märkte und die internationalen Investoren erfreut, ebenso wie die Anlockung von FDI die wichtigsten Prioritäten für die Entwicklungsländer sind.

Argentiniens schnelles Wachstum wird oft als „Rohstoffboom“ fehlinterpretiert, der von hohen Preisen für seine Agrarexporte (wie Soja) getrieben sei. Doch die Zahlen zeigen, dass das nicht stimmt.

Die Armut hat gegenüber ihrem höchsten Punkt um zwei Drittel abgenommen, von fast der Hälfte der Bevölkerung in 2001 auf ungefähr ein Siebtel Anfang 2010. Die extreme Armut ist ebenso stark gesunken, von über einem Viertel der Bevölkerung in 2001auf rund ein Fünfzehntel.

Auch die Einkommensungleichheit fiel dramatisch. 2001 hatten 5% der Bevölkerung 32 Mal so viel Einkommen wie 95%. Bis Anfang 2010 ist um fast die Hälfte auf 17 gefallen. Wichter noch vielleicht ist, dass diese Veränderung auf die Steigerung des Einkommens der Armen zurückzuführen ist und nicht einfach auf die Verringerung des Einkommens der Reichen.

Die Arbeitslosigkeit ist seit ihrem Höchststand auf 8% gefallen, und die Beschäftigungsrate stieg auf 57% an, die höchste seit diese Zahlen erhoben werden. Die Sozialausgaben haben sich real fast verdreifacht; sie stiegen von 10,3 auf 14,2% des BIP. 2009 erhöhte die Regierung die Reichweite ihrer Sozialprogramme; sie lancierte das Programm Asignación Universal por Hijo (etwa: Allgemeine Unterstützung pro Kind), um die Armut zu reduzieren und das Wohlergehen der Kinder zu verbessern. Dabei handelt es sich um ein konditioniertes Transferprogramm für Haushalte mit niedrigem Einkommen, ähnlich wie Brasiliens Bolsa Familia und Mexikos Progresa-Oportunidades, die weithin gelobt wurden, obwohl ihr Umfang – gemessen am BIP – weit geringer ausfällt. Auch gab es in den letzten neun Jahren eine signifikante Verringerung der Kinder- und Jugendsterblichkeit.

* Argentiniens Inflationsproblem

Die Inflation ist seit 2007 stark gestiegen und erreichte Anfang 2011 mit 27% ihren Höhepunkt (nach nicht-offiziellen Quellen). Das ist natürlich ein ökonomisches Problem, aber für die große Mehrheit der Bevölkerung zahlt, ist Realeinkommen, Beschäftigung und Einkommensverteilung. Gemessen an diesen Indikatoren war es eine richtige Entscheidung der Regierung, nicht die Inflation über die Opferung des Wachstums zu bekämpfen. Um eine wichtiges historisches Beispiel zu nehmen: Südkorea hatte in den 70er und frühen 80er Jahren, als es den Prozess von einem armen zu einem reichen Land durchmachte, ähnlich hohe Inflationsraten wie Argentinien in den letzten Jahren.

Dennoch kann eine Inflation in dieser Größenordnung Wachstum und Beschäftigung über den Wechselkurs beeinträchtigen. Wenn der nominelle Wechselkurs fixiert ist oder in Reaktion auf die Inflation nicht genügend abgewertet wird, dann wird die nationale Währung real in wachsendem Maße überbewertet. Der Peso wurde seit 2007 real um 20% abgewertet.

Es ist bemerkenswert, dass Argentinien seinen Erfolg angesichts widriger externer Umstände erreicht hat, von denen einige bis auf den heutigen Tag fortbestehen. Gerade vor einem Monat hat die Obama-Administration unter dem Druck von „Geierfonds“ und ihrer Lobby angekündigt, sie würde multilaterale Kredite an Argentinien blockieren.

* Die Implikationen für Europa

Argentiniens Erfolg hat wichtige Implikationen für Europa, insbesondere für die schwächeren Länder der Eurozone. Griechenland, das eine ähnliche Politik wie Argentinien während der Rezession 1998-2002 verfolgt, wird schätzungsweise über neun Jahre brauchen, um sein Vorkrisen-BIP wieder zu erreichen. In puncto Arbeitslosigkeit, die derzeit bei 16% liegt, könnte es sogar noch länger dauern.

Die Situation in den anderen schwächeren Euroländern ist ähnlich düster. Der Versuch, in Europa Anpassung durch „interne Abwertung“ zu bewerkstelligen, erweist sich als so desaströs wie in der argentinischen Rezession. Aus der Sicht der einzelnen Regierungen wäre die argentinische Lösung – Reduzierung der Schuldenlast auf ein managbares Niveau – eine mögliche Alternative. Für Griechenland wäre dies sicher dem gegenwärtigen Weg vorzuziehen, selbst wenn es dann den Euro verlassen müsste.

Die argentinische Erfahrung stellt auch den populären Mythos in Frage, dass auf Rezessionen, die von einer Finanzkrise ausgelöst werden, eine langsame und schmerzhafte Erholung folgen muss. Argentiniens Finanzkrise und der Zusammenbruch waren schwer wie bei allen Ländern in den letzten Dekaden. Doch es brauchte nur ein Vierteljahr nach dem „default“, um eine rasche und nachhaltige Erholung zu beginnen. Dies nicht nur wegen der Abwertung und einer besseren makroökonomischen Politik, sondern auch weil die Erklärung der Zahlungsunfähigkeit das Land von einer anhaltend schädlichen Schuldenlast und von der prozyklischen Politik befreite, die die Gläubiger forderten.

Das argentinische Beispiel zeigt, dass Europas düstere Situation von heute und das damit verbundene Szenario nur eine mögliche Variante der weiteren Entwicklung ist, und dass eine schnelle Erholung von Output und Beschäftigung, die Reduzierung der Armut und eine geringere Ungleichheit einen anderen, praktikablen Weg darstellen, den man einschlagen kann.

Hinweis:
* Mark Weisbrot/Rebecca Ray/Juan Montecino/Sara Kozameh, The Argentine Success Story and its Implications, 23 pp, CEPR: Washington DC, October 2011. Bezug: über www.cepr.net

Veröffentlicht: 24.10.2011

Empfohlene Zitierweise: Mark Weisbrot/Rebecca Ray/Juan Montecino/Sara Kozameh, Argentiniens wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 24. Oktober 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)