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Atomare Katastrophe und finanzielle Kernschmelze

Artikel-Nr.: DE20110407-Art.21-2011

Atomare Katastrophe und finanzielle Kernschmelze

Unser Spiel mit dem Planeten

Nur im Web - Die Konsequenzen des japanischen Erdbebens – vor allem die anhaltende Krise im Atomkraftwerk Fukushima – rufen bei den Beobachtern des amerikanischen Finanzkrachs, der der Großen Rezession vorherging, bittere Erinnerungen wach. Beide Ereignisse beinhalten wichtige Lehren über Risiken und wie wenig Märkte und Gesellschaften in der Lage sind, sie zu managen, schreibt Joseph Stiglitz.

Natürlich kann man die Tragödie eines Erdbebens, das über 25.000 Menschen tot oder vermisst zurückließ, und die Finanzkrise, in der unmittelbar niemand zu Tode kam, nicht so ohne weiteres vergleichen. Aber wenn es um die nukleare Kernschmelze in Fukushima geht, gibt es eine Gemeinsamkeit von beiden Ereignissen.

* Zum Missmanagement von Risiken verdammt

Sowohl in der Nuklear- als auch in der Finanzindustrie versicherten uns die Experten, dass das Risiko einer Katastrophe durch neue Technologien vollkommen beseitigt worden sei. Die Ereignisse haben sie widerlegt: Die Risiken existierten nicht nur; ihre Konsequenzen waren so ungeheuerlich, dass sie alle angebliche Vorteile des Systems, die die führenden Leute propagierten, zu Nichte machten.

Vor der Großen Rezession rühmten sich die amerikanischen Wirtschaftsgurus – vom Kopf der Federal Reserve bis hin zu den Titanen der Finanzwelt –, dass sie gelernt hätten, Risiken zu meistern. „Innovative“ Finanzinstrumente, wie Derivate und Kreditausfall-Swaps (CDS), würden das Risiko über die ganze Volkswirtschaft verteilen. Heute wissen wir, dass sie nicht nur den Rest der Gesellschaft täuschten, sondern sogar sich selbst.

Diese Zauberer der Finanzwelt, so stellte sich heraus, verstanden nicht die Feinheiten des Risikos, geschweige denn die Gefahren der Verteilung des Restrisikos – ein statistischer Begriff für seltene Ereignisse mit gravierenden Konsequenzen – manchmal auch „Schwarzer Schwan“ genannt. Ereignisse, die nur einmal im Jahrhundert – oder sogar nur einmal in der Existenz des Universums – vermutet werden, scheinen alle zehn Jahre vorzukommen. Schlimmer noch: Nicht nur die Häufigkeit dieser Ereignisse wurde grob unterschätzt, auch der astronomische Schaden, den sie verursachen – so etwa die Kernschmelze, die die Nuklearindustrie so beharrlich bedroht.

Die wirtschaftliche und psychologische Forschung hilft uns zu verstehen, warum wir so schlecht im Management dieser Risiken sind. Wir haben nur eine schmale empirische Basis zur Beurteilung seltener Ereignisse, so dass es schwierig ist, zu guten Schätzungen zu kommen. Unter solchen Bedingungen könnte sich mehr als Wunschdenken breit machen: Wir haben kaum Anreize, die Dinge konsequent bis zum Ende zu denken. Im Gegenteil: Wenn andere die Kosten der Fehler tragen, begünstigt dies die Selbsttäuschung. Ein System, das Verluste sozialisiert und Gewinne privatisiert, ist zum Missmanagement von Risiken verdammt.

* Falsche Anreizstrukturen im Finanzsektor

In der Tat war der ganze Finanzsektor voll von problematischen Akteuren und Externalitäten. Die Ratingagenturen hatten Anreize zur Vergabe guter Ratings für hochriskante Verbriefungen, die von den Investment-Banken ausgegeben wurden, die sie bezahlten. Die Anbieter von Immobilienkrediten trugen nicht die Konsequenzen ihrer Verantwortungslosigkeit, und selbst diejenigen, die sich in räuberischer Kreditvergabe betätigten oder Papiere produzierten und vermarkteten, die Verluste bringen sollten, taten dies auf eine Weise, die sie vor zivil- oder strafrechtlicher Verfolgung abschirmte.

Das führt uns zu der nächsten Frage: Gibt es weitere „Schwarze Schwäne“, die sich nähern? Leider sind einige der wirklich großen Risiken, denen wir uns heute gegenüber sehen, wahrscheinlich nicht einmal seltene Ereignisse. Die gute Nachricht lautet, dass solche Risiken zu geringen oder keinerlei Kosten kontrolliert werden können. Die schlechte Nachricht lautet, dass dies auf starke politische Opposition stößt – denn es gibt Leute, die vom Status quo profitieren.

Wir haben in den letzten Jahren zwei dieser großen Risiken gesehen, doch wenig getan, um sie unter Kontrolle zu bringen. In gewisser Weise hat die Art und Weise, wie die letzte Krise gemanagt wurde, das Risiko einer künftigen finanziellen Kernschmelze erhöht.

Banken, die zum Scheitern zu groß sind, und die Märkte, auf denen sie agieren, wissen jetzt, dass sie im Falle von Schwierigkeiten gerettet werden. Im Ergebnis dieses „moral hazards“ können diese Banken zu günstigen Bedingungen Geld aufnehmen, was ihnen einen Wettbewerbsvorteil gibt, der aber nicht auf einer besseren Leistung, sondern auf politischer Stärke beruht. Während einige der risikoreichen Exzesse gezügelt wurden, gehen die betrügerische Kreditvergabe und der unregulierte Handel mit obskuren außerbörslichen OTC-Derivaten weiter. Anreizstrukturen, die das Eingehen exzessiver Risiken ermutigen, bleiben buchstäblich unverändert.

* Nuklearindustrie im ungezügelten Kapitalismus

Genauso laufen in den USA und anderswo sogar solche Atomanlagen weiter, die dieselbe fehlerhafte Technologie wie in Fukushima haben, während Deutschland wenigstens seine älteren Reaktoren abgeschaltet hat. Die schiere Existenz der Nuklearindustrie ist abhängig von versteckten Subventionen der Allgemeinheit – Kosten, die im Fall einer Nuklearkatastrophe oder im Fall der nach wie vor ungelösten Endlagerung des nuklearen Abfalls von der Gesellschaft getragen werden. So viel zum Thema ungezügelter Kapitalismus!

Es gibt weitere Risiken für den Planeten, die – wie die anderen beiden – fast sicher eintreten werden: die globale Erwärmung und der Klimawandel. Wenn es andere Planeten gäbe, auf die man zu niedrigen Kosten im Falle des als nahezu sicher vorausgesagten Eintretens ausweichen könnte, könnte man argumentieren, dass es sich lohnt, das Risiko auf sich zu nehmen. Aber dem ist nicht so.

Die Kosten der Emissionsreduktion sind gering im Vergleich zu den möglichen Risiken, denen sich die Welt gegenüber sieht. Und dies gilt auch dann, wenn wir die nukleare Option ausschließen (deren Kosten immer unterschätzt wurden). Sicher würden Kohle- und Ölkonzerne leiden, und die großen Verschmutzerländer wie die USA würden offensichtlich einen höheren Preis zahlen müssen als jene mit einem weniger verschwenderischen Lebensstil.

Am Ende verlieren die Spieler in Las Vegas mehr als sie gewinnen. Als ganze Gesellschaft spielen wir – mit unseren großen Banken, mit unseren Atomkraftwerken, mit unserem Planeten. Wie in Las Vegas mögen wenige Glückliche – die Banker, die unsere Wirtschaft aufs Spiel setzten und die Eigner der Energiekonzerne, die unseren Planeten aufs Spiel setzen – mit Gewinn hinaus gehen. Doch unter dem Strich und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden wir als Gesellschaft – wie alle Spieler – verlieren.

Das leider ist eine Lehre der japanischen Katastrophe, die wir weiterhin zum eigenen Schaden ignorieren.

Joseph Stiglitz ist Professor an der Columbia University und Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften. Sein neuestes Buch hat den Titel: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. Sein Kommentar schien zuerst in Englisch auf: www.project-syndicate.org

Veröffentlicht: 7.4.2011

Empfohlene Zitierweise: Joseph Stiglitz, Atomare Katastrophe und finanzielle Kernschmelze. Unser Spiel mit dem Planeten, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 7.4.2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).